10 Gründe, Ursula K. Le Guin neu zu lesen

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Von Ulrike Ulrich


1. Ich habe mich, als ich sie endlich gelesen habe, sofort in Ursula K. Le Guin verliebt, in ihre Sprache, unzählige einzelne Sätze, die Titel ihrer Bücher («The Word for World is Forest» oder «Four Ways to Forgiveness»), in ihren Blick auf die Welt und die Menschen, die Tiefe und Weitsicht ihrer Texte, die Kühnheit der von ihr so genannten «Gedankenexperimente», die Klugheit und den Humor ihrer Essays. Von den Büchern, die mir in den letzten zehn Jahren, in denen ich fast nur Frauen gelesen habe, begegnet sind, haben mich ihre am meisten verändert.

2. Sie ist kein Geheimtipp. Aber auch wenn ihr Werk (spätestens seit ihrem Tod) eine Renaissance erlebt, ist sie nach wie vor viel zu wenig bekannt – und anerkannt, als die grossartige Schriftstellerin des 20. und frühen 21. Jahrhunderts, die sie ist. Erst langsam werden ihre Bücher übersetzt, die vergriffenen neu aufgelegt oder neu übersetzt. Erst langsam findet ihr Werk Eingang in Verlage, die auch Menschen erreichen, die keine Sci Fi- und Fantasy-Autor*innen lesen. Oder nur diejenigen, die nicht als solche gelten – weil sie es in den literarischen Kanon geschafft haben. Und vielleicht habe ich auch deshalb das Englischlesen in den letzten Jahren so sehr geübt: um «Coming of Age in Karhide» lesen zu können, eine Kurzgeschichte von 1995 aus der Sicht eines Teenagers in einer genderfluiden Gesellschaft, in der nur einvernehmlicher Sex möglich ist. Ich wünschte, ich hätte diesen Text, den Le Guin als eine «Sexual Footnote» zu ihrem 26 Jahre zuvor geschriebenen Werk «The Left Hand of Darkness» bezeichnet, schon mit 15 gekannt.

3. Ursula K. Le Guin wurde 1929 als Ursula Kroeber in Berkeley, Kalifornien geboren, ihr Vater war Anthropologe, ihre Mutter hat Bücher über und mit Texten von Native Americans veröffentlicht. 1953 heiratete Ursula in Paris den Historiker Charles Le Guin, den sie auf der Schiffsreise dorthin kennengelernt hatte, und mit dem sie bis zu ihrem Tod 2018 zusammenlebte. Sie hatten vier Kinder und lebten seit 1959 in Portland. Für alles weitere empfehle ich den Dok-Film «Worlds of Ursula K. Le Guin» von Arwen Curry.

Es geht immer um die grossen Fragen, um Machtverhältnisse und Gerechtigkeit. Nie macht sie es sich einfach.

4. 1968 schon hat sie eine Schule für Zauberer (sic!) erfunden (und eine ganze Welt dazu), hat 1969 für «The Left Hand of Darkness» eine genderfluide Gesellschaft erdacht, und 1974 mit «The Dispossessed» eine anarchistische Utopie geschrieben, die ihr Besuche von ratsuchenden Anarchist*innen einbrachte. Sie hat über Kolonialismus geschrieben, über Ausbeutung (der Natur), über Revolution und Krieg, Sexualität, Menopause und Sterben, über alte (und junge) Liebespaare, über Freundschaft. Es geht immer um die grossen Fragen, um Machtverhältnisse und Gerechtigkeit. Nie macht sie es sich einfach. Und wenn sie «Fehler» in ihren Texten entdeckt oder darauf aufmerksam gemacht wird (etwa die Heteronormativität und das generische Maskulinum in «Left Hand of Darkness» oder die patriarchalen Strukturen in den ersten drei Erdsee-Bänden) schreibt sie ein Sequel, ein Prequel oder mindestens ein ausführliches Vorwort, um sich und die von ihr geschaffene Welt zu korrigieren oder zu ergänzen.

Neben zahlreichen Kurzgeschichten hat sie auch wunderbare Gedichte geschrieben (5 Bände). Einige davon finden sich auf ihrem Blog, den sie mit 81 begonnen und bis kurz vor ihrem Tod fortgeführt hat.

5. «Truth is a matter of the imagination», schreibt sie in «The Left Hand of Darkness», und in dem sie Gedankenexperimente in Literatur verwandelt, fordert sie nicht nur unsere Wahrnehmung heraus, sondern auch unsere Gesellschaftsmodelle. In «The Carrier Bag Theory of Fiction» bezieht sie sich auf die These, wonach die Tragtasche (nicht der Speer) die wichtigste Errungenschaft der Zivilisation sei. Und leitet daraus ein Plädoyer für eine Literatur des Sammelns und Teilens ab, als Alternative zum herrschenden Helden-Narrativ. Nicht der Jäger, der ein Mammut erlegt, soll das Geschichtenerzählen prägen, sondern die Person, die aufsammelt und nach Hause trägt. Der Roman «Always coming home» vom 1985 folgt diesem Prinzip stärker als andere Bücher und gilt als einer ihrer experimentellsten Romane.

6. Ursula K. Le Guin war Feministin. In «Is Gender necessary? Redux», ihrem grossartigen «Left Hand»-Vorwort von 1976, schreibt sie: «I considered myself a feminist; I didn’t see how you could be a thinking woman and not be a feminist». Und stellt gleichzeitig fest, dass in ihrem frühen Werk die männlichen Perspektiven vorherrschen. Sie verdanke es den Feministinnen der 60er und 70er Jahre, sich irgendwann gefragt zu haben: «If I am a woman why am I writing as a man? It was a big step for me (…) I knew I would be accused of being a shrill and ranting feminist, which I was» (aus einem Interview von Bill Moyers mit Ursula K. Le Guin, 19’).

Ihr gesamtes Werk ist feministisch und wird es ab den 70ern auf eine noch klarere, bedingungslosere Weise.

Ihr gesamtes Werk ist feministisch und wird es ab den 70ern auf eine noch klarere, bedingungslosere Weise, sei es, wenn sie in dem wunderbaren Aufsatz «Space Crone» dafür plädiert, eine Frau nach der Menopause zu anderen Lebewesen im All zu schicken, damit sie das Beste, was die Menschheit zu bieten hat, kennenlernen. Oder wenn in «Tehanu», dem 4. Band der Earthsea-Reihe eine solche Frau das ganze patriarchale Modell der Erdsee-Welt auf den Kopf stellt. Zusammen mit ihrer Adoptivtochter, einem von mehreren Männern misshandelten Mädchen, das am Ende… Aber ich will nicht spoilern. Nur so viel: Ursula K. Le Guin hat auch das Drachennarrativ feministisch revolutioniert.

7. und 8. Native American Traditions spielen eine grosse Rolle im Werk von Ursula K. Le Guin, ebenso wie der Taoismus. Als ersten wichtigen Einfluss im Sci-Fi-Genre nennt sie «Alpha Ralpha Boulevard» von Cordwainer Smith. Sie hat unzählige Preise im so genannten Speculative Fiction-Bereich gewonnen, erhielt als erste Frau für dasselbe Werk sowohl den Hugo- als auch den Nebula-Award. Und 2014 wurde sie endlich auch bei den National Book Awards mit der Medal for Distinguished Contribution to American Letters ausgezeichnet. Ihre Rede, bei der sie den Preis mit allen unbeachteten Genre-Autor*innen teilt, ist grossartig und kritisch und inspirierend.

9. Gründe, warum die Autorin (immer wieder) «vergessen» wurde? Gender und Genre.

10. Sie hat Octavia E. Butler geschätzt, die als erster Science Fiction schreibender Mensch (weiblich, Afroamerikanerin) den hochdotierten Genius Award des Mac Arthur Fellow Programms erhielt. Und die unbedingt ebenfalls einen Eintrag in dieser Reihe braucht. Butlers grossartige und kluge Parabel-Bücher sind auf eine so fürchterliche Weise visionär, dass ich das zweite noch nicht zu Ende lesen konnte.

Aber zurück zu Le Guin: Sie war, soweit ich weiss, keine Autorin, die Gruppen angehört hat. Aber immer wieder zeigte sie sich solidarisch mit anderen Autor*innen und bezog Stellung in Debatten um die Rechte von Schreibenden. 1977 lehnte sie in Solidarität mit Stanislaw Lem einen der prestigeträchtigen Nebula-Awards ab, 2009 trat sie im Zusammenhang mit der geplanten Abtretung von Copyright-Rechten an Google Books aus der Authors Guild aus.

Das letzte Wort soll ihr gehören:

«I think hard times are coming when we will be wanting the voices of writers who can see alternatives to how we live now and can see through our fear-stricken society and its obsessive technologies to other ways of being, and even imagine some real grounds for hope. We will need writers who can remember freedom – poets, visionaries – realists of a larger reality.»

– Ursula K. Le Guin, aus der Rede anlässlich der Verleihung der Medal for Distinguished Contribution to American Letters, 2014


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10 Gruende, Frauen (wieder) neu zu lesen

Mit der Reihe «10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen» halten wir auf diesem Blog die Erinnerung an Autorinnen wach, wollen sie bekannt machen und gleichzeitig Bewusstsein schaffen für Geschlechterungleichheiten im Literaturbetrieb. Kennst auch DU eine Autorin, die dir viel bedeutet und an die du gerne erinnern möchtest? Hier erfährst du mehr.


Bild: Ursula Le Guin. Foto von Marian Wood Kolisch. Quelle: Wikimedia Commons, cc-by-sa-2.0.

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