Von Leadora Illmer
«Und wieder suche ich. Und sammle.»[1]
Ava schreibt mir, dass sie eine Lesung mit der Autorin Clara Heinrich moderiert und dass mir ihr Buch «Pusztagold» auch gefallen könnte.
Ich bin bei Iris im Buchladen und sie erzählt mir, dass sie neue schöne Bücher vom AKI-Verlag hat, und dass mir das eine, Pusztagold, auch gefallen könnte.
Ich sehe das Cover von Pusztagold: Es ist weiss und orange, zeigt eine Hagebutte. Ich denke, dass mir Pusztagold auch gefallen könnte. Ich kaufe das Buch.
Ich beginne zu lesen. Ich schreibe Jeremias, Flurina, Deborah, meiner Mutter, dass ihnen Pusztagold auch gefallen könnte.
Ich schreibe Ava, dass ich Pusztagold liebe.
Ich schreibe Clara Heinrich, dass ich Pusztagold liebe.
Ich lese meinem Bruder, dem Gärtner, einen Absatz aus Pusztagold vor:
«Mäusefallen aufstellen. Lebendfallen aufstellen. Wie soll ich das aufstellen?, frage ich. Wo soll ich das aufstellen?, frage ich. Wie macht man das mit dem Käse?, frage ich. UND WAS IST, WENN ICH WAS FANGE?, frage ich. Mein Bruder seufzt. Dann rufst du mich an, sagt er.»[2]
Wir müssen lachen.
Pusztagold ist ein Buch über Beziehungen.
Über (Wahl-)Familie und über Fürsorge.
Es ist ein Buch über das Schreiben.
Über Autofiktion.
Über Landschaft und Landwirtschaft.
Über Seed Saving und Artensterben.
Über Archive und Körper.
Über Krankheit.
Und über Erschöpfung.
Die Ich-Erzählerin bricht darin ihr Masterstudium und ihr Leben in Berlin ab und zieht mit ihrem an ME/CFS erkrankten Partner A. zurück aufs Land zu ihrer Familie, in den Osten Österreichs, wo sie eine Marktgärtnerei aufbaut. Und (sich) sorgt: um A., für A. Und er für sie.
«Care als sich sorgen und als sich Sorgen machen.»[3]
Die Widmung in Pusztagold lautet nicht «für», sondern «mit». «Mit Amar Halilovic». Schreiben als Care. Lesen als Care. Vorlesen. Während des Lesens fällt mir ständig ein, wem ich welche Stelle schicken könnte. Als kleine Aufmerksamkeit, als Geschenk. Als: Ich musste an dich denken, lies das.
Was tun wir eigentlich, wenn wir lesen?
Ich schreibe ins Buch, um mich zu erinnern. Daran, was ich während der Lektüre denke, fühle. Ich fühle viel.
Ich schreibe ins Buch, um mich zu erinnern. Daran, was ich während der Lektüre denke, fühle. Ich fühle viel.
Zum Beispiel: Ich will alles abbrechen und in die Gärtnerei meines Bruders einsteigen. Und doch befürchte ich, dass Clara Heinrich genau das nicht wollen würde. Diese Romantisierung des Landlebens, der Marktgärtnerei.
Was ist eigentlich eine Marktgärtnerei?, fragen mich alle, denen ich davon erzähle. Ich behaupte, es sei eine Gärtnerei, deren Erträge auf Märkten und in Form von Gemüsekörben verkauft würden. In Wahrheit habe ich keine Ahnung.
Endlich jemand, der meine Apfelobsession teilt, schreibe ich Deborah. Und schicke ihr eine Seite aus Pusztagold:
«Ich taste das Sprachmaterial von Apfelsortennamen ab und bilde eine Gruppe.
American Lady, Andrews Sweet, Arkansas Belle, Babcock, Bébé Rose, Bedufteter Langstiel, Belle Cox, Belle-Fleur Large Mouche, Blutroter Kardinal, Brown Thorn, Burn’s Seedling, Candy Crisp, Carlos Queen, Chick-a-dee Mcintosh, Climax […]»[4]
Unterdessen gibt es wieder frische Topaz-Äpfel und winzige Zieräpfel auf dem Marktplatz. Bald kommen die Glockenäpfel.
Ich bin besessen von Pusztagold. Ich schleppe es überall mit herum. Ich sehe, dass Clara Heinrich zusammen mit Eva Seck und der Gemüsekooperative plankton einen Sauerkraut-Workshop an der BuchBasel gibt, und melde mich sofort an. Vergangenen Frühling habe ich einen Fermentationsworkshop organisiert: «Fermentation & Failure».
Wir treffen uns um 11 Uhr im Innenhof des Volkshauses zum Rüsten, Hobeln, Stampfen. Eine lange Bierbank vom Leihlager, darauf mittig, in einer langen Linie, Kohlkopf für Kohlkopf. Weisskohl, denke ich. Chabis, sagen die Gärtner*innen von plankton. Kopfkohl, sagt Clara. Daneben liegt das Rezept für 5 Kilo Sauerkraut.
Wieso liebst du das Buch so?, fragt mich Stefanie am Workshop.
Ich sage: Ich kann es nicht so gut in Worte fassen.

Bevor wir mit dem Kohl beginnen, sprechen Eva Seck und Clara Heinrich über Pusztagold. Ein poetisches Archiv, eine Recherche, ein Bericht, sagt Eva. Es gehe um Fürsorge, für Landschaften, den Freund, Gärten, Saatgut. Es gehe um «Solidarität, Care, Landschaft und Poesie», schreibt die BuchBasel in der Ankündigung, das hätten Clara Heinrich und plankton gemeinsam.
Clara liest uns den Anfang aus Pusztagold vor. Ihre Stimme hallt per Lautsprecher durch den Hof:
«Ein Züchter aus der Region schenkt mir Dutzende Pfirsichbäume mit Trockenschäden. Ich grabe Löcher in den trockenen, sandigen Boden für die vertrockneten Bäume. Und sage: Mal sehen.»[5]
Mal sehen, denke ich, ob das was wird mit dem Sauerkraut.
Was ist eine Marktgärtnerei?, fragt auch Eva nach. Eine kleinstrukturierte Landwirtschaft. Das komme vermutlich aus Frankreich, erklärt Clara. Aus Paris. Es gehe nicht unbedingt darum, die Erträge auf Märkten zu verkaufen, sondern um Direktvermarktung statt Verkauf an grosse Ketten. Clara Heinrichs Marktgärtnerei «Clarence Gärten» umfasst 2’000 Quadratmeter und ist immer bepflanzt: mit Sommerkulturen, Herbstkulturen, Winterkulturen.
«Ich sage: Na ja, es ist schon Literatur. Sage: der Text wurzelt hier in meinem Alltag. Zeige auf den tonhaltigen Boden und sage: Wenn ich daraus eine Schüssel forme und brenne, ist es ja auch immer noch Ton. Nur die Form ist eine andere.»
Clara Heinrich, Pusztagold, 2025, S. 191.
Clara Heinrich hat Ähnlichkeiten mit ihrer Ich-Erzählerin. «Ist das deine Geschichte? Ist das alles so gewesen? Ist das autobiographisch? Ist das echt?»[6], wird Letztere gefragt. Sie antwortet – in Pusztagold:
«Ich sage: Na ja, es ist schon Literatur. Sage: der Text wurzelt hier in meinem Alltag. Zeige auf den tonhaltigen Boden und sage: Wenn ich daraus eine Schüssel forme und brenne, ist es ja auch immer noch Ton. Nur die Form ist eine andere.»[7]
Pusztagold ist ein Archiv. Ein Archiv der Obstsorten, der Wintergemüse, ein «Archiv der Bäume im Garten»[8] und auch ein Körperarchiv: «Mein Körper ein Archiv, das kaum Positives ansammelte und viel Negatives: Gewicht zum Beispiel oder Schmerzen oder Perioden oder Reizüberflutung oder Körperflüssigkeit.»[9] Aber Pusztagold ist keine chronologische Sammlung. Chronologisch war gar nichts, sagt Clara. Sie sammelte an zig Orten Zettel und Notizkarten, einige gingen verloren. Dann musste sie sich erinnern. Das Buch hat einen Haufen Anfänge. «Vielleicht müsste ein Anfang weiter in der Vergangenheit liegen»[10], stellt die Ich-Erzählerin an einer Stelle fest.
Clara Heinrichs Schreiben war auch ein Hin- und Herschieben von Notizen und Fragmenten. Die Ich-Erzählerin C. denkt darin viel über das Schreiben nach, über die Frage, ob Schreiben, ob Literatur Fürsorge sein kann. Ob Schreiben fürsorglich sein kann. Und über den Zusammenhang zwischen landwirtschaftlicher Arbeit, Arbeit im Garten, und der Arbeit, die sie tut, wenn sie schreibt.
Sie widmet sich mit aller Sorgfalt der Definition von Care. Die Ich-Erzählerin zitiert Joan Tronto: «to create a work of art is not care»[11]. Und stösst sich daran:
«Ich glaube, sage ich, ich fühle mich so persönlich angegriffen, weil ich so sehr dafür gekämpft habe, dahin zu kommen, dass künstlerisches Schaffen und poetisches Sprechen relevant sind.»[12]
Sie zweifelt. Verzweifelt. Und stellt dann fest:
«[…] ich denke, dass diese Arbeit mit den Wörtern, sogfältig und sorgsam, das Bestellen und Bearbeiten der Wortfelder, doch auch wiederum eine Form von Care ist.»[13]
Ich will ihr laut zusprechen: Ja, sieh doch, du kümmerst dich doch um mich! In diesem Text, durch diesen Text! Natürlich ist das Fürsorge! Und doch verstehe ich ihre Zweifel. Care ist in aller Munde, Care wird akademisiert und theoretisiert. Aber nicht alles ist Care.

Wir stampfen im Hof des Volkshauses. Über unseren Socken sterile Gummistiefel, darüber Plastiktüten. In den Tonnen: das Sauerkraut. Wir hüpfen und stampfen und treten hinein, es blubbert und schäumt und spritzt. Um uns rum die Literaturwelt. Was macht ihr da?, fragen sie. Ich schwitze.
«Der Kursleiter sagt, es brauche eine Sprache für den Geschmack von Wintergemüse.»[14] Ich denke, wir brauchen eine Sprache für den Geruch von gestampftem Kohl.
Wir rotieren. Ich klettere aus dem Fass und setze mich an den Hobel. Ich hoble mir den halben Finger ab. Am Schluss darf ich ein Glas Sauerkraut mit nach Hause nehmen. Ich gehe aber nicht nach Hause, die BuchBasel hat ja gerade erst angefangen. Also schleppe ich das Sauerkraut mit mir herum. Zu den Freiluftlesungen, wo es auf einem Hocker neben mir thront, während ich zu Edwige Dro häkle. In die Innenstadt, wo ich Kommissionen mache. Zur Listening Session von Radio X «the notion of ghosts» mit Johny Pitts im Müller Palermo. Ins Sääli, an die Festivalparty, wo ich die ganze Nacht an der Bar arbeite. Was ist das?, fragen die Menschen.
«Ich pflanze einen Wald in die Brache,
hoffe auf die Würmer
und denke: Jetzt ist eine gute Zeit für Lyrik.»[15]
Am BuchBasel-Sonntag regnet es leicht. «Freu mich, dass du Recht hattest beim Schweizer Buchpreis!», schreibt mir Andrea. Ich freue mich auch. Ich bin müde und denke, jetzt ist eine gute Zeit für Lyrik. Ich bestelle mir den Gedichtband «Mutantengarten»[16] von Volha Hapeyeva, auf die ich in Pusztagold gestossen bin. Ich werde die Gedichte an Sonntagabenden Deborah vorlesen.
Vielleicht, denke ich, ist Fürsorge auch einfach das, was sich fürsorglich anfühlt. Auch kleine, alltägliche Dinge. Gerade kleine, alltägliche Dinge. Vielleicht ist Fürsorge auch einfach eine Praxis – und keine verdammte Theorie. Eine Praxis wie Gedichte vorlesen oder füreinander kochen. Sich nähren und ernähren. Sowieso, denke ich weiter, ist Pusztagold auch ein Buch über Essen. Vielleicht sogar «Food Writing». Ich frage bei Clara nach.
Saatgut könne nur erhalten und vermehrt werden, wenn es gebraucht würde – auch in den Küchen.
Sie schreibt mir, dass Essen in Pusztagold ganz zentral sei: «Dabei geht es auch viel um das Wissen um die Verarbeitung und Zubereitung.»[17] Saatgut könne nur erhalten und vermehrt werden, wenn es gebraucht würde – auch in den Küchen. «Wenn zum Beispiel niemand etwas mit Flower Sprouts anzufangen weiss, dann wird diese Kreuzung aus Grünkohl und Rosenkohl auch keine Zukunft haben», schreibt sie weiter. Zu der Sorge um und für Saatgut und Biodiversität gehörten auch Überlegungen wie Kulturdauer und Haltbarkeit. Und natürlich der Geschmack.
Die Erdbeersorte «Mieze Schindler» etwa werde gerne in Privatgärten angebaut, weil sie so aromatisch sei. Für die Vermarktung hingegen sei sie komplett ungeeignet. Aus dem einfachen Grund, dass sie «fast am Tag der Ernte noch zusammenfällt». «Am besten», führt Clara aus, «isst man sie direkt von der Pflanze». Ich sehne mich nach dem Sommer.
Clara erzählt mir, dass ihr Pflegealltag zu grossen Teilen aus Nahrungszubereitung bestehe. Ihr Partner brauche drei Mal am Tag warmes, leicht verdauliches, histaminarmes Essen mit diversen Einschränkungen. So sei das bei vielen Menschen, die entweder pflegen oder krank sind. Es bereite ihr allermeistens Freude, zu experimentieren: «Vielleicht ist es eben die Eintönigkeit des Alltags, die nach so Experimenten und einer Erweiterung im Schmecken verlangt». Und gleichzeitig habe sie auch manchmal keine Lust und «es ist nur eine Pflicht, morgens schon wieder Hirsebrei zu machen»[18].
Ich schenke Clara nach dem Workshop eine Hosenbirne. «Ich dachte, sie könnte dir gefallen», sage ich verlegen. «Eine alte Schweizer Birnensorte».
Eigentlich heisst die Birne «Schweizerhose», lese ich nach. Ihr Name kommt von den ebenfalls gestreiften Hosen der Schweizergarde im Vatikan. 2011 war sie in der Schweiz Birne des Jahres.
Im Mitschreibprojekt «Trauworte», das während der gesamten BuchBasel geöffnet war, lese ich: «Weiss jemand, was mit dem Kohl passiert ist?»
Ich weiss nicht, was Clara Heinrich mit der Hosenbirne gemacht hat.
Vielleicht hat sie sie gegessen, trotz ihrem «mässig guten»[19] Geschmack, wie Plantura Garden schreibt.
Aber ich weiss, was mit dem Kohl passiert ist.
Fünfzig Kilo Sauerkraut.
Bemerkungen
Beitragsbild: Eva Seck, Clara Heinrich & plankton: «Rüsten, Hobeln, Stampfen». Sauerkrautworkshop im Rahmen der BuchBasel 2025. Foto © Raphaela Graf.
[1] Clara Heinrich: Pusztagold. AKI-Verlag 2025, S. 70.
[2] Ebd., S. 144.
[3] Ebd., S. 85.
[4] Ebd., S. 68.
[5] Ebd., S. 9.
[6] Ebd., S. 191.
[7] Ebd.
[8] Ebd., S. 28.
[9] Ebd., S. 79.
[10] Ebd., S. 33.
[11] Vgl. Joan Tronto: Moral Boundaries. A Political Argument for an Ethic of Care. Routledge 1993. Zitiert nach Heinrich 2025, S. 55.
[12] Heinrich 2025, S. 56.
[13] Ebd., S. 57.
[14] Ebd., S. 62.
[15] Ebd., S. 32.
[16] Volha Hapeyeva: Mutantengarten. Edition Thanhäuser, 2020.
[17] Private Korrespondenz mit Clara Heinrich vom Freitag, 22. November.
[18] Ebd.
[19] Vgl. Plantura Garden: Birne Schweizerhose: Geschmack, Anbau & Pflege der Birnensorte (zuletzt besucht am 25.11.2025).



