Von Petersilie über Pinsel zu Stift: Interventionen gegen das heteropatriarchale Abtreibungs-Regime seit der Hexenverfolgung

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Von Charly Rapp. Dieser Beitrag ist Teil der Blogserie «Paula Rego: Geschlecht und Gewalt».

Sie sitzt auf einem roten Tuch. Alleine in einem leeren Raum mit grauen Wänden. Ihre Gesichtszüge tragen etwas Kindliches. Die unbehaarten Beine sind angewinkelt und gespreizt. Ihre starken Hände umfassen ihre nackten Oberschenkel. Neben ihr steht eine leere Schüssel. Ein blaues, schlichtes Kleid fällt von ihren herabhängenden Schultern. Es verdeckt den Oberkörper und die Genitalien. Die Lippen zusammengepresst. Der Mund leicht verzogen. Ihr Bauch, gefüllt mit einem Fötus. Sie wird abtreiben. Das von Paula Rego gemalte Bild wird auf die Wand bei der von der Initiative Art of Intervention im Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum organisierten Veranstaltung «Du sollst Mutter sein» projiziert, welche die Inspiration für diesen Blogbeitrag lieferte. 

Trotz klarer Linien bleibt die im Kunstwerk festgehaltene Szene mehrdeutig, lässt Spielraum für ein Dazwischen: zwischen Leben und Tod; Zelebrierung und Ächtung; Selbstaufopferung und Selbstverwirklichung; Mutter- und Mensch-sein; Spiel und Macht. Machtspiel, zwischen dem Blick der betrachtenden Person und dem des Mädchens, welches bestimmt und unerschrocken zurückstarrt. Sie scheint die Betrachter*in miteinbeziehen zu wollen; nicht in ihre Entscheidung bezüglich des Fötus, aber in eine Auseinandersetzung mit dem in einem hetero-patriarchalen Regime verankerten Diskurs rund um Abtreibung, der das Mädchen dazu zwingt, die Schwangerschaft in Isolation zu beenden. Ihr Blick ist exponierend, nicht für sie selbst, sondern für die patriarchale Lust, welche sich an ihrem Schmerz nährt (Lisboa 2002, S. 134). Zwischen Schmerz und Stärke setzt die Künstlerin Paula Rego ihren Pinsel an.

Der Platz im Dazwischen ist gefüllt von der Idee der Gleichzeitigkeit, deren Wichtigkeit Rego in ihrer Kunst betont. Sie fordert die Betrachtenden auf, Kategorien, die sich scheinbar unvereinbar gegenüberstehen, zu überdenken, fliessen zu lassen und aufzulösen (Lisboa 2002, S. 139). In ihrer Serie Abortion Pastels, welche als Reaktion auf die Ablehnung des Referendums 1998 zur Legalisierung von Abtreibung in Portugal entstand, zeigt Rego das Unvereinbare, welches den Status Quo gefährdend in Unsichtbarkeit existieren muss (Lisboa 2002, S. 125; Oliviera 2015, S. 35). Sie hinterfragt zum Beispiel, den Stereotyp des abtreibenden Körpers. Dadurch verschmelzen die sozio-kulturell konstruierten Bilder der Jungfrau mit jenem der Sünderin in ihren mädchenhaften Subjekten (Lisboa 2002, S. 137). Generell versteht Rego ihre Kunst als eine Art aktivistische Intervention in gesellschaftliche Prozesse. Sie sagt:

All I can do is paint, it is the only power I have»

Rego zitiert in Oliviera 2015, S. 35

Ernaux’s An-Schreiben gegen die männliche Welt-Herr-schaft

Da, wo Paula Rego den Pinsel absetzt, fängt Annie Ernaux an zu schreiben, mit Worten Sichtbarkeit zu schaffen. Sie berichtet in ihrem Buch Das Ereignis autofiktional über die Entdeckung ihrer ungewollten Schwangerschaft im Alter von 23 Jahren, welche ihren hart erkämpften Aufstieg aus bescheidenen Verhältnissen an die Universität gefährdet (Schutzbach 2023). Der Text spielt im Frankreich der 1960er-Jahre, als Abtreibungen noch illegal sind und gesellschaftlich geächtet werden. Annie Ernaux ist entschlossen, das heranwachsende Kind nicht auszutragen, und unterzieht sich dafür lebensbedrohlichen Prozeduren. Die junge Protagonistin ist allein. Zunächst versucht sie es im Studentinnenwohnheim mit einer Stricknadel und dann im privaten Hinterzimmer einer ehemaligen Krankenschwester mit Sonde. Die Schilderungen der Abtreibung sind genau und schonungslos, zugleich emotional roh, schlicht und distanziert.

Szenische Lesung aus Das Ereignis von Annie Ernaux, performt von Anja Schweitzer Schneider (l.) und Stefanie Mrachacz (r.), Theater Freiburg. art of intervention: Du sollst Mutter sein, Kunstmuseum Basel | Neubau, 09.10.2024, Foto: ©Ronja Burkard.


Annie Ernaux, die sich als «Ethnologin ihrer selbst» (SWR2 2021) bezeichnet, bettet ihre persönlichen Erlebnisse in einen gesellschaftlich-historischen Kontext. Es ist ein Zusammenspiel zwischen ihr und der Welt, dem Persönlichen und dem Allumfassenden, dem Intimen und dem Sozialen, dem Unsagbaren und dem Schönen, zwischen Scham, Schutzlosigkeit, Tapferkeit und Macht; Macht des Schreibens. Machtspiel. Ernaux interveniert in die «männliche Herrschaft über die Welt» (Stift 2023), indem sie von ihren Erfahrungen als Frau und als Kind armer Arbeiter*innen berichtet. Sie selbst sagt in Das Ereignis:

Die Dinge sind mir passiert, damit ich davon berichte. Und das wahre Ziel meines Lebens ist vielleicht einfach dies: dass mein Körper, meine Gefühle und meine Gedanken zu Geschriebenem werden, zu etwas Verständlichem und Allgemeinem also, dass meine Existenz vollkommen im Kopf und im Leben der anderen aufgeht»

Ernaux 2021, S. 100–101

Vom verhexten Ursprung der staatlichen Überwachung der Reproduktion bis hin zur Legalisierung von Abreibung und darüber hinaus

Sowohl Paula Rego als auch Annie Ernaux schreiben bzw. malen gegen ein heteropatriarchales Regime an, welches Vagina mit Weiblichkeit, Weiblichkeit mit Heterosexualität, Heterosexualität mit Reproduktion, Reproduktion mit Mutterschaft, Mutterschaft mit Veranderung (mOTHER) gleichsetzt, welches sich für das Vaterland aufopfert. Die Verdrängung der Frau aus dem Status eines selbstbestimmten Subjekts im öffentlichen Raum in die private Rolle der Mutter hängt, wie Silvia Federici (2004, S. 175–176) in ihrem Buch Caliban and the Witch aufzeigt, eng mit den Anfängen des Kapitalismus und dem damit einhergehenden Krieg gegen Frauen in Form der Hexenverfolgung zusammen (Chollet 2018, S. 14).

Viele der später als Hexen angeklagten Personen waren Heilkundige, welche häufig auch als Hebammen tätig waren und Frauen eine gewisse Autonomie über ihre Reproduktion garantierten (Chollet 2018, S. 32, 241; Federici 2004, S. 98). Sie machten Gebrauch von Kräutern wie Myrrhe, Beifuss, Sadebaum und Petersilie, um Frauen dabei zu unterstützen ihre Periode zu regulieren, Abtreibungen auszulösen und Sterilisationen durchzuführen (Federici 2004, S. 102, 225).

Laut Federici (2004, S. 41, 60, 95–99, 199) führte die durch die Pestpandemie ausgelöste demografische Katastrophe dazu, dass das Populationswachstum im 16. und 17. Jahrhundert zu einer sozio-politischen Angelegenheit wurde. In dieser Periode sahen sich kirchliche und staatliche Instanzen vermehrt dazu berufen, die Fortpflanzung enger zu überwachen und die körperliche Autonomie von Menschen mit Utertus einzuschränken. Somit wurde der weibliche Körper, vor allem der Uterus, zum öffentlichen Territorium erklärt, welches von Männern mit Macht bespielt werden konnte. Machtspiele. Der entstehende Nationalstaat begann zu steuern, welche Kinder, wann, wo und bei wem geboren werden sollte. Während der ungeborene Fötus als zukünftige Arbeitskraft in den Vordergrund rückte, wurde die werdende Mutter zum Instrument der kapitalistischen Entwicklung und der Nation (Federici 2004, S. 135).

Im Gegensatz zum Leben einer Heilerin und sogenannten Hexe, war es einer weiblich gelesenen Person nicht möglich, in Unabhängigkeit und nach selbst gewählten Bedingungen zu existieren. Vielmehr war Frausein darüber definiert, stets in Relation zu jemand anderem zu stehen – als Ehefrau, Mutter, Jungfrau oder Hure (Chollet 2018, 72). In diesem Kontext wurde die «Hexe», so Federici, zu einer widerständigen Figur, welche sich ihre Autonomie nicht nehmen liess und für das heteropatriarchale kapitalistische System eine Bedrohung blieb. Die Unangepasstheit der Hexe lebte unter anderem in künstlerischen Ausdrucksformen weiter. So postuliert Mona Chollet:

Indeed, to cast a spell is simply to spell, to manipulate words, to change people’s consciousness and this is why I believe that an artist or writer is the closest thing in contemporary world to a shaman»

Chollet 2018, S. 39
Franziska Schutzbach während ihrem Input. art of intervention: Du sollst Mutter sein, Kunstmuseum Basel | Neubau, 09.10.2024, Foto: ©Ronja Burkard.


Die in den 1968er entstandene Frauenbewegung, die weibliche Reproduktion zum zentralen Thema machte, setzte kreative Proteste wie das Strassentheater als politische Widerstands-Strategie ein (Schmitter 2014, S. 16, 60-62). Dieser Kampf für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruches und der Anerkennung der Frau als Subjekt, welchem zwangsläufig eine kapitalismuskritische Logik unterlag, schien zu Beginn des 21ten Jahrhunderts erfolgreich zu sein. In vielen europäischen Ländern wurde die Abtreibung legalisiert. So stimmte auch in der Schweiz 2002 eine Mehrheit für eine Fristenregelung innerhalb der ersten 12 Wochen (Schmitter 2014, S. 14).

Allerdings hat die Obsession von europäischen Politiker*innen, sich mittels einer misogynen Thematisierung von Reproduktion und Abtreibung zu profilieren, nicht nachgelassen (Cholett 2018, S. 90): Trotz Legalisierung werden Schwangerschaftsabbrüche weiterhin stigmatisiert, als Mord skandalisiert und mit Rückständigkeit assoziiert (Schutzbach 2024a). Seit einigen Jahren kann laut Franziska Schutzbach (2024a; 2024b; 2023) sogar ein Backlash festgestellt werden. Sie bringt diese in der Gegenbewegung Ausdruck findenden heteropatriarchalen Besitzansprüche auf den weiblichen Körper mit der Emanzipation der weiblich sozialisierten Person in Verbindung. Schutzbach (2024a) argumentiert, dass es sich u. a. um einen Aufschrei gekränkter Männer handelt, die zu realisieren beginnen, dass Fürsorge, Zuwendung und Sexualität keine natürlichen, immer verfügbaren Ressourcen sind, sondern ein konstruiertes Unterwerfungssystem, welchem sich vermehrt durch verschiedenste Interventionen widersetzt wird. 

Podiumsgespräch mit Pascale Schreibmüller (l.) und Franziska Schutzbach (m.), moderiert von Andrea Zimmermann (r.). art of intervention: Du sollst Mutter sein, Kunstmuseum Basel | Neubau, 09.10.2024, Foto: ©Ronja Burkard.


Auch im Rahmen der Veranstaltung «Du sollst Mutter sein» tauschen sich Schutzbach und queer-feministische Theoretiker*in und Hebamme Pascale Schreibmüller über Interventionen aus, um die körperliche Autonomie von Frauen, trans Männern und non-binären Personen zu wahren. Schreibmüller schlug vor, medizinische Praxen und Räume zu etablieren und niederschwellig zugänglich zu machen, in denen Informationen zur Abtreibung eingeholt und über ansonsten tabuisierte Thematiken gesprochen werden kann. Es geht darum, das Mädchen im blauen Kleid von Rego oder die 23-jährige Annie Ernaux durch bottom-up Ansätze aus der Isolation zu holen.

Darüber hinaus betont Schreibmüller die Wichtigkeit der Entstigmatisierung des weiblichen Körpers durch Zuwendung. Spätestens seit der Hexenverfolgung wurde die Frau von ihrem Körper entfremdet. Sie wurde, um beherrschbar zu sein, in der Mutterrolle zu einem anderen (mOTHER) degradiert, individualisiert und isoliert und ihre physische und psychologische Integrität untergraben (Federici 2004, S. 102–103). Durch die Wiederfindung einen Zugangs zum eigenen Körper durch Wahrnehmung und Spüren, kann das Selbst aus der Taubheit der Fremdbestimmung auftauchen und somit die Kontrolle über Teile des verkörperten Selbst unter anderem den Uterus zurückgewinnen (Chollet 2018, S. 253).

Durch das Aufgeben der Mutterschaft als Institution kann statt mit Macht wieder mit kreativen Potenzialen gespielt werden. So eröffnet sich für weiblich sozialisierte Subjekte der Raum, darüber entscheiden zu können, nicht nur ob, sondern was sie gebären wollen. Es ist Zeit, all die Ideen und Visionen, die über all die Jahre gemeinsam mit der eigenen Identität heruntergeschluckt wurden und die sich in vielen Bäuchen angesammelt haben, endlich auf die Welt zu bringen, sei es durch Pinsel, Stift oder Petersilie. 



Bibliographie

Chollet, Mona (2018): In Defense of Witches. The Legacy of the Hunts and Why Women are Still on Trial. USA: St. Martin’s Press.

Ernaux, Annie (2021): Das Ereignis. Berlin: Suhrkamp.

Federici, Silvia. (2004): Caliban and the Witch. Women, the Body and Primitive Accumulation. USA: Autonomedia.

Lisboa, Maria Manuel (2002): An Interesting Condition: The Abortion Pastels of Paula Rego. In: Luso-Brazilian Review, 39/2, S. 125–149.

Oliveira, Màrcia (2015) Is this desire? Power, politics and sexuality in Paula Rego’s extreme bodies. In: Journal of Romance Studies 15/2, S. 22–39.

Schmitter, Leena (2014): Politiken der Reproduktion. Die Frauenbewegung und die Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in der Schweiz (1971-2002). Dissertationsschrift, Universität Bern, Philosophisch-historische Fakultät.

Schutzback Franziska (2023): Über Anti-Abtreibungsbewegungen und Anti-feminismus. In Theater Freiburg: Der Junge Mann/Das Ereignis, Suhrkamp, 2023, S. 16–17.

Schutzbach, Franziska (2024a): Anti-Abtreibungspolitik soll das Unbehagen an der Emanzipation schüren. In: Direkt-Magazin.

Schutzbach, Franziska (2024b): Auflehnung. In Reifert, Eva: PAULA REGO Machtspiele, Hermer, 2024, S. 167–170.

Stift, Linda. (2023). Annie Ernaux: So einfach könnte die Liebe sein. Die Presse.

SWR2. (2021). Buchkritik Annie Ernaux – Das Ereignis. SWR2 lesenswert Magazin.


Beitragsbild: Franziska Schutzbach während ihrem Input. art of intervention: Du sollst Mutter sein, Kunstmuseum Basel | Neubau, 09.10.2024, Foto: ©Ronja Burkard.

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