DETOX DEINE WEIBLICHKEIT

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Wer kennt sie nicht, die gespielt erwartungsvolle Haltung, in die manche weiblich sozialisierte Person «wie automatisch» verfällt, wenn ein ausgewiesener Mann beginnt, etwas in deplatzierter Breite zu erklären? Wer kennt nicht das reflexhafte, entwaffnende Lächeln in Reaktion auf einen verletzenden Spruch? Wer nicht das ohnmächtige Erstarren in Anbetracht des Wutanfalls eines Vorgesetzten, Kollegen oder «Familienoberhaupts» – und wer kennt nicht die betretene Stille danach und das klein-leise, hastige Zurückkehren in die «Normalität»?

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Alle Bilder von der Veranstaltung Antigone, Desdemona und Hedda der Reihe GRRRLS GRRRLS GRRRLS. Repräsentation von Weiblichkeit auf der Bühne. Ein Gespräch mit Dr. Andrea Zimmermann und Darja Stocker am 23.10.2019 in der Monkey Bar des Theater Basel. © Privat.


Wie oft hat man solche Szenen mehr oder minder schamerfüllt beobachtet und sich in ihnen fremd gefühlt – wie oft hat man sich selbst nicht gekannt, wenn man diejenige war, die sich so gehorsamst aus der Zeit gefallen verhielt, ohne zu wissen, warum.

Was, wenn eine Ansammlung antrainierten «weiblichen» Verhaltens noch immer das dysfunktionale patriarchale System unterstützt? Warum sind gerade diese Muster so schwer aufzugeben?

Von Simone de Beauvoir und Judith Butler wissen wir, dass «Weiblichkeit» kein angeborenes Verhalten ist, sondern eine Performance, eine Art und Weise zu agieren, die von spezifischen gesellschaftlichen Erwartungen sowie von Machtverhältnissen geprägt und im Laufe des Aufwachsens verfestigt wird. Eine Person wird deswegen als «weiblich» erkannt, weil sie das ihr zugeschriebene Geschlecht darstellt, bestimmte Verhaltensweisen wiederholt und damit ihrer Aussenwelt in jedem Moment versichert, sich nicht über die Grenzen «ihrer» Rolle hinwegzubewegen.

Das Weglassen gewisser, das «freie» Individuum verfälschende Verhaltensmuster ist […] aber nicht nur ein zu erwartender Effekt von Gleichberechtigung, sondern gleichzeitig der Weg dahin.

Die Motivation, die Phänomene geschlechtlich gefärbter Muster zu untersuchen, ist eine politische. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass das antrainierte weiblichen, Verhalten ein System unterstützt, das täglich Gewalt produziert, und man dieses destruktive Zusammenspiel, einmal entlarvt, zum Stillstand bringen könnte – und endlich aufbrechen zu einem gleichberechtigten Leben.

Aber warum bestehen nebst den äusseren auch so viele innere Hürden? Und warum ist es so gravierend, wenn bestimmte Verhalten unbewusst weiter praktiziert werden? Schon Olympe de Gouges hielt im 17. Jahrhundert gewisses Verhalten von Frauen als verzichtbar, so etwa Lächeln, Schmeicheln und Verführen mit dem Ziel, das männliche Gegenüber «schwach» und kontrollierbar zu machen. Zu einer Zeit, als das Wahlrecht und die gleiche Schulbildung für alle schon einmal zur Debatte standen und sämtliche sinnentleerten Hierarchien öffentlich angeprangert wurden, schienen ihr diese Verhaltensweisen als überholte Mittel, als Frau Macht zu erlangen.

Das weibliche Taktieren war für sie ein Symptom der Entrechtung und somit eines Daseins, das es zu überwinden gelte. Wären Frauen erst einmal in denselben einflussreichen Positionen wie Männer «und würden in ihren Ämtern gleich gewürdigt», so wäre ein solches Verbiegen nicht mehr nötig. Das Weglassen gewisser, das «freie» Individuum verfälschende Verhaltensmuster ist für sie aber nicht nur ein zu erwartender Effekt von Gleichberechtigung, sondern gleichzeitig der Weg dahin, eine Aktion, ein Initiieren von Transformation im Hier und Jetzt.

In einer Realität, in der viele Thematiken wahlweise Ohnmacht oder Panik auslösen, ist das eigene Verhalten einer der wenigen Bereiche, der unter gewissen Bedingungen der eigenen Handlungsmacht unterliegt. Die Entscheidung, sich innerhalb einer Familie, eines Betriebs anders als gewohnt auszudrücken, hat das Potenzial, strukturelle Veränderungen herbeizuführen. Radikaler Wandel wäre also nicht nur überfällig, sondern auch möglich.

Die erfolgreichen Unterbrüche von stereotypen Zuständen […][machen] die Ödnis der Norm sichtbar, die Dynamik der Veränderung begehrenswert.

Aktuelle feministische und queere Bewegungen zeigen, dass es durchaus eine Perspektive darstellt, kollektiv und langfristig stereotypes Verhalten zu unterbrechen. Dabei entstehen neue Realitäten, in denen Geschlechtergrenzen aufgeweicht und Machtmechanismen infrage gestellt oder ausgehebelt werden. Die Überwindung der dualen Ordnung bleibt kein ästhetisches, innerhalb einer Blase gelebtes Phänomen, sondern führt vielerorts nach jahrelanger Beharrlichkeit auch zu Gesetzesänderungen. Die Bedingungen, innerhalb derer alle «Geschlechter-un-zugehörigkeit» wählen können, ändern sich.

Die tatsächlich gelebten Machtbeziehungen verändern sich aber nicht zwingend. Vor allem dann nicht, wenn die neuen Rahmenbedingungen nur von wenigen genutzt werden und die festgefahrenen Muster weiterhin dominieren.

Die erfolgreichen Unterbrüche von stereotypen Zuständen erreichen hauptsächlich in ihrer visuellen Erscheinung eine breitere Masse: queere Märsche, die viral gehen, Individuen, die mit ihrer Selbstpräsentation die Verstocktheit des binären Blicks freilegen. Durch sie wird die Ödnis der Norm sichtbar, die Dynamik der Veränderung begehrenswert. Dem eindimensionalen Lustverständnis werden autonom gestaltete, breit gefächerte Lusträume entgegengestellt. Feminismus und Queerness erscheinen in diesem Kontext nicht nur als politische Positionierung mit Konsequenzen, sondern auch als Lifestyles unter vielen, denen man sich anschliessen kann, sofern man* sich dort mehr persönliche Freiheit und Akzeptanz verspricht.

Tatsächlich sind zeitgenössische feministische und queere Kontexte inklusiver, als es ihr die Gegenstimmen attestieren: das Reproduzieren von Stereotypen wird nicht per se ausgeschlossen, um gemeinsam den Weg fern von patriarchalen Strukturen zu gehen. Entscheidend ist die Frage der Selbstermächtigung: wenn es dir guttut, jeden Tag ein Selfie mit Schmollmund zu posten, dann mach es.

In Zeiten eines Neoliberalismus, der sich ohnehin jede originäre Selbstinszenierung einverleibt, reproduziert und konsumierbar macht, scheint dies erst einmal folgerichtig: die Formate des Markts zu benutzen, um sich in Szene zu setzen. Die ständig neu zutreffende Wahl der eigenen Repräsentation ist im besten Falle nicht nur ein Selbstinszenieren und Verfestigen von Rollenbildern, sondern trägt die Option in sich, zu irritieren – Zuschreibungen heute zu bestätigen, um sie morgen zu erschüttern.

Geschlechtsüberschreitendes Verhalten, das sich in den sozialen Netzwerken abspielt, scheint im mitteleuropäischen Kontext mit weniger Hürden behaftet zu sein, als dieses im situativen, täglichen Leben zu praktizieren, sei es innerhalb von Institutionen oder in der Familie.

Dass «l’homme est né libre» nur für die männliche, weisse Bevölkerung galt und nicht etwa für die Menschheit, das war zu de Gouges Zeiten kein konservatives Phänomen, sondern ein erbitterter Kampf […].

Trotz global vernetzter, sich in ihrer Wirkung medial potenzierender Bewegungen und Diskurse haben als Mann positionierte Personen noch immer eine Prozentzahl an Leitungsposten inne, die einen glauben machen könnte, die Vorstellung des menschlichen Körpers sei bei Aristoteles stehen geblieben. Oder in der von der Antike inspirierten, bereits erwähnten Aufklärung, wo Frauen nach ein paar hoffnungsvollen Jahren auf Bildung und Wahlrecht mittels biologistischer Argumente die Teilhabe am öffentlich-politischen Leben verweigert wurde.

Dass «l’homme est né libre» nur für die männliche, weisse Bevölkerung galt und nicht etwa für die Menschheit, das war zu de Gouges Zeiten kein konservatives Phänomen, sondern ein erbitterter Kampf, den jene gewannen, die bereit waren, die Guillotine einzusetzen. De Gouges und viele andere kamen für ihre Überzeugungen, dass auch Frauen und die kolonisierte Bevölkerung gleiche Rechte haben sollten, aufs Schafott.

Die physiognomisch-faschistoiden Rechtfertigungen der Konservativen überlebten, so absurd sie schon damals waren, bis heute und werden von hohen Politikern bis zu angesehenen Künstlern weiterhin dazu benutzt, nicht weiss männlich positionierte Personen zu diskriminieren.

So sprach etwa eine männliche Theaterlegende noch 2018 den «Frauen» das Talent ab, Regie führen zu können – mit der Begründung, dass Männer auch besser Fussball spielen würden als Frauen. Er wiederholte das biologistische Argument von der höheren Leistung des stärkeren Körpers, das schon in der Aufklärung dazu benutzt wurde, Frauen von gleichen Chancen fernzuhalten. Ein Senator einer grossen Partei wiederum nannte eine jüngere Kollegin eine «süsse Maus» und suggerierte, dass sie sich hochgeschlafen habe – damit gab er ihr zu verstehen, dass sich ihr aus seiner Sicht verobjektivierter Körper an einem falschen Platz befinde. Diese Beispiele stehen für eine im jeweiligen Bereich dominierende «Kultur».

Auch wenn Frauen in der europäischen Mittelschicht ihre Biografien heute stärker selbst bestimmen können, haben nur wenige Positionen inne, in denen visionäre Handlungen
möglich sind, die dann auch entsprechend gewürdigt werden. Spätestens nach dem zweiten Kind landet die Mehrheit dieser Frauen im Ernährermodell, da der Energieverlust am Arbeitsplatz in den unteren Etagen zu hoch ist – oder im Prekariat, wenn der Ernährer fehlt.

[Man sollte G]eschichtsvergessen im «Hier und Jetzt» präsent sein und Sehnsüchte nach einer Zukunftsvision als störende Ängste beiseiteschieben.

Transformative Diskurse und Begehren weckende Bilder, die eine Realität fern von Rollenzuschreibungen greifbar machen, sind ein wichtiges Fundament für die Forderungen nach anderen Verhältnissen. Um einen tiefer greifenden Wandel herbeizuführen, braucht es aber kollektiven Druck und radikal geäusserte, solidarisch getragene Kritik, die sich machterhaltenden Ritualen ebenso beharrlich und aktiv entgegenstellt, wie diese es im Jetzt auch sind.

Sicher kann man immer anführen, dass als Erstes das neoliberal-kapitalistische System mit seiner gewinnbringend in Stellung gebrachten sexistischen Abwertung abzuschaffen wäre, um die Fremdbestimmung des weiblichen Körpers zu durchbrechen. Dass breit getragene Manifeste, utopische Pamphlete und kollektive intersektionale, globale Massenproteste nötig sind, um Strukturen zu bewegen.

Und zweifellos muss die Sicht auf das grosse Ganze ständig mitgedacht werden. Wenn de Gouges aber inmitten einer Revolution das Verhalten der Damen in den Salons kritisiert, macht das ebenso Sinn. Denn der Umbau von Machtpositionen in überschaubaren Einheiten führt dazu, dass sich die Anliegen dieser jeweiligen Institutionen und Familien auch leichter mit den Protestbewegungen «draussen» verbinden lassen, weil der Graben zwischen den Wirklichkeiten nicht mehr so gross ist.

Gibt es an einem Theater ein Führungsteam aus Persönlichkeiten, die unterschiedliche
Diskriminierungserfahrungen haben, ist die Solidarisierung mit Bewegungen, die soziale oder Gendergerechtigkeit fordern, einfacher und weiterführender, als wenn sie von einer homogenen, dominierenden Gruppe «herabformuliert» wird. Sind in einer Familie beide Partner_innen ökonomisch autonom, fordern sie folgerichtig gleichberechtige Löhne und werden sich solidarisch mit den entsprechenden gesellschaftlichen Forderungen zeigen.

Das eigene transformative Verhalten kann von sozialen Bewegungen inspiriert oder getragen sein. Entweder wird die selbst initiierte Veränderung ohne Widerstand angenommen, da der Weg dahin schon geebnet war, oder aber sie wird als Protest bewertet und muss zu einer Forderung führen, aus der im besten Falle eine Solidarität und das Anstossen von weiteren Veränderungsprozessen erfolgt.

Wird man selbst nicht direkt diskriminiert, könnte man zudem meinen, dass das eine oder andere Wiederholen eingeübter Verhaltensmuster an sich noch keine destruktive Tat darstellt.

Die Möglichkeit der Veränderung wird aber aktuell auch da nicht genutzt, wo sie bereits im Raum steht. Ein oft gehörtes Argument ist, dass «Frauen» sich in bestimmten Situationen nicht wehren oder positionieren, weil sie sich in einer «schwachen» Position befänden. Sicher ist, dass die Bekämpfung von Protest jene am härtesten trifft, die sich in der strukturell schwächsten Position befinden, und die Konsequenzen, die daraus folgen, Jahre, manchmal Generationen nachwirken. Es liegt daher nahe, dass jemand, der eine prekäre Position innehat, sich eher nicht wehrt und versuchen wird, in den Strukturen weiter zu bestehen.

Immer wieder zeigt sich allerdings, dass sich Individuen und Gruppen gerade aus einer verwundbaren Position heraus einer Machtdynamik verweigern oder sich ihr entziehen, da kein anderer Ausweg mehr besteht als Protest oder Weggang. Wer ohnehin bereits von Diskriminierung betroffen ist, ökonomisch prekär dasteht und von den Machtpositionen abhängig ist, wird öfters Ziel von lang anhaltendem Machtmissbrauch als jemand, der das Privileg hat, abgesichert aus der Institution auszuscheiden. Viele nichtprivilegierte Personen sind schlicht nicht im Besitz der Ressourcen, die es bräuchte, den Machtmissbrauch über längere Zeit auszuhalten. So erstaunt es nicht, dass viele Protestbewegungen von schwarzen Menschen, Frauen, POCs oder Arbeiter_innen initiiert wurden.

Jene Individuen, die sich nicht positionieren und die Struktur mit unterstützendem Verhalten am Laufen halten, sind also eher nicht diejenigen, die strukturell am schwächsten dastehen, sondern eher solche, die ihre Ressourcen dazu nutzen, trotz der strukturellen Gewalt weiterhin am System teilzuhaben.

Medienaktivist_innen kritisieren zu Recht den beispiellose Meditations- und Mindfulnessboom, der das aktive Dissoziieren von realen Ungerechtigkeiten als «the healthy way» verkauft. Stattdessen solle man geschichtsvergessen im «Hier und Jetzt» präsent sein und Sehnsüchte nach einer Zukunftsvision als störende Ängste beiseiteschieben.

Eine entscheidende Anzahl von potenziell Wandel anstossenden Menschen wird demnach ermutigt, den berechtigten Ärger wegzumeditieren und den Trott weiterzumachen – statt sich unter Betroffenen zu solidarisieren.

Dabei entsteht eine soziale Bewegung, wie Gloria Steinem es formulierte, genau in dem Moment, wo eine Gruppe von Menschen gleichzeitig feststellt: nicht ich bin falsch, sondern das System.

Möchte man die Flucht in Wogen glättende Apps pessimistisch betrachten, könnte man sagen, dass diese Form von Sich-innerlich-Loslösen von den widrigen Umständen eine Strategie ist, das morsche Boot, das einen trägt, solange wie möglich mit über Wasser zu halten –- grad bis zur Rente, um dann erschöpft abzudanken.

Wird man selbst nicht direkt diskriminiert, könnte man zudem meinen, dass das eine oder andere Wiederholen eingeübter Verhaltensmuster an sich noch keine destruktive Tat darstellt. Dann lächelte sie, ich halt! Es lohnt sich, noch mal zu vergegenwärtigen, dass es aber gerade diese Verhaltensweisen sind, die dazu erlernt wurden, Gewalt zu verschleiern und die Dynamik, die diese weiter produziert, am Laufen zu halten. Es ist gerade dieses Darüberhinweglächeln, dieses Wegblicken, dieses Sichenthalten, dieses Beschwichtigen, dieses Ensemble an harmlosen, verharmlosenden Aktionen, das die Fortführung des Machtmissbrauchs möglich macht, mit allen Konsequenzen billigt und legitimiert.

Das Verhalten, das von Frauen in diesem System erwartet wird, sind jene Gesten, Reaktionen, Tätigkeiten, die benötigt werden, um Machtstrukturen weiter aufrechtzuerhalten.

Struktureller Ausschluss, Mobbing, systematisches Niederhalten in der Arbeitswelt bedeutet, dass die Qualität leidet, sich Mittelmass durchsetzt, dass inspirierende Reibungsflächen fehlen, dass der Lerneffekt ausbleibt, der dort entsteht, wo mehrere Perspektiven aufeinandertreffen. Wo die patriarchale Macht die Oberhand hat, herrscht Sexismus, und wo Sexismus herrscht, ist immer auch Rassismus anzutreffen. Das Verhalten, das von Frauen in diesem System erwartet wird, sind jene Gesten, Reaktionen, Tätigkeiten, die benötigt werden, um Machtstrukturen weiter aufrechtzuerhalten.

Selbst erlebte Grenzübertritte sollen spielend weggesteckt werden. Sowohl im Kulturbetrieb als auch in der Politik und vielen anderen Bereichen wie der Wissenschaft etc. herrscht daher noch heute eine äusserst wirksame Schweigekultur – und das sogar dann, wenn es um schwere Vergehen geht.

Diesen verheerenden Reaktionsmustern gegenüber steht, so die Feministin und Literaturwissenschaftlerin bell hooks, «Authentizität» und «Wahrheit». Sie nennt das anpasserische Verhalten eine Entfremdung von sich selbst, seinem eigentlichen Empfinden. Weiblich sozialisierte Personen würden sich selbst nicht kennen und wüssten nicht, was sie wollten und fühlten, da ihr authentisches Ich ständig von ihrem eigenen künstlichen Verhalten überspielt würde. So hätten Frauen oft kaum Zugang zu wahrhaftigen Entscheidungen und Impulsen, da sie dafür belohnt werden, «falsch» zu sein – und dafür bestraft, sich selbst zu sein. Dass «Frauen» sich ihrem Menschen selbst fremd seien, sieht sie als Hauptgrund, dass sie in ihrem Verhalten verhaftet bleiben. Denn der Ort, von dem aus sie dieses steuern könnten, sei verschüttet.

Warum auch Frauen ihre Muster kaum unterbrechen, die keine existenzielle Bestrafung zu befürchten hätten, erklärt sich mit der Kontinuität an Gewalt, mit der Geschlechterrollen konstruiert wurden. Eine Gewalt, die bis heute nachwirkt.

Dass Traumen über mehrere Generationen über die DNA und unbewusste Schemata der Eltern übertragen werden, ist mittlerweile wissenschaftlich erwiesen. Traumen sind oft ein persönliches Thema, es sei denn, es handelt sich um eine kriegsbetroffene Gruppe. Dabei wird ausgeklammert, dass Traumen immer innerhalb sozialer Bedingungen, gesellschaftlicher Zustände und politischer Realitäten stattfinden.

So hatten bis in die Sechzigerjahre Mütter, die sich trennten oder scheiden liessen, keinen Anspruch auf das Sorgerecht für ihre Kinder, Vergewaltigung und Gewalt in der Ehe galten nicht als Straftaten. Nicht das patriarchale Familiensystem wurde als dysfunktional identifiziert, sondern das Verhalten des weiblichen Ehepartners als normabweichend eingestuft. Frauen wurden für schuldig befunden und bestraft – juristisch, aber auch sozial – und befanden sich in einer Art rechtfreiem Raum. Qua Geschlechtszugehörigkeit war ihnen eine Reihe von Verboten auferlegt, und sie hatten einen Katalog an Geboten zu befolgen. Dieser war etwa so bindend wie der Dekalog in der Kirche.

Wurde eine gebotene Handlungsweise nicht ausgeführt, setzte es Strafe und Ausschluss aus der Gemeinschaft. Das gewünschte weibliche Verhalten an den Tag zu legen, diente nicht nur dazu, als Frau angesehen zu werden, sondern auch, um sich vor Repressionen zu schützen.

Nebst dem, dass Frauen dafür gemassregelt wurden, den gewalttätigen Lauf der Dinge zu unterbrechen, wurden sie im gleichen Zug gezwungen, die Schuld nicht nur des Unterbruchs, sondern auch der Gewalttat, die diesen Unterbruch hervorrief, auf sich zu nehmen – und deren Konsequenzen.

Über Generationen wurde von weiblichen Personen erwartet, sich im Angesicht gewalttätiger Ausbrüche und Praktiken so zu verhalten, dass das Weiterfunktionieren der Abläufe in Familie und Gemeinde garantiert war. Dies galt vom Überhören von verbalen Entgleisungen bis hin zum Decken von sexualisierter Gewalt. Frauen hatten die Rolle inne, die Katastrophen eines dysfunktionalen Systems in doppelter Weise zu entschärfen: Einerseits zu beschwichtigen und den Fokus woanders hinzurichten, und andererseits das, was eigentlich passierte, unscharf zu stellen, um möglichst schnell zur Routine, der Carearbeit, der Politur des Äusseren zurückzukehren.

Weder das Protestieren noch das Sichsolidarisieren, sondern bereits der Unterbruch des affirmativen Verhaltens wurde als oppositionelle Handlung betrachtet. Die reflexhafte Zäsur, das Stocken, passiert entwicklungspsychologisch gesehen am meisten bei Kindern und jungen Erwachsenen, da diese noch keine ausgewachsene Impulskontrolle besitzen. Weibliche Personen, die den Geboten der Weiblichkeit zu Beginn noch intuitiv versagten, wurden von klein auf als trotzig und widerspenstig bezeichnet, sie wurden kritisiert und abgelehnt.

Das heutige Unterbrechen von konditioniertem Verhalten ist deswegen mit komplexen Blockaden verbunden, weil es seit Generationen in ebenso komplexer, perfider Weise bestraft wurde: Nebst dem, dass Frauen dafür gemassregelt wurden, den gewalttätigen Lauf der Dinge zu unterbrechen, wurden sie im gleichen Zug gezwungen, die Schuld nicht nur des Unterbruchs, sondern auch der Gewalttat, die diesen Unterbruch hervorrief, auf sich zu nehmen – und deren Konsequenzen. Ein heroisches Bestraftwerden, weil man sich aufgelehnt hatte, wurde verhindert, indem der Person öffentlich die Verantwortung für das übertragen wurde, was eigentlich das Verbrechen eines Machtträgers war. All dies, um die Ruhe und das Funktionieren sicherzustellen.

Diese Art von Schuldübertragung stellt eine ständig praktizierte Ablenkung von dem dar, was eigentlich vor sich geht. Von dem immensen Schaden, der durch Gewalt – verbal, physisch, psychisch, sexuell oder strukturell – entsteht. Frauen* wurden über Generationen davon abgelenkt, mit einer Reihe von Verboten und Geboten, mit absurden Bestrafungen, aktiv den Lauf der Dinge zu unterbrechen, Veränderungen zu initiieren, Visionen zu kreieren. Abgelenkt aber auch davon, die Gewalt, die geschah, zu benennen und die tiefe Einsicht in deren Funktionsweise für sich zu beanspruchen.

Um der ständigen Ablenkung zu entkommen, so bell hooks, mit aktiver innerer Arbeit das verfälschte, widersprüchliche Ich ablegen.

Öffnete sich mit dem Unterbruch die Möglichkeit zu einer Veränderung, zu einem Raum des nichtgeschlechtskonformen Verhaltens und also zu einem Anfang von Queerness, so taten Machtträger alles dafür, den Unterbruch in ein Erstarren umzuwandeln. Kaum gestockt, geschockt den Trott unterbrochen – so setzt beinahe gleichzeitig die innere Erstarrung ein, aus Angst vor der Strafe, dem Ausschluss, der Kritik, Stigmatisierung und dem Auseinanderfallen der Struktur.

Es ist diese Erstarrung, die so viele in den Generationen vor uns mit sich herumtrugen, die unter so vielen oberflächlichen Handlungen liegt, die sich weitervererbt und anscheinend noch immer so viele Personen daran hindert, in der Unterbrechung einen realen Ausweg zu finden.

Persönlichkeiten wie Olympe de Gouges, die ihre eigene Erstarrung bewusst hinter sich gelassen haben und im Unterbruch einen Lebensweg kreierten, verbrachten ihre Zeit damit, die irrwitzigen Argumente, mit denen jegliche Unterdrückung rationalisiert wurde, in ihre Bestandteile zu zerlegen. Eine der Begründungen, de Gouges aufs Schafott zu schicken, war: «Frauen, die rational argumentieren, weichen von ihrer Gattung ab, sie sind Monster.»

Um der ständigen Ablenkung zu entkommen, so bell hooks, müsse man mit aktiver innerer Arbeit das verfälschte, widersprüchliche Ich ablegen. Wie aber die Ängste, die mit der Konditionierung sogenannt «weiblichen» Verhaltens einhergingen, abbauen? Es gibt darauf weder eine rein individuelle noch eine rein kollektive Antwort.

Dass sich Leute massenhaft in die private Umgebung von Meditations- und Mindful-Apps zurückziehen, könnte aber unter diesen Vorzeichen hoffnungsvoller eingeordnet werden: statt einer Ablenkung von den eigentlich zu führenden Kämpfen erst einmal als Unterbruch, ein Sichherausnehmen aus dem System. Denn zumindest wird in diesem Bereich des Selfcare weder Diskriminierung betrieben noch ein verfälschtes Verhalten abverlangt, sondern eben einfach: nichts. Und vielleicht ist es dieses Nichts, auf dem aufgebaut werden könnte, diese Verbindung zu sich selbst. Das Lösen der inneren Erstarrung in einer Zeit des Unterbruchs.

Das Unterbrechen zugeschriebener Geschlechterzugehörigkeit ist immer eine Weigerung, trotz gewalttätiger Mechanismen in seiner Rolle weiter zu funktionieren. Ob der Sprung in die direkte politische Aktion gelingt, ist von vielen Faktoren abhängig. Das Stocken, die Zäsur, der Rückzug auf sich selbst ist aber fast jederzeit auf noch die kleinste Weise möglich. Und sosehr ihm wahlweise etwas pathologisch-depressives oder egoistisch-individualistisches anhaftet, sosehr könnte man in ihm auch das Potenzial sehen, in ihm einen Ort für selbstinitiierendes Handeln zu erschaffen – und dies nicht nur für sich selbst.

Das Stocken, dem man einen Raum gibt, statt es in die Erstarrung zu pressen, ist ein Ausscheren aus dem bekannten Pfad. Im Stocken, im Unterbruch steckt das intuitive Wissen, dass ein entwertendes Wort, ein grenzüberschreitendes Verhalten, so subtil es sich auch zeigt, immer die Perspektive der Gewalt in sich trägt, der Destruktion, des Todes, symbolisch oder konkret. Die Zäsur und das Festhalten an ihr braucht Unterstützung – sind diese nicht vorhanden, tun es vielleicht am Anfang sogar neoliberale Tools, die eigentlich für etwas anderes gedacht waren.

Der selbstinitiierte Unterbruch und sein vorläufiges Aussitzen ist ein aktives Hinterfragen einer Richtung, ein Sichloslösen von einer Ideologie, die ins Desaster führt. Es ist der Beginn eines Quergangs jenseits der Erwartung an das eigene, zugeschriebene Geschlecht. Es entsteht ein Ort der inneren Neupositionierung, des Fundaments politischen Handelns.

Text von Darja Stocker aus dem Begleitheft zu GRRRLS GRRRLS GRRRLS, S.61-63.
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