1. Gerlind Reinshagen war eine Dichterin.
2. Nie schreibt Gerlind Reinshagen über etwas und schon gar nicht über sich selbst. Was nicht greifbar, womöglich sogar nur ausgedacht ist, bringt sie in ihren Theaterstücken, ihrer Prosa und ihren Gedichten zum Ausdruck. Sie imaginiert in einem Text die letzten Tage der Gertrud Kolmar, auch sie eine Dichterin, und lässt sie in einem Monolog selbst sprechen. Reinshagen stellt sich vor, Kolmar habe die Siegessäule in Berlin bestiegen, um sich hinunterzustürzen, was sie letztendlich nicht tut.
3. Von Gerlind Reinshagen stammt das erste Theaterstück einer Dramatikerin, das eine Aufführung erfuhr. Das Stück «Doppelkopf» wurde 1968 von Claus Peymann in Frankfurt am Main uraufgeführt. Reinshagen ist vom Hörspiel zum Theater gekommen. Wie in all ihren Werken arbeitet sie auch in diesem Genre sehr genau mit der Sprache. Immer existiert auch ein Subtext, eine Metasprache.
4.
«Das Schreiben von Stücken jedenfalls wird wieder interessant. Neues ist zu entdecken. Eine andere Art von Faszination stellt sich her. Größere Aussichten eröffnen sich. Jede Forschungsreise ist gut. Jeder Aufbruch ins noch immer Unentdeckte.»
Reinshagen in: Gleichauf: «Was für ein Schauspiel», 2003, S. 75
Was Reinshagen über das Schreiben von Stücken sagt, gilt für ihr gesamtes Schaffen und für ihr Leben überhaupt. Stets gilt es, Neues zu entdecken. Reinshagen ist eine Forschungsreisende, eine wachsame Beobachterin. Was denken Menschen, wenn sie sprechen? Inwieweit sind individuelle Biografien eingebettet in den großen historischen Zusammenhang? Und welche Rolle spielen einzelne gesellschaftliche Gruppen?
5. Dies permanente Unterwegssein, das fragend in die Zukunft Blicken hat mich von Anfang an fasziniert. Ich begegnete Gerlind Reinshagen zum ersten Mal 2001 in Berlin. Damals schrieb ich an einem Buch mit Porträts von Dramatikerinnen. Eine Freundschaft begann und endete mit Reinshagens Tod 2019. Das Zentrum ihres Lebens bildete die Arbeit. In unseren zahlreichen Gesprächen über die Jahre hin ging es immer vorrangig darum. Wie bleibt man im Schreiben am Puls der Zeit? Ihre größte Angst: dass ihr die Ideen ausgehen könnten. Bei unseren Telefonaten lautete ihre erste Frage jedes Mal: «Was arbeitest du?» Alltagsfragen wurden kurz angesprochen, um dann schnell wieder zur Literatur zurück zu kommen.
6. In Reinshagens Werk kommt immer wieder eine Blinde vor. Ihr wollte sie einmal einen eigenen Text widmen. Es kam nicht dazu. Dabei kann ein ganzes Leben blind sein. Denn es ist kompliziert mit der Wahrheit und man kann sich an ihr verletzen. Davon und wie unübersichtlich der Weg von einem Menschen zum anderen ist, handelt der 2011 erschienene Roman «Nachts». Jemand verwählt sich und es entspinnt sich ein Gespräch zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau. Die Autorin selbst versteckt sich in beiden Stimmen.
7. Bescheidenheit: 2011 stirbt Reinshagens Mann und sie zieht aus der wunderschönen Wohnung in Berlin Friedenau in ein kleines Zimmer in einem rosa angestrichenen anthroposophischen Altenheim. Ein Kühlschrank war nicht vorhanden. Als mein Mann und ich sie besuchten, tranken wir lauwarmen Sekt und sprachen über den Lyrik-Band, an dem sie intensiv arbeitete und den sie unbedingt noch veröffentlicht sehen wollte.
8. Die Gedichte erschienen unter dem Titel «Atem anhalten» 2018 bei Suhrkamp. Sie sind in fünfzig Jahren entstanden.
«Ein Gedicht zu lesen
Reinshagen: «Atem anhalten», 2018, S. 153
Ist keine Kunst
Höchstens nur eine Angelegenheit
Wie Lieben
Von dem es heißt
Daß es nur ein Ausgedachtes ist
Nichts als ein Kinderspiel
Ein Albtraum
Sprung ins Dunkle
Niemals greifbar.»
9. Gerlind Reinshagen ist eine Dichterin, die niemals nur Hauptwege, sondern immer auch Nebenwege, ja Nebenwelten untersucht, sich ihnen aussetzt. Wie weit der Mensch reiche, ist eine ihrer Grundfragen.
Geboren wurde Gerlind Reinshagen 1926 in Königsberg und hat ihre Jugend in Halberstadt verbracht. Nach dem Abitur machte sie eine Apothekerinnenlehre. Irgendwann begann sie zu schreiben, brach aus dem scheinbar fest Gefügten aus. Im Stück «Die grüne Tür» von 1999 sagt eine junge Frau:
«Und es soll auch nichts in Ordnung sein. Nichts in eurer verfuckten Welt. Denn ich sage euch: Eine wird da sein, die sich nicht abfindet, die nicht vorliebnimmt, die gegen den Stachel löckt.»
Reinshagen: «Die grüne Tür», 1999, S. 60
10. Ist Gerlind Reinshagen eine Feministin? Wir haben nie darüber gesprochen. In ihrem Werk spielen einzelne Stimmen eine größere Rolle als feste Identitäten. Wer lügt, wer Wahres ausspricht. Ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt, ist nicht wesentlich. Es wird gesprochen jenseits von Geschlechtergrenzen. Die Sprache ist Herrscherin über die Wahrheit. Und es ist vor allem der Dialog, der Neues in die Welt bringt.
Ihr Werk ist das einer Widerspenstigen und mit ihrer Widerspenstigkeit hat sie mich angesteckt.
Mach mit!
10 Gruende, Frauen (wieder) neu zu lesen
Mit der Reihe «10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen» halten wir auf diesem Blog die Erinnerung an Autorinnen wach, wollen sie bekannt machen und gleichzeitig Bewusstsein schaffen für Geschlechterungleichheiten im Literaturbetrieb. Kennst auch DU eine Autorin, die dir viel bedeutet und an die du gerne erinnern möchtest? Hier erfährst du mehr.
Bemerkungen
Beitragsbild: Gerlind Reinshagen (l.) und Ingeborg Gleichauf (r.). Foto: Eberhard Gleichauf.