10 Gründe, Ruth Waldstetter neu zu lesen

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Von Julia Rüegger


1. Wie den allermeisten war auch mir ihr Name kein Begriff, als ich Ende 2023 gefragt wurde, ob ich Interesse hätte, für ein theatrales Porträt zu Ruth Waldstetter am Neuen Theater Dornach Text zu verfassen. Dabei war Waldstetter zu ihrer Zeit durchaus eine bekannte Schriftstellerin – und die einzige Schweizer Autorin, deren Stücke auf Schweizer Bühnen gespielt wurden. Dennoch sind von Waldstetter schon lange keine Texte, geschweige denn ganze Bücher mehr erhältlich.

Diese elementare Hürde ist aber nur eine von vielen Schwierigkeiten, heute einen Zugang zu ihrem Leben und Werk zu finden: Zwischen der Zeit, in der Waldstetter geschrieben hat, und unserer Gegenwart liegen epochale Umwälzungen und Meilensteine der Emanzipation, die sie leider nicht mehr erlebte, vornehmlich die Einführung des Frauenstimmrechts, für das sie schon in den 1920er-Jahren flammende Reden schrieb, aber auch das neue Familienrecht und eine Präsenz von Frauen in Politik, Gesellschaft und Kultur, von der Waldstetter und ihre Zeitgenossinnen nur träumen konnten. Zwischen ihrer und unserer Zeit liegen aber auch Verschüttungen, die gerade das Schaffen von Frauen strukturell dem Vergessen anheim gegeben haben.

Ich versuchte, Waldstetters Widersprüche in den Blick zu bekommen und ihre Sehnsüchte kennenzulernen, ohne sie in ein Bild zu zwängen, dem sie nicht entsprach.

Das Zwiegespräch, das ich für den Waldstetter-Theaterabend schrieb, blieb daher eine Annäherung auf Distanz, eine tastende Auseinandersetzung mit weit mehr Fragen als Antworten, und eine, die stets zwischen Faszination, Irritation und Befremdung schwankte. Ich versuchte, Waldstetters Widersprüche in den Blick zu bekommen und ihre Sehnsüchte kennenzulernen, ohne sie in ein Bild zu zwängen, dem sie nicht entsprach. So bleibt meine Verbindung zu ihr bis heute etwas gespenstisch, geprägt von vielen Rätseln, was ihre Person und insbesondere ihr Leben abseits der Öffentlichkeit betrifft, geprägt aber auch vom Staunen darüber, welch klare Worte sie gerade in ihren Theaterstücken fand, um patriarchale Machtverhältnisse auf den ebenso männlich dominierten Theaterbühnen zu kritisieren. Worte, die auch heute noch schmerzhaft ins Mark patriarchaler Herrschaftsverhältnisse treffen.

2. Ruth Waldstetter gehört nicht zu der überschaubaren Runde von Autorinnen, deren Leben und Werk eine nennenswerte und nachhaltige Wiederentdeckung erlebte, die sich bspw. in neuaufgelegten Editionen oder anderen Publikationsformaten niedergeschlagen hätte. Selbst unter feministischen Literaturwissenschaftler*innen ist ihr Name oftmals gänzlich unbekannt, auch wenn sich in einigen Anthologien zu Schweizer Schriftstellerinnen eine Kurzbiographie und Textauszüge von ihr finden lassen. Über einen Wikipedia-Eintrag hinausführende Informationen zu ihrem Leben oder gar Texte von ihr zu finden stellt sich jedoch als schwierig heraus.

Die Erinnerung an ihr Leben und Werk kam erst ins Rollen, als das Team vom Neuen Theater Dornach von dieser «regionalen» Autorin hörte und entschied, ein Stück zu ihrem Andenken auf die Bühne zu bringen. Im Zuge dieser Stückentwicklung und einer damit verbundenen Kooperation wurde von der Universitätsbibliothek Basel, die eine beachtliche Autographen-Sammlung von Waldstetter verwahrt, eine Ausstellung mitsamt einem Videoclip für den Blog der Bibliothek entwickelt, und die Basellandschaftliche Zeitung berichtete in einem ganzseitigen Artikel über die Autorin und den ihr gewidmeten Theaterabend. Der Zugang zu Waldstetters Werken bleibt jedoch weiterhin hürdenreich und aktuelle Forschung zu ihr gibt es kaum.

3. Ruth Waldstetter wurde am 12.11.1882 als Tochter einer angesehenen Basler Buchhändlerfamilie mit bürgerlichem Namen Martha Geering geboren. Nach Abschluss der Schule machte sie das Lehrerinnenexamen, absolvierte Sprachstudien an den Universitäten Basel, München, Oxford und Berlin und war in England und Schottland tätig. Ihr Debütroman «Die Wahl» erschien 1910 im renommierten S. Fischer Verlag und machte sie schlagartig bekannt. 1915 heiratete sie den Verleger Eduard Behrens, mit dem sie erst in Berlin und später in Bern lebte. 1917 veröffentlichte sie ihren zweiten Roman «Eine Seele», der innerhalb von zehn Jahren dreimal aufgelegt wurde. 1921 liess sie sich von Behrens scheiden, zog zurück nach Basel und arbeitete fortan viele Jahre für die Basler Nationalzeitung (heute Basler Zeitung), für die sie u.a. Theater- und Literaturkritiken, Reisereportagen und politische Meinungsbeiträge verfasste. Als Feuilletonredakteurin weilte sie mehrmals länger in Paris und arbeitete 1929 einige Monate als Privatsekretärin von Albert Schweitzer. Parallel dazu publizierte sie weiterhin literarische Texte; in Bern und Basel wurden vier ihrer Kurzstücke uraufgeführt. Von 1933 bis 1941 engagierte sie sich als Vorstandsmitglied des Schweizerischen Schrifstellervereins und des PEN-Clubs und trat bei diversen Anlässen als Rednerin auf.

Trotz dieser vielen Tätigkeiten lebte sie finanziell prekär, was durch ihre angeschlagene Gesundheit, ein Herzleiden und chronische Schmerzen verstärkt wurde. Aus finanzieller Not veräusserte Ruth Waldstetter bereits ab den 20er-Jahren ihr Mobiliar und wechselte mindestens zwölfmal ihren Wohnort innerhalb der Schweiz. Ab Ende der 30er-Jahre wurde ihre politische Stimme zurückhaltender. Dennoch schrieb sie bis an ihr Lebensende weiter und suchte hartnäckig nach Möglichkeiten, mit ihrer literarischen Arbeit sichtbar zu bleiben und Einnahmen zu generieren. 1949 veröffentlichte sie ihren letzten Roman «Das Schicksalsjahr» im Frauenfelder Verlag Conzett und Huber. Sie starb am 26. März 1952, wenige Monate vor ihrem 70. Geburtstag, in Arlesheim und wurde auf dem Friedhof Hörnli beigesetzt. Der Roman, an dem sie zum Zeitpunkt ihres Todes arbeitete, blieb unvollendet.

4. Das zentrale und wiederkehrende Thema von Waldstetters Werk ist die Auflehnung von jungen Menschen, insbesondere von Frauen, Künstlern und Intellektuellen, gegen bürgerliche Konventionen und Lebensformen. Dabei thematisiert sie familiäre Konflikte, soziale Abhängigkeiten und «die komplexen Wechselwirkungen von gesellschaftlichen Zwängen auf die physische und psychische Konstitution, aber auch die Veränderung der Gesellschaft durch die individuelle Entwicklung ihrer Figuren».[1]

Zur Sprache kommt auch immer wieder der innere Konflikt zwischen […] der eigenen Berufung oder Leidenschaft auf der einen Seite und dem gesellschaftlich vorgeschrieben Lebensweg auf der anderen Seite.

Zur Sprache kommt auch immer wieder der innere Konflikt zwischen dem eigenen Gewissen, der eigenen Berufung oder Leidenschaft auf der einen Seite und dem gesellschaftlich vorgeschrieben Lebensweg auf der anderen Seite. Diese Konflikte werden in unterschiedlichen Konstellationen durchgespielt, z.B. im Kammerstück «Familie», das einen traditionell orientierten, autoritären Vater im Kampf mit seinen aufbegehrenden Kindern und einer zunehmend verzweifelten Mutter und Ehefrau zeigt. Die meisten von Waldstetters Figuren scheitern beim Versuch, die Konflikte aufzulösen und ihre inneren Ziele mit den äusseren Schranken in Einklang zu bringen, tragisch. Einige von ihnen erkranken an den gesellschaftlichen Verhältnissen oder bezahlen gar mit ihrem Leben, nur wenige schaffen es, selbstbestimmt ihren Weg zu gehen, aber auch sie bleiben alles andere als unversehrt.

5. Eine besondere Vorreiterinnenrolle kam Waldstetter vor allem als Dramatikerin zu: Sie war die erste Schweizer Bühnenautorin jenseits von Mundart- und Dialektstücken, deren Arbeiten auf Schweizer Bühnen gezeigt wurden. Damit mischte sie ein Feld auf, dass noch viele Jahrzehnte stark männerdominiert bleiben würde. Einzelne misogyne Kritiken zeigen, dass ihr Eintreten in diese Männerdomäne vielen Zeitgenossen nicht geheuer war und es neben Gesten purer Ablehnung auch eine sichtliche Überforderung gab, ein weibliches Schreiben im dramatischen Kontext einzuordnen, ohne dabei auf Geschlechter-Stereotype zurückgreifen, die das dramatische Schreiben als «unweiblich» einstuften.

6. Ruth Waldstetters Leben und Werk ist auf mehreren Ebenen als feministische Auseinandersetzung mit ihrer (Um-)Welt zu bewerten. Zum einen kann schon ihre Existenz als geschiedene, allein lebende Frau, die sich ihren Unterhalt durch das Schreiben verdient – eine für die damalige Zeit aussergewöhnliche Lebensweise – zweifellos als emanzipatorisch verstanden werden.

Auch zeigen viele ihrer politischen Meinungsbeiträge und Auftritte, z.B. die Rede «Die Frau in der deutsch-schweizerischen Literatur» im Rahmen des schweizerischen Kongresses für Fraueninteressen, in dem sie auf den Mangel an (kanonisierten) weiblichen Autorinnen sowie deren grundsätzlich prekäre Stellung hinweist, eine dezidiert feministische Perspektive und Haltung. Zudem engagierte sie sich als Mitbegründerin des Internationalen Lyceum Club Basel für die berufliche Förderung und Vernetzung von Frauen. Ihr vielleicht wichtigster feministischer Text ist der Essay «Vom Grundproblem der Frauenfrage», der im Mai 1920 in der Neuen Zürcher Zeitung gedruckt wurde und in dem sie, wenn auch eingebettet in teils problematische anthropologische und theologische Begründungen, die Tatsache skandalisiert, dass im gesellschaftlichen Leben zu Beginn des 20. Jahrhunderts die «weiblichen Menschen bloss als ein Passivum im Zusammenspiel aktiver und passiver Kräfte der Familiengemeinschaft» verstanden werden. Sie resümiert:

«Es fällt einer denkenden Frau heute nicht leicht, dass sie in einer Zeit, in welcher für sie und ihre Kinder alles auf dem Spiele steht, geistige und materielle Güter, die Erhaltung ihrer Kultur und Tradition, die Verbesserung ihrer eigenen Lebensbedingungen, dass sie in einer solchen Zeit nicht mitwirken darf an dem Zustandekommen eines nach rechts oder nach links orientierten Parlaments, welches ihre Interessen vertreten oder bekämpfen wird, dass in Petitionen für leibliches und geistiges Wohl ihres eigenen Volks ihre Unterschrift wertlos, eine Null, sein soll.»

Es fällt einer denkenden Frau heute nicht leicht, […] dass in Petitionen für leibliches und geistiges Wohl ihres eigenen Volks ihre Unterschrift wertlos, eine Null, sein soll.

Ruth Waldstetter, 1920

Schliesslich zeigt sich auch in ihren literarischen Werken eine geschlechtersensible Perspektive, die die Fesseln der Frau und ihre Entmündigung in einem patriarchalen System anprangert und aufzeigt, welche geistigen, seelischen und ökonomischen Einschränkungen dieses System mit sich bringt. Denn obwohl Waldstetter in ihren Prosatexten hauptsächlich männliche Protagonisten ins Zentrum rückt, ist auch in diesen die Frage zentral, welche Kräfte einem selbstbestimmten Leben im Weg stehen und welch hoher Preis in Kauf genommen wird, um eine bestimmte patriarchale Vormachtstellung zu verteidigen. Aus all diesen Gründen erstaunt es nicht, dass eine Kommentatorin anlässlich der Todesanzeige von Waldstetter in der Basler Arbeiterzeitung schrieb, sie habe ein Werk geschaffen, «das nie billige Unterhaltung, sondern dichterische Aussage war, und das besonders wir Frauen nicht vergessen wollen.»

7. Waldstetters literarisches Schaffen ist keiner eindeutigen Tradition zuzuordnen, was sicherlich auch mit der Gattungsvielfalt zu tun hat, in der sie sich bewegte: Romane, Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke und journalistische Texte wechselten sich ab und lassen jeweils unterschiedliche Gestaltungsmittel und Einflüsse erkennen. Zentrales Motiv ist sicher die kritische Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse und darin das spannungsvolle Verhältnis zwischen individuellem Streben einerseits und gesellschaftlichen Zwängen andererseits.

Wenngleich dies auch in der Rezeption so wahrgenommen wurde, wurde zuweilen kritisch bemerkt, dass der aufbegehrenden, rebellischen Seite ihres Schreibens ein zweiter Pol der «Resignation, Verinnerlichung, Vergeistigung» gegenüberstand. Charakteristisch für ihre Werke sei denn auch der «abrupte, für die Leserin kaum nachvollziehbare Wechsel von der einen zur anderen Seite, vom Widerstand zum Rückzug – ein brüchiges Nebeneinander von gesellschaftsbezogener Kritik und der Sehnsucht nach geistiger Harmonie», so die Literaturwissenschaftlerinnen Claudia Bapst, Ruth Büttikofer und Heidi Lauper.[2]

Dass neben den sozialkritischen und psychologischen Aspekten auch spirituelle Themen Einzug in ihr Werk halten, erschwert ihre Einordnung in eine bestimmte ästhetische oder programmatische Strömung weiter. So schrieb Waldstetter neben ihren deutlich sozialkritischen und realistischen Stücken auch das an keltische Sagen angelehnte Stück «Merlins Geburt», das von einem anthroposophischen Komponisten vertont wurde und spätestens heute vor allem Irritation auslöst. Auch in ihrem Gedichtband «Von der Einsamkeit» ist kein eindeutiger Stil zu finden, vielmehr wechseln sich naturlyrische Elemente mit religiösen Lobgesängen und Mundartgedichten ab.

Darüber, wie Waldstetter selbst die gesellschaftspolitischen und innerlich-religiösen Anteile in ihrem Werk gewichtet hat und welches Verhältnis sie zu den unterschiedlichen Gattungen pflegte, lässt sich nur spekulieren. Die Auszeichnungen, die sie erhielt, waren jedenfalls fast durchgängig auf ihre Prosa bezogen. So wurden 1911 «Die Wahl», 1914 «Das Haus Zum grossen Kefig» und 1938 «Die silberne Glocke» von der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. 1942 erhielt Waldstetter eine Ehrengabe. Sieben weitere Male zwischen 1917 und 1935 folgten Beiträge, die nicht an ein einzelnes Werk gebunden waren und 1950 der Ehrenpreis des Staatlichen Literaturkredits Basel für ihren letzten Roman «Das Schicksalsjahr».

8. Die durchgehend von Männern verfassten Kritiken zu Waldstetters Werken fielen grösstenteils positiv aus. Ihr Debütroman «Die Wahl» von 1910 erntete viel Lob, so auch in der Wiener Ausgabe der ZEIT, wo das Werk in den höchsten Tönen gelobt wurde:

«Die Sprache ist einfach, edel, fest und klar, und so würde man sich nichts an Einsicht vergeben, wenn man behauptete, dass nur wenige unter den schreibenden Frauen in Deutschland hier eine bessere Kraft und Kunst bewiesen haben.»

Ebenfalls überliefert ist, dass Thomas Mann sich noch Jahre später positiv an die Lektüre ihres Debütromans erinnerte, wie er Waldstetter bei einer persönlichen Begegnung in Paris mitteilte. Und über ihren Erzählband «Das Haus zum grossen Kefig» von 1912 wurde geschrieben, dass der Stil «[…] von geheimnisvoller, schöner Selbstverständlichkeit [zeuge]», er sei «reif und voll Zartheit und Kraft».

Neben diesen eindeutig positiven Stimmen spiegeln die Kritiken aber auch die traditionellen Werte und ästhetischen Parameter der damaligen Zeit wider.

Neben diesen eindeutig positiven Stimmen spiegeln die Kritiken aber auch die traditionellen Werte und ästhetischen Parameter der damaligen Zeit wider. So wird immer wieder teils in würdigender Absicht, teils auch unverhohlen verniedlichend auf Waldstetters Frausein und ihre spezifisch weiblichen Fähigkeiten Bezug genommen. Selbst ihr langjähriger Förderer und Vertrauter Otto Kleiber schrieb in seiner Rede zu ihrem 50. Geburtstag:

«Wir wissen, für was Sie litten und stritten – nicht in der robusteren Weise des Mannes, sondern auf dem verborgenen, stillen Weg der Frau – und wir danken Ihnen für dieses stete und unerschütterte Sein, für das erfüllte Werk, das Sinnbild Ihres Wesens und Wirkens.»

Auch die Theaterstücke ernteten vor allem gute Kritiken, ein Journalist des Berner Intelligenzblatts nahm seine Besprechung der Stücke «Der Künstler» und «Familie» im Mai 1919 jedoch zum Anlass, festzustellen, dass die Gattung der Dramatik eine «ganz unweibliche Kunst» sei, die keinerlei «Familiensentimentalität» erlaube. Neben der Betonung ihres Geschlechts wird auch immer wieder der Wert von Waldstetters Werk für das «heimische» Schrifttum hervorgehoben, etwa, wenn sie «in Reihe und Rang unserer besten heimischen Schriftstellerinnen gestellt» wird.

Etwas pathetisch-pastoral sind auch die persönlicheren Berichte über Waldstetter, etwa der anlässlich ihrer Trauerfeier in den Basler Nachrichten:

«Ihr lag nicht nur die Organisation der Selbsthilfe des Schriftsteller[s] auf gewerkschaftlicher Grundlage am Herzen, sondern auch die Vereinigung der Schriftsteller im Zeichen des Kampfes für Frieden und Geistesfreiheit. Ihr Dichten galt ja den aufbauenden Kräften, die den Menschen über die Konfli[c]kte der Gemeinschaft hinweg zu ihrer wahren Bestimmung führen sollten. Ihr Dienst am dichterischen Wort in Vers, Prosa und Schauspiel war Dienst am reinen Menschen.»

Was die Aufnahme ihrer Texte beim Publikum angeht, so zeigen die mehrfachen Auflagen einiger ihrer Prosawerke, dass diese bei Leser*innen beliebt und auch ökonomisch erfolgreich waren.

9. Wie kam es, dass Waldstetter vergessen wurde? Vielleicht hing es damit zusammen, dass sie 1952 einsam und in armen Verhältnissen starb, nachdem sie sich aus gesundheitlichen Gründen bereits länger aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte? Oder damit, dass zwar ihr Debüt beim renommierten S.Fischer-Verlag erschien, ihre späteren Prosawerke aber bei wechselnden Schweizer Kleinverlagen, sie also keine feste Verlagsheimat und keine stabilen Ansprechpersonen hatte? Dass einige ihrer ästhetischen Präferenzen, wie der Fokus auf das Seelenleben ihrer Figuren, nicht mehr dem Zeitgeist entsprachen? Dass das Kämpferische ihres Schreibens für die Nachwelt zu gedämpft klang? Dass sie als einzige Frau im Feld der Schweizer Dramatik immer wieder an den Rand gedrängt wurde und ihr Wirken zunehmend auf den regionalen Raum beschränkt blieb? Dass ihre Stimme auch im Feuilleton der Basler Nationalzeitung von den Stimmen grosser deutscher Exilautoren wie Thomas Mann und Erich Kästner übertönt wurde? Dass die Schweiz noch nicht bereit war, einer Schriftstellerin die gleiche ökonomische Unabhängigkeit zuzugestehen wie ihren männlichen Kollegen – so, wie die Schweiz bis 1971 nicht bereit war für das nationale Frauenstimmrecht?

Sicher ist, dass es auch heute […] schwierig bleibt, Ruth Waldstetter als Autorin wiederzuentdecken.

Das sind alles nur Hypothesen. Sicher ist, dass es auch heute, trotz der Würdigung durch das Porträt im Neuen Theater Dornach und die Ausstellung in der Universitäts-Bibliothek Basel, schwierig bleibt, Ruth Waldstetter als Autorin wiederzuentdecken – die wenigsten von uns werden sich die Mühe machen, ihre in Frakturschrift gedruckten Texte in Archiven aufzuspüren und sie eigenhändig zu entziffern.

10. Ruth Waldstetter erscheint, zumindest in der Rückschau, als eine ausgeprägte Einzelgängerin, über deren soziale Kontakte wenig bekannt ist. Belege für den Austausch oder die bestärkende Freundschaft mit anderen Schriftstellerinnen oder Vorkämpferinnen gibt es kaum. Eine der wenigen prägenden Bezugspersonen, von der wir wissen, war denn auch ein Mann, nämlich Otto Kleiber, der langjährige Chefredakteur der Basler Nationalzeitung, mit dem Waldstetter von 1920 bis Anfang der 50er-Jahre eine rege Korrespondenz pflegte und der sie immer wieder mit Aufträgen, Vorschüssen und Empfehlungsschreiben unterstützte. Zu ihrem 50. Geburtstag schrieb er eine Lobrede und bei Waldstetters Beerdigung sprach er gar die Abdankung.

Als Mitstreiterinnen im Geiste dürften dafür jene Autorinnen gelten, deren Werk Waldstetter kannte und schätzte: die klassizistische Autorin Madame de Sévigné (1626–1696) etwa, aber auch Sofja Andrejewna Tolstaja oder die Schweizer Autorinnen Johanna Spyri, Maria Waser, Elisabeth Müller, Lisa Wenger und Isabelle Kaiser, über deren Wirken sie in einer Rede nachdenkt, die sie 1921 am zweiten schweizerischen Kongress für Fraueninteressen in Bern hielt.

Und dennoch, obwohl sie sicher gerade an solchen Anlässen immer wieder bereichernde Begegnungen mit Gleichgesinnten hatte und ohne zu wissen, ob sie sich nach (weiblicher) Gesellschaft sehnte – ich hätte ihr mehr Gefährtinnen gewünscht, mehr weibliche Mitstreiterinnen in den Gremien, Zeitungsredaktionen und Theaterbetrieben, in denen sie einen Grosssteil ihrer Lebenszeit verbrachte, meist als einzige Frau unter lauter Männern.


Save the Date!

Buehne frei fuer Ruth Waldstetter!

Am Samstag, 17.05., um 19.30 Uhr, und Sonntag, 18. Mai, 18 Uhr, wird das Stück «Bühne frei für Ruth Waldstetter» am Neuen Theater Dornach wieder aufgeführt.

Mach mit!

10 Gruende, Frauen (wieder) neu zu lesen

Mit der Reihe «10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen» halten wir auf diesem Blog die Erinnerung an Autorinnen wach, wollen sie bekannt machen und gleichzeitig Bewusstsein schaffen für Geschlechterungleichheiten im Literaturbetrieb. Kennst auch DU eine Autorin, die dir viel bedeutet und an die du gerne erinnern möchtest? Hier erfährst du mehr.


Fussnoten

[1] Sabine Kubli, Doris Stump (Hg.): Viel Köpfe, viel Sinn. Texte von Autorinnen aus der deutschsprachigen Schweiz 1795-1945. eFeF Verlag, 1994, S. 176.

[2] Claudia Bapst, Ruth Büttikofer, Heidi Lauper: «Alles Töchter Johanna Spyris? – Schweizer Schriftstellerinnen von der Jahrhundertwende bis zur Geistigen Landesverteidigung» in: Elisabeth Ryter et al. (Hg.): Und schrieb und schrieb wie ein Tiger aus dem Busch. Über Schriftstellerinnen in der deutschsprachigen Schweiz, Limmat Verlag Zürich, 1994, S. 189.

Bild: Portrait von Ruth Waldstetter, auch bekannt als Martha Geering. Quelle: Universitätsbibliothek Basel, UBH Portr BS Geering M 1882, 1. Via Wikimedia Commons.