1. Als ich unter die Basler Schriftstellerinnen und Schriftsteller fiel, es muss Mitte der achtziger Jahre gewesen sein, sass zwischen ihnen auf dem Sofa auch Adelheid Duvanel. Sie sprach nicht, las nur, als sie an der Reihe war, ihren Text vor, und nach wenigen Sätzen hatte ich das Gefühl, unterzugehen. Da wusste ich noch nicht, dass ihre Texte immer mit der Tür ins Haus fallen. Eine bewährte Methode, um Häuser mit einem Satz undicht zu machen. Mir war keinerlei Zeit geblieben, nochmal tief Luft zu holen und davon zu laufen.
Die Kollegen und Kolleginnen kannten das schon, sie wussten von der Wucht ihrer Texte, lobten sie, sagten aber kein Sterbenswort von dem Schlag, der Plötzlichkeit, mit der sich mitten unter uns ein Abgrund geöffnet hatte, der nicht mehr zu beruhigen war: Eine Frau ging im Zickzack, verliess ihr Haus, verliess ihr Leben, und ich konnte nicht anders als mitzugehen. So gelangten wir zum Fluss, in dem sich die bunten Lichter einer Restaurantterrasse spiegelten, wo sich Menschen an einem Sommerabend des Lebens freuten. Bis heute stecke ich in dieser Geschichte, und wie sie mit ein paar kurzen, schnörkellosen Sätzen das atemlose Drama eines Lebens vergegenwärtigt. Ob die Frau sich nun wirklich das Leben nimmt, ist dabei nicht wichtig. Vielmehr steht sie noch immer am Fluss, von niemandem weiter beachtet, und sieht sich beim Vorbeitreiben zu.
1996 konnte ich Adelheid Duvanel an die Solothurner Literaturtage einladen. Es war eine fulminante Lesung, mit der sie die Anwesenden in Bann schlug. Und es war ihre letzte. Kurz darauf ist sie in einer frostkalten Julinacht in einem Wald bei Liestal erfroren.
2. Im Mai erscheint eine Gesamtausgabe ihrer Texte im Limmat Verlag. Endlich. «FERN VON HIER». Herausgegeben von Elsbeth Dangel-Pelloquin. Im Herbst werden Lukas Gloor und ich ein Heft der Literaturzeitschrift «Das Narr» herausgeben, das ihr und ihrer literarischen Wirkung gewidmet sein wird. Wir konnten viele junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller gewinnen, sich mit Duvanels Texten auseinander zu setzen. Viele von ihnen haben sich sehr über die Anfrage gefreut. Duvanel ist, wenn auch als Geheimtipp gehandelt, eine der eigenständigsten und stärksten Schriftstellerinnen, die uns bis heute direkt aus dem Geheimherz der Schweiz schreibt.
3. Immer am Rand der Ordnung, des Gelds, des Wohnens und der Arbeit. Ungesichert, mit einem schwierigen Künstlermann, einer drogensüchtigen Tochter, einer aidskranken Enkelin. In einem ihrer Texte steht: «Spuren meines Lebens nennen Vermieter Schäden.»
Doch was heisst das bei einer Schriftstellerin, die es in aller Randständigkeit gewagt hat, genau da ihre Zelte aufzuschlagen. Um uns von dort her etwas vom Unzerstörbaren zu erzählen.
Es sind trotz allem Schweren schwebende Texte, deren Figuren ein Dasein feiern, das gegen jede Erwartung dennoch lebt.
4. Das vertrackte und verwirrte Leben. Wenn der Satz stimmt, dass Ordnung nur das halbe Leben ist, dann gehören ihre Figuren zur anderen Hälfte. Bei ihnen ist nichts in Ordnung, ausser der Unordnung. Sie kommen aus dem Ungeschickten, sind Vergessene, Schwärmende, Liebende. Sie beharren auf ihren oft aberwitzigen Wünschen, gegen die keine Wirklichkeit ankommt. Ihr Blick auf uns ist schonungslos und ohne Anklage. Das macht sie so resistent. Es sind trotz allem Schweren schwebende Texte, deren Figuren ein Dasein feiern, das gegen jede Erwartung dennoch lebt.
5. Mut, Widerstand, Uneinnehmbarkeit, Humor. In Duvanels kurzen, kleinen Texten steht zu lesen, was es heisst, «mit der Unwirklichkeit in Feindschaft (zu) leben», wie Virginia Woolf schreibt. Ihre Figuren leben in einer Wirklichkeit, die sich ihnen längst zu Füssen geworfen hat. Zunächst mag scheinen, dass es umgekehrt wäre, doch Satz für Satz wird deutlich, dass die Wirklichkeit sich vor dem Eigensinn der Figuren, ihrem Beharren auf dem Recht, ein unwertes Leben zu leben, das eine ihrer Geschichten im Titel führt, ergibt.
So viel Verlorenheit, Abirrung, Einsamkeit und Beständigkeit kann keine Wirklichkeit widerstehen. Die Sprache Duvanels, ihre Prägnanz, ihre wunderbare Absurdität, die immer wieder hochauffahrenden Bilder zwischen Himmel, Bäumen, Gestirnen – das sind ihre Mittel, mit denen sie sich, die immer wieder drohte, sich nicht mehr bewegen zu können, ihren Weg ins Offene und zur Sprache bahnte. Bis hierher, bis zu uns, so erschütternd wie lebendig.
Ihre Texte der Vergeblichkeit sind auch – und vor allem –, Texte des Vergebens.
6. Nicht nur ihre Figuren, auch die Räume, in denen sie leben, dazu die Wolken, die Bäume, der Fluss gehören zu einem Terrain, das scheinbar gar nicht existiert, das nicht gesehen wird, von dem lieber nicht gesprochen wird. Duvanel versammelt all die, die nicht zählen, ausser den Schäden, die sie verursachen. All die, die weder beachtet, noch betrauert werden. Von denen erzählt sie mit Kühnheit und Ergebenheit zugleich. Nie verrät sie eine ihrer Figuren, sie verrät auch nie das Leben, das sich in jedem kleinsten Widersinn äussert. Ihre Sprache setzt den Erschrockenen wieder Herz, Hirn, Geist ein. Was sie erfasst, lebt. Gegen jede anders lautende Ignoranz, gegen jede Möglichkeit des Urteilens über anderes Leben. Ihre Texte der Vergeblichkeit sind auch – und vor allem –, Texte des Vergebens.
7. Duvanel veröffentlichte seit den sechziger Jahren in den Basler Nachrichten, später in Anthologien, Zeitschriften und kleinen Erzählbänden, ab 1980 bis zu ihrem Tod 1996 kontinuierlich im Luchterhand-Verlag. Sie hat den Kranichsteiner, den Basler und den Berner Literaturpreis bekommen. Nach ihrem Tod erschien noch ein Erzählband im Luchterhand Verlag. Jahre später kam bei Nagel und Kimche ein von Peter von Matt herausgegebener Erzählband heraus, der bis vor kurzem noch lieferbar war. Sie schrieb in den Zeiten, in denen auch Erica Pedretti, Margrit Baur, Catherine Colomb, Ilse Aichinger, Günther Eich, Jörg Steiner, Gerhard Meier, Hermann Burger gelesen, besprochen, gehört wurden. Zeiten, in denen eine andere Art von Literatur erscheinen konnte, die nicht scheute, für eine Minderheit zu schreiben, und es wagte, sich an der Grenze der Sprache aufs Spiel zu setzen.

8. Duvanel war und bleibt ein Geheimtipp. Sie gehört zu all den anderen, die auch Geheimtipps sind. Wie Catherine Colomb, wie Ilse Aichinger, wie Samuel Beckett, die wir namentlich eher kennen. Aber ihre Texte, was sie geschrieben haben, kennen wir kaum. Sonst sähe unsere Welt anders aus. Es ist heute sehr viel schwieriger geworden, als Geheimtipp lesbar zu bleiben.
9. Auf der Stelle könnte ich zehn Autorinnen nennen, die in den letzten dreissig Jahren entdeckt, bzw. wiederentdeckt wurden und dann wieder vergessen gingen. Es gibt neue Übersetzungen, neue Gesamtausgaben, sogar ein paar Artikel, Sendungen im Radio und dann sind sie wieder weg. Ich sage meinen Studierenden, sie sollen in die Antiquariate gehen, dort finden sie all die tollen Autorinnen, die uns immer wieder fehlen. Warum das so ist, weiss der Teufel.
10. Maja Beutler hat ihr viele Bilder abgekauft. Denn Duvanel hat auch gemalt und vom Verkauf ihrer Bilder gelebt. Viele sind jetzt in der Sammlung des Museums im Lagerhaus, St. Gallen. Ingeborg Kaiser war mit ihr befreundet und um sie besorgt. Matthias Jenny hat sie treu begleitet, ebenso der damalige Lektor des Luchterhand Verlags Klaus Siblewskie.
Na, und ich würde mal sagen, wir Jungen damals – Birgit Kempker, Ruth Schweikert, Aglaja Veteranyi, – haben sie gelesen, bewundert, studiert. Wir haben von ihr und ihrer Kunst gelernt, weniger Angst zu haben, aber immer noch genug. Sie war massgebend.
Mach mit!
«10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen»
Mit der Reihe «10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen» halten wir auf diesem Blog die Erinnerung an Autorinnen wach, wollen sie bekannt machen und gleichzeitig Bewusstsein schaffen für Geschlechterungleichheiten im Literaturbetrieb. Kennst auch DU eine Autorin, die dir viel bedeutet und an die du gerne erinnern möchtest? Hier erfährst du mehr.
Quellenangabe
Bild: Portrait von Adelheid Duvanel (Ausschnitt) © Yvonne Böhler.