Von Lea Schlenker. Dieser Text ist Teil der Reihe «10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen» im Rahmen von «Schreibweisen, Genres und die Verhältnisse der Geschlechter» von Art of Intervention.


Zum 1. Mai hatte meine Mutter mir zu Ehren einen Ball organisiert. Ich litt ganze Nächte lang. Bälle habe ich immer schon gehasst, vor allem solche, die man mir zu ehren gab»

1. Ich lese diese Zeilen zum ersten Mal in einem türkisfarbenen Heft, das Teil einer grösseren Sammlung ist, Penguins Collection, Autor*innen des 20. Jahrhunderts. Die Geschichte einer Debütantin, die keine Lust auf Partys hat, und deshalb mit einer Hyäne aus dem Zoo die Rollen tauscht, welche dann kurzerhand das Dienstmädchen verspeist.
Ich habe mich schon unzählige Male Hals über Kopf verliebt, sei es in einen Mann, ein Buch, eine köstliche Nachspeise, einen Ort oder ein*e Autor*in. Im Falle von Leonora erweist sich meine Verliebtheit als sehr beständig. Ich bin begeistert von dieser Autorin, die spätestens beim Morgenkaffee die Grenzen zwischen Fantasie und Realität durchbrochen hat und das in der Gesellschaft vorherrschende Bild des «Frauenromans» mit Füssen tritt.
Leonora schafft es, diesen für sie typischen Trotz und ihre Faszination am Unmöglichen durch all ihre Geschichten zu ziehen.

2.Wer sich die Lektüre von Carrington über die geläufigen Anbieter im Schweizer Buchhandel beschaffen möchte, stösst häufig auf Sätze wie «print on demand», «Exemplar wird für sie besorgt», «Lieferzeit unbekannt». Das sagt eigentlich schon alles. Wer Surrealismus und magischen Realismus möchte, bestellt sich Márquez und Murakami.
Carrington schrieb aber nicht nur, sie malte auch. Wer einen visuellen Zugang zu ihrer Literatur sucht, dem kann ich nur empfehlen, mal einige Malereien von ihr zu studieren. Allerdings wird ihr künstlerisches Schaffen nach wie vor oft in einem Atemzug mit ihrer Beziehung zu Max Ernst erwähnt. Das ist in der Kunstszene übrigens keine Seltenheit – man denke nur an die talentierte Lee Krasner, die jahrelang im Schatten ihres berühmten Gatten Jackson Pollock stand. Als wäre das Genie talentierter Frauen von ihren Männern abhängig!

3. Leonora Carrington kommt 1917 als Tochter einer gutbürgerlichen Familie in England auf die Welt. Aufgewachsen mit drei Brüdern macht sie sich schon im jungen Alter immer wieder in ihre Fantasiewelt auf, träumt von Geistern im Anwesen ihrer Eltern und von Salat, der zum Leben erwacht. Sie wird aus zwei katholischen Internaten verwiesen, da sie laut Angaben der Schulen weder dazu in der Lage war, zu lernen noch mit anderen zu spielen. Sie selbst sagte: «I think I was mainly expelled for not collaborating». Ihre Jugend ist geprägt von Auseinandersetzungen mit ihrem Vater (der aus ihr eine Debütantin machen will) und der Malerei. Später studiert sie Kunst und lernt in Paris den Künstler Max Ernst kennen. 1939 wird dieser in Frankreich inhaftiert, was bei Carrington einen Nervenzusammenbruch verursacht und zu einem Aufenthalt in einer Heilanstalt führt. Sie zieht 1942 nach Mexiko und lebt dort bis zu ihrem Tod im Jahr 2011.

4. Ich bin vor allem mit Carringtons Kurzgeschichten vertraut, eines meiner liebsten Bücher seit langer Zeit ist «Das Haus der Angst». In diesem Band finden sich zahlreiche Erzählungen, darunter auch «Die Debütantin». Zudem lesenswert sind die literarischen Verarbeitungen ihres Aufenthalts in der Heilanstalt in Madrid, am Beispiel von «Unten» oder «Das Hörrohr».

5. Während ihres Aufenthalts in Paris wurde sie Teil der Surrealismus-Bewegung. Der Surrealismus entstand ausgehend von der Dada-Bewegung in Paris und beeinflusste längst nicht nur die Malerei. Ob in der Kunst, im Film, in der Mode oder Literatur: wo es Grenzen zu verschieben gab, war der Surrealismus nicht weit. Zur Bewegung zählten bekannte Figuren wie Dalí, Breton, Miró und auch Ernst und Carrington. Viele weibliche Künstlerinnen versanken zu dieser Zeit aber aufgrund der männlich dominierten Kulturszene schnell wieder in der Vergessenheit. Frauen erfüllten primär die Funktion einer Muse, die den Künstler mit ihren Reizen immer wieder aufs Neue inspirieren sollte. Carrington verweigerte sich dieser Rolle und fand in dieser Männerdomäne ihren eigenen künstlerischen Stil.  

6. Carrington widersprach bereits in jungen Jahren altbackenen Traditionen. Sie weigerte sich, einen Ehemann zu finden, sich heiraten zu lassen und den wohlhabenden Lebensstil ihrer Familie weiterzuführen. Sie stritt sich mit ihrem konservativen Vater, war Surrealistin, liebte einen über zwei Jahrzehnte älteren, verheirateten Mann und heiratete selbst zweimal. Carringtons Lebenswerk ist mit einer solchen Kompromisslosigkeit feministisch, dass es auch heute noch vielen Frauen als Inspiration dienen kann/darf/soll. Sie war zudem Mitbegründerin der feministischen Bewegung im Mexiko der 70er-Jahre.

7. 1947 erlangte die Autorin eine hohe Bekanntheit, als sie als einzige Malerin an der surrealistischen Ausstellung in der Galerie Pierre Matisse teilnahm. Es folgten weitere Ausstellungen. Ihre literarischen Werke stehen heute noch teilweise im Schatten ihrer Kunstwerke. Seit einigen Jahren werden ihre Bücher zwar als Klassiker wieder neu entdeckt, allerdings lässt sich über ihre Bekanntheit streiten. Auf Wikipedia-Ranglisten der Vertreter*innen ihres Genres sucht man sie weiterhin vergeblich. 

8. In Carringtons Werken prallen Fantasie und Realität schonungslos aufeinander. Somit entsteht in ihrer Arbeit eine schier grenzenlose Vielfalt an Geschichten und Erzählungen. Ich finde das wunderbar. Dennoch findet ihr künstlerisches Eigenleben immer wieder den Weg zurück in ihren Alltag. Den Frust über die von ihr erwartete Rolle in der Gesellschaft und den Hass auf ihr Dienstmädchen verwandelt sie kurzerhand in eine Geschichte über eine sprechende Hyäne. Aus ihrer heimlichen und unerwarteten Einweisung in eine Anstalt – Leonora glaubte, sie würde kurz mit ihrem Arzt für einen Spaziergang das Haus verlassen – wird eine Geschichte über eine Frau, die den Vorfall mithilfe eines magischen Hörrohrs schon im Vorhinein mitbekommt. Dabei schreibt sie stets mit einer klaren Sprache, ohne jemals den Fokus auf das Wesentliche zu verlieren.

9. Carrington verbrachte einen grossen Teil ihres Lebens zurückgezogen in Mexiko, malte viel, redete angeblich öfter mit ihrem Hund als mit ihrem ersten Ehemann und zog ihre Kinder gross. Sie schloss neue Freundschaften, insbesondere mit eingewanderten Europäer*innen, die vor dem Krieg fliehen mussten. Ob sie Heimweh hatte? Zu ihrem öffentlichen Auftreten machte sie sich keine grossen Gedanken – alles was sie wollte war zu schreiben und zu malen.

10. Surrealistische Künstlerinnen sind zwar deutlich untervertreten, aber es gibt sie. Ein bekanntes Beispiel hier: Meret Oppenheim und ihre pelzige Kaffeetasse. Was Leonora für weibliche Vorbilder in der Literatur hatte, ist mir nicht bekannt. Grosse literarische Namen des 20. Jahrhunderts sind unter anderem Dorothy Parker, Luce D’Eramo, Sylvia Plath oder Virginia Woolf. Wirkliche Parallelen zu einer anderen Autorin konnte ich aber nie ziehen, was mich aber nicht gross überrascht. Carrington lebte kompromisslos in ihrer eigenen Welt, was zu ihrem eigenen unverkennbaren Stil führte.

Lea Schlenker ist Autorin und Dichterin. 2020 erschien ihr erster Gedichtband «Eine Auswahl an Fluchtmöglichkeiten». Ihre Texte wurden in mehreren Sprachen und in verschiedenen Literaturzeitschriften publiziert. Nebst dem Schreiben engagiert sie sich politisch in Bezug auf Umwelt-, Gleichstellungs- und Bildungsthemen.

«10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen»

Warum werden runde Geburtstage von Frauen so oft vergessen? Und warum werden diese Jubiläen, wenn überhaupt im bescheidenen Rahmen begangen, von der Öffentlichkeit kaum bemerkt?
Wie kommt es, dass Schriftstellerinnen vergessen werden? Dass ihre Bücher nicht mehr in den Buchhandlungen aufliegen? Dass ihre Stimmen aus dem Feuilleton verschwinden?
Es ist nicht wahr, dass es früher keine schreibenden Frauen gab, und es waren auch nicht wenige, wie die feministische Literaturwissenschaft seit Jahrzehnten zu zeigen nicht müde wird. Aber wie lässt sich der Zirkel des Vergessens und «Wiederfindens» durchbrechen?

Bis heute werden Bücher von Frauen seltener und deutlich kürzer besprochen, erhalten Frauen weniger Vorschuss für die nächste Neuerscheinung als Männer. Und das, obwohl die gesamte Kette des Literaturbetriebs von der Verlegerin über die Buchhändlerin bis hin zur Leserin vorwiegend weiblich ist.
Diese Mechanismen entbehren jeglicher Logik. Und sie zu durchbrechen, kostet viel Mühe und Arbeit – auch viel unbezahlte Arbeit, die zumeist von Frauen geleistet wird.

Mit der Reihe «10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen» wollen wir uns auf diesem Blog an Autorinnen erinnern, sie bekannt machen und Bewusstsein schaffen für Geschlechter-ungleichheiten im Literaturbetrieb. Dafür haben wir verschiedene Autor*innen, Akademiker*innen und Künstler*innen eingeladen, über eine Autorin zu schreiben, die ihnen viel bedeutet. Kennst auch DU eine Autorin, die dir viel bedeutet und an die du gerne erinnern möchtest? Hier findest du eine Anleitung (PDF). Bei Fragen schreib uns hier: info@theartofintervention.blog

Bild: Ausschnitt einer Fotografie eines Portraits von Leonora Carrington, fotografiert 2021 für das Kulturdepartement von Mexiko Stadt von Tania Victoria im Haus der Künstlerin. Quelle: Wikimedia Commons, lizenziert unter CC BY 2.0.