Von Gabriel Anwander. Dieser Text ist Teil der Reihe «10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen» im Rahmen von «Schreibweisen, Genres und die Verhältnisse der Geschlechter» von Art of Intervention.
1. Beim Lesen des Buches «Die schönsten Gedichte der Schweiz» (2002) bin ich auf den Namen Regina Ullmann aufmerksam geworden. Auf Seite 60 steht ein Gedicht, das beginnt mit der Zeile: «Im Mohnfeld zur Gewitterszeit.» Was dann folgt, hat mich ergriffen und nicht mehr losgelassen.
2. Regina Ullmann, der Name sagte mir nichts, also machte ich mich auf die Suche. Anfangs war ich überrascht, doch je mehr ich über diese Autorin herausfand, desto fassungsloser wurde ich. Wie kann jemand wie sie derart in Vergessenheit geraten?
3. Regina Ullmann kam 1884 als Tochter deutsch-jüdischer Eltern in St. Gallen zur Welt. Sie sei ein schwerfälliges Kind gewesen, heisst es, und gleichzeitig übersensibel. Zudem litt sie unter einem Sehfehler. Aus diesen Gründen wurde sie erst spät eingeschult. Ihr Vater verstarb früh, ihre Mutter zog mit beiden Töchtern nach München. Im Alter von 23 brachte Regina Ullmann ihr erstes Buch heraus, kurz darauf einen Gedichtband. In dieser Zeit brachte sie auch zwei Kinder zur Welt. Weil keiner der beiden Väter zu ihr stand und ihre Texte kaum etwas einbrachten, sah sie sich gezwungen, ihre beiden Kinder in die Obhut von Pflegeltern zu geben und nebenbei zu arbeiten. 1936 musste sie aus Deutschland fliehen und kehrte auf Umwegen nach St. Gallen zurück. Dort lebte sie bis kurz vor ihrem Tod 1961 in einem katholischen Pflegeheim.
4. Regina Ullmann hinterliess ein schmales Werk: rund 70 Erzählungen, zwei Gedichtbände und eine schöne Zahl von Briefen. Sie arbeitete lange an einem Roman, konnte ihn jedoch nicht vollenden.
5. In Deutschland wurden ihre Texte von anerkannten Grössen wie Thomas Mann, Arthur Schnitzler, Robert Musil und Hermann Hesse kommentiert und gelobt. Hesse schrieb beispielsweise:
«In diesen Erzählungen ist alles das erreicht, wonach die falschen Volks- und Heimatdichter so sehr streben. Es duftet nach Brot und Honig, […] nach Stall und nach Volk; es wird von kleinen Leuten und Kindern erzählt, und alles ist voll Geheimnis.»
Und Rainer Maria Rilke bezeichnete Regina Ullmanns Erzählung «Von einem alten Wirtshausschild» (1949), als eine der Meisterwerke deutscher Erzählung überhaupt.

6. Regina Ullmann enttäuschte ihren Freundeskreis nicht. Sie schrieb angeblich langsam, rang mit sich um jedes Wort, folgte mehr der spontanen Intuition als einer Stilfibel und erreichte gerade dadurch eine ausdruckstarke, weltliterarische Stilhöhe. In erstaunlich vielen Texten ist von benachteiligten Personen die Rede, von Frauen, Kindern und alten Menschen, von Geschöpfen, denen sich Regina Ullmann wahrscheinlich wegen ihres eigenen schweren Lebens stets verbunden fühlte.
7. Erst nach dem Krieg erfuhr Regina Ullmann formelle Anerkennung als Schriftstellerin. Sie wurde 1949 in die Bayerische Akademie der Schönen Künste aufgenommen; wenig später erschien in einem Band der Schweizer Büchergilde Gutenberg über Schweizer Dichterinnen ein Beitrag zu ihr und ihrem Werk; und 1954 erfolgte ein Eintrag im «Lexikon der Frau» (1953/54). Die Stadt St. Gallen verlieh ihr im selben Jahr den Kulturpreis und im Jahre 1955 wurde sie in die «Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung» aufgenommen.
8. Regina Ullmanns Debüt «Die Feldpredigt» (1907) handelt von einer Bauernfamilie, deren Sohn gelähmt ist. Die Mutter und die Grossmutter lieben ihn, der Vater hält ihn für unnütz und schmäht ihn. Eines Morgens liegt der Sohn tot auf dem Feld. Er hat versucht, den Boden mit blossen Händen zu bestellen. Rainer Maria Rilke war von Regina Ullmanns Debüt derart begeistert, dass er sie fortan nach allen Kräften unterstützte.
9. Warum die Autorin in Vergessenheit geriet? Ich kann mich nicht erinnern, in einem Schulbuch ein Gedicht oder eine Geschichte von ihr gelesen zu haben, dabei sind ihre Texte wie gemacht dafür. Sie sind weder seicht noch grell oder überkonstruiert, sie sind dicht und detailgetreu und verlangen beim Lesen ungeteilte Aufmerksamkeit.
10. Adelheid Duvanel, habe ich irgendwo gelesen, sei in vielem wie eine Nachfahrin von Regina Ullmanns Prosa. Das dünkt mich stimmig, und zwar für beide.
Literatur
Regina Ullmann. Ich bin den Umweg statt den Weg gegangen; Ein Lesebuch. Reprinted by Huber.
Regina Ullmann. Die Landstrasse; Erzählungen. Kollektion Nagel & Kimche.
Peter von Matt, Dirk Vaihinger (Hg.). Die schönsten Gedichte der Schweiz. Verlag Nagel & Kimche.
Regina Ullmann. Ausgewählte Erzählungen. Bibliothek Suhrkamp. (Vergriffen)
Gabriel Anwander: In der Ostschweiz geboren und aufgewachsen. Hat nach der Fachhochschule Agronomie in verschiedenen Berufen in St. Gallen, Kanada, Indien, Kamerun und Bern gearbeitet. Heute lebt er in Langnau im Emmental und schreibt am fünften Kriminalroman. Hier geht es zu seiner website.
«10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen»
Warum werden runde Geburtstage von Frauen so oft vergessen? Und warum werden diese Jubiläen, wenn überhaupt im bescheidenen Rahmen begangen, von der Öffentlichkeit kaum bemerkt?
Wie kommt es, dass Schriftstellerinnen vergessen werden? Dass ihre Bücher nicht mehr in den Buchhandlungen aufliegen? Dass ihre Stimmen aus dem Feuilleton verschwinden?
Es ist nicht wahr, dass es früher keine schreibenden Frauen gab, und es waren auch nicht wenige, wie die feministische Literaturwissenschaft seit Jahrzehnten zu zeigen nicht müde wird. Aber wie lässt sich der Zirkel des Vergessens und «Wiederfindens» durchbrechen?
Bis heute werden Bücher von Frauen seltener und deutlich kürzer besprochen, erhalten Frauen weniger Vorschuss für die nächste Neuerscheinung als Männer. Und das, obwohl die gesamte Kette des Literaturbetriebs von der Verlegerin über die Buchhändlerin bis hin zur Leserin vorwiegend weiblich ist.
Diese Mechanismen entbehren jeglicher Logik. Und sie zu durchbrechen, kostet viel Mühe und Arbeit – auch viel unbezahlte Arbeit, die zumeist von Frauen geleistet wird.
Mit der Reihe «10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen» wollen wir uns auf diesem Blog an Autorinnen erinnern, sie bekannt machen und Bewusstsein schaffen für Geschlechter-ungleichheiten im Literaturbetrieb. Dafür haben wir verschiedene Autor*innen, Akademiker*innen und Künstler*innen eingeladen, über eine Autorin zu schreiben, die ihnen viel bedeutet. Kennst auch DU eine Autorin, die dir viel bedeutet und an die du gerne erinnern möchtest? Hier findest du eine Anleitung (PDF). Bei Fragen schreib uns hier: info@theartofintervention.blog
Bild: Die St. Galler Dichterin Regina Ullmann, aufgenommen am 10. Dezember 1944, ein paar Tage vor ihrem 60. Geburtstag. Quelle: Keystone / Photopress-Archiv / Grunder.