Barbie, you’re beautiful

,

veröffentlicht am

Von Charu Kashamkattil. Dieser Beitrag ist Teil der Serie «Barbie».


Trigger-Warnung
In diesem Text werden folgende Themen verhandelt: Bullying, Body Shaming, Rassismus, Depression, Suizid. Sollten Sie oder eine Person, die Sie kennen, Hilfe brauchen, können Sie sich an folgende Instanzen wenden:
Dargebotene Hand (für Erwachsene) und Pro Juventute (für Kinder und Jugendliche).



Barbie, you’re beautiful.
Someday, I’m gonna be exactly like you.
‹Till then I know just what I’ll do:
Barbie, beautiful Barbie,
I’ll make believe that I am you

Nach einem TV Werbesong von Mattel, 1959


„Hallooo, guten Morgen“, ruft meine Mutter. Ich öffne meine Augen. Es ist so hell. Mühsam blinzle ich, doch alles ist verschwommen. Ich schliesse die Augen wieder.

„Aufsteheeeen“, höre ich wieder. Nein, ich möchte nicht aufstehen. Ich möchte weiterschlafen, nur noch fünf Minuten. Zwei Hände fassen mich an den Schultern, und alles beginnt zu ruckeln. Widerwillig öffne ich meine Augen erneut. Dieses Mal ist es etwas einfacher. Verschlafen reibe ich mir die Augen, um besser sehen zu können. Und da sehe ich sie schon: Die schönste Frau der Welt, meine Mami, mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht. Verschlafen lasse ich mich in ihre Arme fallen und rieche meinen Lieblingsduft – den Geruch meiner Mami. Es gibt nichts Besseres. Nicht einmal Popcorn riecht so gut. Aber lange kann ich den Geruch nicht geniessen.

„Komm schon, lass uns gehen, ab in die Schule mit dir.“

Ah, Schule. Schon allein der Gedanke daran lässt alles in mir zusammenziehen. Ich habe keine Lust, ich habe keine Kraft. In der Schule fühle ich mich nicht wohl. Aber wie soll ich das meiner Mutter erklären? Nein, das kann ich nicht.

Während ich über den Pausenhof zur schweren Eingangstüre laufe, versuche ich, so unsichtbar wie möglich zu sein. Wenn meine Mütze möglichst tief im Gesicht sitzt, erkennt mich vielleicht niemand, vielleicht auch nicht die Gruppe von Leuten, auf die ich jetzt zulaufe. Vielleicht, wenn ich ganz ruhig bin, dann bemerken sie mich nicht.

Als ich jemanden meinen Namen schreien höre, bleibt mein Herz stehen. „Nein, bitte nicht“, denke ich mir noch. Doch es ist zu spät, alle Kinder auf dem Pausenhof starren zu mir. Ich versuche, meine Tränen nicht herunterlaufen zu lassen, als Jenny mit einem bösen Lächeln auf mich zukommt und mir die Mütze vom Kopf reisst. Angewidert schaut sie die Mütze an und fragt mich, ob ich diese im Abfall gefunden hätte. Das macht mir sehr weh.

Mein Vater hatte mir die Mütze vor ein paar Tagen gekauft, weil ich nicht mehr die alte meiner Schwester anziehen wollte. Grinsend gab er mir die Mütze und betonte, dass er extra die blaue aussuchte, weil es meine Lieblingsfarbe ist. Das hat mich sehr glücklich gemacht, auch wenn ich innerlich etwas Angst hatte, dass sich jemand darüber lustig macht, weil sie nicht so aussieht wie die Mützen von anderen.

Jetzt, wo Jenny vor mir steht und so über meine Mütze redet, habe ich keine Angst. Ich bin wütend. Ich spüre, wie mein Gesicht heiss wird. „Mein Vater hat die extra für mich gekauft. Lass mich, gib mir meine Mütze wieder.“ Zwei Sekunden lang sehe ich Verwirrung auf Jennys Gesicht. Ja, das habe ich gut gemacht, ich lasse mich nicht kleinkriegen. Es scheint funktioniert zu haben, denn Jenny streckt die Mütze in meine Richtung. Ich bin erleichtert. Vielleicht wird heute ein weniger schlimmer Tag als sonst. Doch als ich nach der Mütze greifen will, schmeisst Jenny sie auf den Boden und sagt: „Hier hast du deine grusige Mütze“ und zieht ab.

Was würde ich nicht alles dafür tun, um in diesem Moment einfach unsichtbar zu werden? Ich wünschte, ich könnte mich irgendwo hinbeamen, wie sie es in „Charmed“ tun, aber es gibt keinen Ort, an den ich mich hinbeamen kann. Denn egal wo ich bin, ich verändere mich leider nicht.

Wieder zuhause gehe ich auf die Toilette. Als ich meine Hände wasche, muss ich mich im Spiegel sehen. Ich hasse, was ich sehe. Meine Mutter hat recht, ich war die letzten Tage zu viel an der Sonne. Ich hätte besser aufpassen müssen, das hab’ ich nun davon. Ich bin noch schwärzer geworden. Mein Vater hat recht, ich hätte gestern nicht so viel Schokolade essen sollen. Das hab’ ich nun davon, ich werde immer fetter. Kein Wunder, machen sich die anderen über mich lustig. Ich bin ja selbst schuld, wenn ich mich so dumm verhalte.

Mir kommt das Gesicht von Emma in den Kopf. Wie gerne wäre ich mehr wie Emma. Sie hat so schöne blaue Augen, ihre braunen Haare hat sie immer in Zöpfchen gebunden. So schwierig kann das doch nicht sein, ich kann das auch versuchen. Einfach eine Strähne nehmen, dann die zweite, dann die dritte. Na, geht doch. Meine Arme tun weh vom Zöpfeln, aber bald habe ich es geschafft. Als ich in den Spiegel schaue, hat sich nicht viel verändert, ausser dass nun ein Vogelnest auf meinem Kopf ist. „Wieso funktioniert das bei mir nicht?“ Es kann doch nicht so schwer sein, sie macht das doch jeden Morgen. Wütend reisse ich an meinen Haaren herum, bis sich alle Zöpfe gelöst haben. Es geht nicht. Meine Haare sind zu dunkel und starr. Es geht nicht, ich werde nie wie Emma sein.

Endlich kann ich etwas ausruhen und Fernsehen. Ich freue mich sehr, denn heute läuft wieder mal „Barbie Mariposa“, mein Lieblingsbarbiefilm. Ich wäre gerne wie Elina, denn Elina ist eine Schmetterlingsfee, die in einer Blume wohnt. Bibble ist immer mit Elina. Ich hätte auch gerne einen Bibble, der mich immer begleitet und für mich da wäre. Elina ist mein Vorbild. Sie ist schön, sie kann gut singen und sie ist sehr lieb. Am Schluss schafft sie es, alle zu retten, weil sie so stark und mutig ist. Mögen deshalb alle Elina so gerne? Ich möchte das auch.

„Haaaappy Birthday to youuu! Happy birthday to you…“ Ich weiss gar nicht, wie ich mich verhalten soll. Das ist mir echt mega peinlich. Nachdem der Kuchen an alle verteilt wurde, bringen mir meine Eltern ein Geschenk. Als ich das blau-rot gepunktete Geschenkpapier ein Stück aufreisse, sehe ich schon, was es ist. „NEIN, wirklich?“ Hinter dem glänzenden Plastik sehe ich, wie mich Elina anlächelt. Ich freue mich, aber gleichzeitig überkommt mich ein unglaublich schlechtes Gewissen. Wir haben doch eh nicht viel Geld. Eine Barbiepuppe ist sehr teuer, das weiss ich. Meine armen Eltern. Sie arbeiten so hart, nur für mich.

Obwohl wir nicht viel Geld haben, wollen sie mich glücklich machen mit dieser Barbie. Ich möchte ganz vorsichtig sein, ich möchte die teure Barbie nicht kaputt machen. Sie ist nun mein allergrösster Schatz. Glücklich drücke ich Elina an meine Brust und umarme sie. Als ich später schlafen gehe, setze ich Elina auf meinen Schreibtisch, direkt am Kopfende meines Bettes. Ab heute wird sich alles ändern, ich kann so stark sein wie Elina. Eines Tages werde ich genau wie du sein. Bis dahin weiss ich genau, was ich tue: Elina, schöne Elina, ich glaube einfach daran, dass ich du bin.

Ich kann nicht mehr. Wohin mit diesen Gefühlen? Ich habe das Gefühl, dass meine Brust gleich platzt. Ich packe mir ein Kissen und schreie hinein. War das zu laut? Ich weiss es nicht, aber alles in meinem Kopf ist zu laut. Ich habe es versucht, ich wollte es. Ich werde aber nie wie Elina sein. Ich werde nie dazugehören. Kein Junge wird je mit mir gehen wollen. Niemand will mit mir befreundet sein. Ich hasse es. Ich hasse mich. Ich hasse es, dass meine Haut immer dunkler wird. Gestern hat mich Flurin gefragt, warum die Haut hinten an meinem Hals so dunkel ist. Ich weiss nicht, was er meint. Er sagt mir, dass ich mich dort hinten zu wenig wasche.

Mit dem Rücken gegen den Spiegel drehe ich meinen Kopf so lang, bis ich meinen Hals sehe. Ich weiss nun, was Flurin meint, es ist wirklich fast schwarz dort. Ich ekle mich vor mir selber. In der Dusche schrubbe ich die Stelle immer und immer wieder mit Seife ein. Es scheint etwas besser zu werden, aber ganz weg geht es nicht. Da sehe ich das Ding daliegen, mit dem meine Eltern ihre Hornhaut entfernen. Das sollte doch sicherlich helfen, den Dreck zu entfernen. Während das heisse Wasser meinen Körper runterfliesst, schrubbe ich so stark es geht den Dreck weg.

Meine Gedanken schweifen zu Rocco. Ich mag Rocco sehr gerne. Rocco sitzt neben mir und ist nett zu mir. Er hat mich noch nie beleidigt. Als mich Rocco aber fragte, woher ich komme und ich „Inderin“ sagte, musste er sehr lachen und fragte mich: „Du bist eine Indianerin? Tanzt du in Unterhose um das Feuer herum?“ Ich wünschte mir, dass es niemand gehört hätte, aber die ganze Klasse lachte mit ihm mit. Ich wollte sagen, dass ich keine Indianerin bin, ich bin Inderin. Wir tanzen nicht um das Feuer herum und meiner Familie ist es sehr wichtig, so wenig Haut wie möglich zu zeigen. Ich bin nicht so, aber wer würde mir zuhören? Das Lachen der Klasse hallt mir noch in den Ohren, als ich die Augen öffne und das Blut sehe, das an mir heruntertropft. Erschrocken schaue ich meinen Hals an, doch beruhige mich wieder, als ich sehe, dass er nicht mehr so schwarz ist.

„Es geht, ich kann es schaffen“, sage ich mir. Emma hat mir den Tipp gegeben, Zitronensaft in die Haare zu tun und an die Sonne zu gehen. Das macht die Haare heller. Wenn ich etwas älter bin, kann ich zu Eye Zone und mir Kontaktlinsen kaufen, dann habe ich auch endlich blaue Augen. Es wird alles besser.

„Was ist mit deinem Hals los? Hast du die Krätze?“ Schnell ziehe ich meinen Schal höher. Mein Hals ist nicht heller geworden, nun sind da dicke rote Schwellungen. Ich will erklären, was passiert ist, aber da stehen schon alle um mich herum und schauen entsetzt meinen Hals an. „Sie hat die Krätze! Rennt weg!“ Sie alle rennen weg vor mir. So ist es nun mal, mein Leben.

In der Pause bleibe ich lieber im Klo, da muss niemand vor mir wegrennen. Im Spiegel über dem Brunnen sehe ich, dass der Zitronensaft nichts gebracht hat. Meine Haare sind genauso schwarz wie vorher.

Diese Welt ist nicht für mich. Nein, ich bin nicht für diese Welt. Ich werde niemals wie Elina sein. Ich werde niemals genug sein, nicht, solange ich in diesem Körper stecke. Egal wie sehr ich es will, ich kann es nicht ändern. Wütend nehme ich Elina in die Hand und schneide ihre langen blonden Haare ab. „Nein, was hab’ ich nur getan?“

Ich bin wirklich ein Monster, ich habe Elina wehgetan. Meine Eltern werden so wütend sein, wenn sie die teure kaputte Barbie sehen. Kein Wunder, dass die Kinder in meiner Klasse Angst vor mir haben. Das will ich nicht. Ich weiss nicht, wie lange ich meine Tränen zuhause noch verstecken kann. Ich will meine armen Eltern nicht noch mehr belasten. Sie können nichts dafür, dass ich so herausgekommen bin. Diese Welt muss besser sein, wenn ich nicht mehr da bin. Vielleicht wache ich in einer Welt auf, in der Elina so aussieht wie ich.



Charu Kashamkattil liebt es, in die Lebenswelten anderer einzutauchen und sich von der reichen Vielfalt menschlicher Innenwelten und gelebten Geschichten inspirieren zu lassen. 


Bild: Foto von Crystal Lee auf Unsplash.