Das Schweigen sprechen lassen

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Von Eleonora Wicki


Die Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz im Jahr 1971 wird damals wie heute theoretisch und medial kaum besprochen. Auch im Schulunterricht erfahren Jugendliche in der Schweiz nicht viel mehr darüber, als dass es – im internationalen Vergleich peinlicherweise etwas spät, aber doch noch – eingeführt wurde. Diesem Schweigen hält der Band «Revisioning Democracy and Women’s Suffrage: Critical Feminist Interventions» (Hrsg. Katrin Meyer, Stephanie Pfenninger Tuchschmid, Yunna Skliarova) ein vielstimmiges feministisches Archiv entgegen. Um das Schweigen zu brechen, so wird an der gutbesuchten Vernissage klar, gilt es nicht nur, zu sprechen, sondern auch, gehört zu werden.

An diesem Donnerstagabend Ende Oktober 2024, in der übervollen Buchhandlung Paranoia im Zürcher Kreis 4, wird aktiv erinnert und dabei die Demokratie aus feministischer Perspektive revisioniert. Es ist eine Revision im Sinne einer Überarbeitung: Was ist überhaupt Demokratie, wie wird sie gelebt, wie wird sie erinnert? Eine Revision auch im Sinne einer Überprüfung: Wie demokratisch ist die heutige Demokratie in der Schweiz, wie demokratisch sind Demokratien weltweit? Und eine Revision im Sinne einer Re-vision: Visionär werden neue Arten, Demokratie konzeptuell zu denken, präsentiert und diskutiert.

Hegemoniales Schweigen

Auf die Frage, ob mein bereits verstorbener Grossvater 1971 für oder gegen das Frauenstimmrecht stimmte, antwortete meine Grossmutter vor einigen Jahren: «Das weissi doch nüm.» Diese Antwort entmutigte mich. Hatte meiner Grossmutter diese historische Abstimmung über ihr eigenes demokratisches Teilhaberecht so wenig bedeutet? Oder hatte sie vielleicht versucht, mich vor der Wahrheit zu schützen, dass mein Grossvater dagegen gestimmt hatte? Ihre Antwort sagte mir nur eins, nämlich, dass die Frage aus ihrer Sicht erledigt war. Auf das Schweigen meiner Grossmutter wiederum gab es bloss eine mögliche Reaktion: Ich schwieg.

Das Schweigen über 1971 ist, wie an der Vernissage zum Band «Revisioning Democracy and Women’s Suffrage: Critical Feminist Interventions»deutlich wird, keine individuelle Angelegenheit. Das Schweigen über 1971 hat vielmehr System. Eine der Herausgeberinnen des Bandes, Katrin Meyer, bezeichnet das Schweigen über 1971 als «hegemonic silence» (auf Deutsch «hegemoniales Schweigen»). Das Schweigen in Bezug auf die Rechte von Frauen in der westlichen Politik sei immer ein hegemoniales Schweigen: Indem nicht über die Rechte von Frauen gesprochen würde, werde eine stille Übereinkunft in Bezug auf geschlechtliche Machtverhältnisse und Geschlechternormen aufrechterhalten.[1]

So wird deutlich, dass dieses Schweigen als eine aktive Entscheidung zu verstehen ist.

Viele der Beiträge im Band nutzen das Konzept «hegemonic silence» produktiv, um die Folgen des Schweigens rund um die Einführung des Stimmrechts für Frauen in der Schweiz zu beleuchten. Patricia Purtschert erläutert anhand des 1980 erschienen Films «Cinéjournal au féminin», dass Feministinnen bereits damals dokumentierten, wie die Einführung des Frauenstimmrechts in den Medien übergangen wurde. So wird deutlich, dass dieses Schweigen als eine aktive Entscheidung zu verstehen ist.

Pauline Milan zufolge macht das dominante Narrativ, welches die Einführung des Frauenstimmrechts mit dem Sieg der Demokratie gleichsetzt, die zeitgleiche Erstarkung sowohl antifeministischer als auch xenophober Bewegungen unsichtbar. Beat Ospelt zeigt am Beispiel Liechtensteins, dass die Kämpfe für das Frauenstimmrecht auch mit xenophoben Argumenten verbunden wurden. Zudem sind die Konzepte des «citoyens» und der Demokratie an sich androzentrisch geblieben, wie Zoé Kergomard verdeutlicht, was die Partizipation von Frauen sowohl als Bürgerinnen wie als Politikerinnen auch nach 1971 erschwert.

Erinnern als Intervention

Ob und wie etwas erinnert wird, daran erinnert der Band, ist politisch. Der Sammelband setzt dem aktiven Schweigen ein aktives Erinnern entgegen: Er sammelt verschiedene Stimmen, die das feministische Archiv zum (Schweizer) Frauenstimmrecht erweitern. Damit interpretieren sie nicht nur die Vergangenheit neu, sondern geben auch Aufschluss über heutige Demokratien, ihre Ein- und Ausschlussmechanismen, Partizipationsmöglichkeiten und über feministische Interventionen.

Die Stimmen in diesem Archiv stammen nicht nur aus der Schweiz: Das Archiv beherbergt auch Wissen zu online Aktivitäten kenianischer (Nanjala Nyabola) und brasilianischer Feministinnen (Laura Cazarini Trotta, Carolina Gabas Stuchi, Clara Vinholi Araújo, Gabriela Paula Silva Alves and Ana Beatriz Aquino), Kämpfe um Frauenrechte in Ägypten (Hoda Elsadda) und der Türkei (Güneş Koç), sowie demokratietheoretische Herausforderungen wie die vergeschlechtlichte Tieflohnarbeit (Lea Küng) und die unsichtbare Zensur privat-öffentlicher Social Media Plattformen (Anna Antonakis). Nicht zuletzt wird das historische Archiv erweitert durch die Aufarbeitung der Geschichte des Liechtensteiner Frauenstimmrechts (Beat Ospelt).

Eine feministische Arbeit ist demnach auch, das bereits Gesagte wieder und wieder und wieder zu sagen, bis es […] gehört wird.

Erinnern ist in Zeiten, in denen autoritäre Regime und populistische Machthaber*innen rasant an Einfluss gewinnen, von grosser Dringlichkeit. Einige der Beiträge zeigen, wie erschreckend schnell feministische Errungenschaften wieder abgeschafft werden können. So etwa die beiden Texte, die Gewalt an Frauen thematisieren: Öffentliche Räume, in denen Frauen sich nach Erlangung der Unabhängigkeit Kenias von Kolonialmächten für einige Jahre freier bewegen konnten, wurden gemäss Nanjala Nyabola wieder gefährlich und Femizide, die noch vor fünfzehn Jahren strafrechtlich verurteilt wurden, gelten Güneş Koçs zufolge in der Türkei wieder als Bagatelldelikte.

Re_Visionen

Weil auch der Blog Art of Intervention ein feministisches Archiv ist, möchte ich kurz einige der visionären Punkte aus «Revisioning Democracy» zusammenfassen, damit das Wissen mehrfach gesichert ist. Wie Patricia Purtschert an diesem Abend erwähnt, ist es in Bezug auf Archive einerseits wichtig, über Techniken des Aufbewahrens nachzudenken. Dazu gehören beispielsweise Techniken, die es ermöglichen, die Social Media-Aktivitäten des momentan jährlich national stattfindenden Feministischen Streiks zu sichern. Andrerseits ist jedoch auch wichtig, sich darauf zu besinnen, dass viel Wissen bereits in Archiven enthalten ist und dass es nur darauf ankommt, auf dieses Wissen zuzugreifen. Vieles, so erinnert uns Purtschert, wurde bereits gedacht und gesagt. Eine feministische Arbeit ist demnach auch, das bereits Gesagte wieder und wieder und wieder zu sagen, bis es – von Andrea Maihofer im Band mit Spivak gedacht – gehört wird. Es gehe nicht nur um die Möglichkeit zu sprechen, sondern auch darum, sich Gehör zu verschaffen.

Einige visionäre Punkte zum Nachdenken über Demokratie, die in den kommenden vier Jahren (und darüber hinaus), in denen die Welt durch Trump und andere Autokrat*innen restrukturiert wird, wichtig zu erinnern sein dürften, sind Folgende:

  • Demokratische Institutionen sind Katrin Meyer zufolge nicht per se egalitär und progressiv. Rechtsstaatliche Institutionen sind nicht Voraussetzung, sie sind Ergebnis des Politischen und müssen immer neu verhandelt und hergestellt werden.
  • Gleichheit und Freiheit sind gemäss Andrea Maihofer konstitutiv verbunden zu denken: Keine Gleichheit ohne Freiheit – wobei Freiheit als Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht gedacht wird – und keine Freiheit ohne Gleichheit, denn die Freiheit «muss für alle gleich sein», postulierte Olympe de Gouges bereits im 18. Jahrhundert. 
  • Gleichheit muss sich in einer nicht-hierarchischen Anerkennung vollziehen; sie bedeutet eine Gleichberechtigung auch in der Differenz.
  • Es muss möglich sein, alle aktuellen Krisen und Probleme in den Blick zu nehmen und den inneren Zusammenhang all dieser Krisenphänomene sichtbar zu machen, damit die Bewegungen nicht in Konkurrenz zueinander geraten, sondern verschiedene Kritikperspektiven miteinander verknüpft werden können.
  • Es braucht eine normative Haltung erstens, des Bewusstseins der eigenen Fehlbarkeit, wie es Maihofer mit Adorno formuliert, und zweitens einer Weiterentwicklung des eigenen Verständnisses von Demokratie durch gemeinsamen Dialog.

Die Visionen und Revisionen im Band «Revisioning Democracy and Women’s Suffrage»sind in ihrer Vielstimmigkeit feministische Interventionen, die sprechen und sich Gehör verschaffen und damit das hegemoniale Schweigen brechen. Indem Art of Intervention ihnen eine Plattform bietet, werden die feministischen Archive erweitert. Mir als Autorin dieses Artikels wurde im Prozess des Schreibens klar, dass das Schweigen meiner Grossmutter kein individuelles Schweigen und meine Entmutigung keine nur persönliche Entmutigung war, sondern dass das Schweigen einem gesamtgesellschaftlichen Schweigen gleichkommt. Hier darüber schreiben zu dürfen bedeutet, meine Entmutigung in eine Ermutigung zu transformieren, indem ich  daran mitarbeite, dieses gesellschaftliche Schweigen zu brechen. Wenn wir Viele sind, die sprechen, können wir uns Gehör verschaffen. Und dies ist, wie der Band «Revisioning Democracy» eindrücklich zeigt, notwendig, wenn Freiheit und Gleichheit für die Demokratie konstitutiv sein sollen.


Bemerkungen

[1] Katrin Meyer, Tracing the Violence of Hegemonic Silence:The (Non-)Representation of Women’s Suffrage in Theories on Swiss Democracy since 1971, 2022, 83.

Beitragsbild: Vernissage Revisioning Democracy im Paranoia City, Zürich. Foto © Felix Tuchschmid.