«Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt» Oder: Welche Geschichten werden erinnert, erzählt, gehört?

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Von Lea Dora Illmer. Dieser Beitrag ist Teil der Blogserie «Heute Nacht geträumt» und nimmt Bezug auf die Veranstaltung «Welche Geschichte wird gezeigt?».

Mit dem heutigen Abend geht die Kooperationsreihe zu Ruth Buchanan’s Ausstellung «Heute Nacht geträumt» zwischen dem Kunstmuseum Basel | Gegenwart und art of intervention zu Ende. Nachdem Fragen von Zugänglichkeit, Zeitlichkeit und der Verortung und Verantwortung von Kunst im Zentrum standen, widmet sich diese letzte Veranstaltung der kollektiven Erinnerungsarbeit – einer zentralen feministischen Methode. Andrea Zimmermann, Dominique Grisard und Katja Brunner fragen sich und uns: Welche Geschichte(n) werden erinnert, erzählt, gehört? Und nicht zuletzt: Welchen Einfluss hat Erinnerungsarbeit auf künstlerische Visionen einer geschlechtergerechteren Zukunft?


«Grüezi wohl, Frau Stirnimaa!»

Es war letztes Jahr, als Dominique Grisard als Mitfahrerin im Auto sass und «Grüezi wohl, Frau Stirnimaa!» von den Minstrels hörte. Sie fühlte sich auf emotionale, affektive Art an ihre Kindheit erinnert, erzählt sie. An die 1970er Jahre, als dieses Lied im Radio rauf- und runtergespielt wurde. Seither hat der Schweizer Hit einige Generationen begleitet, berührt, bewegt – ob sie ihn mochten oder nicht. Ihre Reaktion im Auto liess Grisard über die Bedeutung von Populärmusik nachdenken, als Agentin von Sozialisation und Mobilisation, als wichtiger Teil von Erinnerungskultur. Sie fragte sich: Was sagt Populärmusik über eine Gesellschaft aus? Über die Schweiz der 70er Jahre, über die Schweiz heute? Wie konserviert, polarisiert, verbindet sie?

Angeregt durch das 50. Jubiläum des Frauenstimmrechts interessiert sich Grisard für die Hörgewohnheiten damaliger Feminist*innen. Was hielten diese von populären Hitparadenliedern wie dem Stirnimaa-Song? Welche Musik setzte Frauen damals in Bewegung? Wovon grenzten sie sich ab und was inspirierte sie? Und warum wissen wir so wenig darüber? Im Zuge dessen entstand Grisards Idee, ein Mixtape zu erstellen.


«Oh läck du mir…»

Wie kann es sein – fragt Grisard weiter am Beispiel von «Oh läck du mir…» des Trio Eugsters – dass diese Lieder trotz ihrem sexistischen, patriotischen Text einen Anflug von guter Stimmung verbreiten? Ja, von Heimatgefühl? Die Erinnerungen, die sie auslösen, sind verortet: zeitlich (die 70er Jahre in der Schweiz) und räumlich (etwa in der Wohnstube vor dem Fernseher oder im Auto in die Ferien). Gleichzeitig sind sie ungenau, nicht greifbar. Ein zentrales Element von Populärmusik ist die Wiederholung. Diese Lieder liefen und laufen immer wieder, als Hintergrundmusik, plätschernd. «Und dann spielt es natürlich eine Rolle», so Grisard, «dass die Lieder in meiner Muttersprache, auf Schweizerdeutsch sind». Hören wir genauer hin, wird erst klar, dass es sich bei den beiden Liedern wohl um explizite Reaktionen auf die Emanzipation, auf die Frauenbewegung handelt. Sie reproduzieren ein bestimmtes Bild von Männlichkeit, das der Vater an den Sohn weitergibt.

Grisard hat nach Forschung zur Frauenbewegung und Musik gesucht. Es zeigt sich: Die Sparte Musik bleibt eine Männerbastion. Das wird Andrea Zimmermann im Laufe des Abends bestätigen. Die Forschung, auf die Grisard stösst, fokussiert die 68-er Jahre. Auch in der Schweiz stellten die 68-er Bewegung und ihre Populärkultur neben Vorstellungen von Männlichkeit die scheinbar authentische Schweizer Volksmusik in Frage. Grisard nennt mit dem Rolling Stones-Konzert 1967 in Zürich und Aretha Franklins Auftritt am Jazzfestival in Montreux – fünf Monate nach Einführung des Frauenstimmrechts – Musiker*innen «von aussen», die das Schweizer Publikum in Aufruhr versetzten. Erstere als Anstifter und Verführer der Jugend, letztere als von der Presse deklarierter «Wirbelsturm».

Um ihre Fragen zu beantworten, führt Grisard Oral History Interviews mit frauenbewegten Feminst*innen durch, etwa mit Zita Küng. Die Zwischenbilanz von Grisards feministischem Mixtape ist ein Potpourri. Darauf befinden sich Kampflieder der Frauenbewegung, populäre Musik der damaligen Zeit und traditionelle, konservierende Musik und Lieder, die sich die Melodien letzterer humorvoll aneignen. Immer wieder genannt werden Künstlerinnen wie die bereits erwähnte Aretha Franklin («Respect»), Joan Baez («We shall overcome»), Mercedes Sosa («Gracias a la vida») und Conny Froboess (etwa mit «Lippenstift am Jacket») neben den Ofragetten, einer Gruppe von etwa acht Frauen, die sich auf den Strassen Berns trafen und alte Lieder wie «Marmor, Stein und Eisen bricht» umtexteten. Auf familiäre Melodien legten sie Texte zur 40-Stunden-Woche, zur Fristenlösung oder der Mutterschaftsversicherung. Sie holten Leute mit bekannten Melodien ab und öffneten so ein Türchen für ihre bissigen, humorvollen und parodistischen Texte. Ihre Platte ist zwar nicht auf YouTube, aber in der Schweizerischen Nationalphonotek zu finden.

Grisard gibt uns nicht nur Ohrwürmer, sondern auch Fragen mit: Welche Musikstücke haben uns (politisch) bewegt in unserer Kindheit und Jugend? Wie fühlt es sich heute an, daran zurückzudenken?Inwiefern spielen politische Inhalte in der Musik für mich als Hörer*in eine Rolle?


Was wollen wir in Bewegung versetzen?

Andrea Zimmermann kommt die unerfreuliche Aufgabe zuteil, obenstehende Frage «Was wollen wir in Bewegung versetzen?» mit aktuellen Zahlen anzuregen. Sie präsentiert Ergebnisse der Vorstudie Geschlechterverhältnisse im Schweizer Kulturbetrieb, die letzten Sommer im Rahmen einer von ihr geleiteten Kooperationsstudie veröffentlicht wurde. Die nationale Studie erlaubt ernüchternde Einblicke in diejenigen Strukturen, die wir transformieren möchten. Aber auch Tendenzen für Veränderung, Kollektivierung und Netzwerke.

Die Vorstudie fokussiert Kulturschaffende und Kulturbetriebe. Es ging in erster Linie um eine Sichtung der Zahlen und um die Frage: Welche Daten liegen überhaupt vor? Mit welchem Aufwand können sie gewonnen werden? Die Vorstudie ist also keine Vollerhebung, dennoch sind Tendenzen sichtbar. Zimmermann präsentiert uns ausgewählte Ergebnisse aus zwei der insgesamt vier untersuchten Sparten. Sie schliesst an Dominique Grisard an, als sie auf die desaströsen Zahlen in der Musik hinweist: Sei es nun Rock-, Pop-, Jazzmusik oder Klassik – sehr wenige Frauen stehen vorne, leiten, dirigieren. Dirigentinnen sind in einem Sample von 76 gerade mal nur 5 zu finden. Wenn es darum geht, wer auf der Bühne wie vertreten ist, so Zimmermann, sei die Musik ein durch und durch dramatischer Bereich.

Diese Grafik zeigt den Anteil von Frauen in der operativen Leitung in Prozent nach Sparten. Die Zahlen stammen aus der Vorstudie.


Insgesamt zeigt sich, dass der Anteil von Frauen in operativen Leitungen in Diagrammform stets ein Treppchen nach unten bildet. Ausser in der Musik: Hier ist nicht mal mehr ein Treppchen zu sehen, da der Frauenanteil ganz wegbricht: In den insgesamt 11 erhobenen Betrieben ist keine einzige weibliche Direktorin anzutreffen.

In den visuellen Künsten lohnt sich eine genaue Betrachtung der Zahlen. Zimmermann erklärt, dass der Frauenanteil bei den Gruppenausstellungen höher ist als bei den Einzelausstellungen (31 versus 26 Prozent). Weiter gilt, je grösser und einflussreicher das Museum, desto kleiner der Frauenanteil in den Leitungspositionen.

Sie fasst zusammen: Um zu verstehen, wie sich Dinge verändern und welche Massnahmen für mehr Geschlechtergerechtigkeit überhaupt wirksam sind, brauche es mehr Zahlen. Im Bereich der visuellen Künste gäbe es bisher wenig Leitlinien in den Betrieben, auch zu Ankauf und Ausstellungen. Weiter ist dort eine Forschungslücke auszumachen, wo es um finanzielle Aspekte in der Kunst geht. Aus den über 20 Interviews und dem Datenmaterial, die Zimmermann und ihr Team erhoben haben, stellt sie uns drei Thesen zu den visuellen Künsten vor.


Das unsterbliche Genie, die Unvereinbarkeit und eine Prise Hoffnung

Der Autor mag tot sein, das Genie ist es nicht. Zimmermann weist darauf hin, dass die Wirkmächtigkeit dieser imaginären Figur in fast allen Interviews und durch alle Sparten hindurch Erwähnung fand. Sie stellt nach wie vor den Richtwert dar, zu dem sich Kunstschaffenden in ein Verhältnis setzen müssen – was für Künstlerinnen meist einen grösseren Aufwand bedeutet. Und selbst wenn es gelingt, wird wieder mit anderen Massstäben gemessen: Exzentrisches Verhalten beispielsweise wird bei Männern als Ausdruck von Exzellenz gedeutet, bei Frauen sexistisch abgewertet. Das Urteil lautet dann etwa: «Sie ist schwierig».

Für Künstlerinnen, die Mütter sind, gelten nach wie vor harte Bedingungen. Nicht wenige berichten davon, wie die Mutterschaft ihr Bild nach aussen beschädigt. Sie haben Angst davor, nicht mehr ernst genommen zu werden. Zimmermann zitiert aus einem Interview: Die Schauspielerin war ganz toll, «aber seit sie Mutter ist, ist sie zu weich.» Auch die Vereinbarkeit im Bereich der visuellen Künste lässt zu wünschen übrig. Erwartet werden ein lückenloser CV, die Bereitschaft zu entgrenzter Arbeitszeit, Residenzen im Ausland, internationale Netzwerke und Sichtbarkeit. Kunst und Elternschaft, insbesondere Mutterschaft, sind unter den diesen Bedingungen und Strukturen derzeit schlicht unvereinbar.

All das hat finanzielle Folgen. «Männerkunst» kostet mehr als Kunst von Frauen (weltweit 20-30% mehr). Das Künstler*innendasein ist darüber hinaus mit einer prekären Einkommenslage und hoher Lohn-Intransparenz verbunden. Letztere ist ein Einfallstor für Ungleichheit. Hier setzt aber auch die dritte, hoffnungsvolle These hin zur Transformation an. Nicht nur in Sachen Lohntransparenz ist die Vernetzung ein hoffnungsstiftender Aspekt. Netzwerke und Gemeinschaften scheinen, so Zimmermann, im Kunstbetrieb eine grosse Rolle zu spielen. Einerseits die altbekannten Männerbünde, andererseits Gegennetzwerke queerfeministischer Künstler*innen. Es gäbe zunehmende Tendenzen in Richtung kollektiver Leitungen und emanzipatorischer Netzwerke. Wir befinden uns in einem Übergangsmoment, in dem viel destabilisiert und neu organisiert wird.

In der anschliessenden Diskussion wird nach den Reaktionen auf die Vorstudie gefragt. Zimmermann führt aus, dass sie häufig auf Irritation über die Persistenz des männlichen Genies stiess. Ist das wirklich immer noch so? Sie müsse leider bejahen. Diese Normen seien nun mal über Jahrhunderte gewachsen. Viele Betriebe zeigten einerseits eine grosse Bereitschaft zur Veränderung, andererseits aber Hilflosigkeit. Auch hier tritt der Vernetzungsaspekt zutage: «Betriebe sollten sich besser vernetzen und aneinander anknüpfen – kollektive Leitungen etwa gibt es nicht erst seit gestern», sagt Zimmermann. Als letztes hebt sie hervor, dass weiterhin grosse Zurückhaltung bei der Einflussnahme darauf bestehe, welche Art von Kunst unter welchen Bedingungen entstehe. Die Frage der Geschlechtergerechtigkeit könne jedoch nicht von der Frage nach ästhetischen Standards und Produktionszusammenhängen getrennt werden. Letztlich ist Innovation und Transformation in all diesen Bereichen von Nöten.

Scan des Kalenderblatts «Erinnerungsprozesse» (November) aus dem KAP Kalender 2022 von Revolving Histories (Nicole Boillat, Lena Eriksson, Martina Gmür, Martina Henzi, Chris Hunter, Chris Regn, Carlota Ribi). © Die Künstler*innen.


«Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt»

Schriftstellerin Katja Brunner rundet den Abend mit einer Performance über Wut und Unrecht ab. Brunner ist für ihre performativen Texte bekannt, unter anderem auch mit dem Institut für chauvinistische Weiterbildung, This is a woman’s world. In ihrer Lecture Performance im Dachgeschoss des Kunstmuseum Gegenwart spricht sie über die Notwendigkeit, Raum einzunehmen und über soziale Strukturierung in und von Räumen. Sie hatte den Text, den sie heute vorträgt, ursprünglich für einen anderen Zeitpunkt geschrieben: zum 50-jährigen Jubiläum des Frauenstimmrechts. Aber ob nun 2021 oder 22 – wir befänden uns hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit an keinem so anderen Punkt als Iris von Roten 1958, stellt Brunner fest. In diesem Jahr ist «Frauen im Laufgitter» erschienen. Die Geschichte der Schweiz sei aus einem feministischen Blickwinkel «eine Geschichte von Rückschritten und ganz ganz kleinen, ganz ganz gemächlichen Fortschrittschrittchen.» Wir reisen mit Brunner erneut zurück in die 70er Jahre, wie zuvor schon musikalisch. Es war ein Jahrzehnt des Aufbruchs, auch wenn wie immer etwas später in dieser kleinen Nation, die Brunner fortan mit «kleine Nation stolz auf ihren stoischen Konservatismus» spezifiziert. Die Geschichte, die sie uns erzählt, ist «eine […] von Schmerz und Wut und eine Geschichte, die noch kein Ende gefunden hat, feierlich nicht und faktisch nicht.» Sie ist, so wiederholt Brunner im Laufe der Performance immer wieder, «noch nicht zu Ende erzählt».


«Nicht, solange…»

Brunner betont, dass es gerade der unsichtbar gehaltenen Geschichten wegen so dringlich ist, zu denen vor, über und hinter uns zu sprechen. «Wir sprechen nicht alleine. Ich spreche nicht alleine», sagt sie. Sie spricht von und wegen ihrer Ahn*innen, sie spricht durch und mit ihnen. Brunners Performance ist auch deswegen so vielstimmig. An späterer Stelle verleiht sie der Heterogenität politischer Forderungen Nachdruck: «Es gefällt mir nicht alles, was – und erst recht nicht wie – du es sagst, aber dennoch werde ich dafür kämpfen, dass du es sagen kannst.» Solange das keine Selbstverständlichkeit ist, solange Katja Brunner hier «mit dieser Wut» sitzen muss, ist diese Geschichte nicht zu Ende erzählt – auch wenn die Veranstaltungsreihe zur Ausstellung «Heute Nacht geträumt» mit diesem gewichtigen Abend schliesst. Andrea Zimmermann spannt die Fäden zusammen, indem sie die Rolle der Gefühle in allen Beiträgen des Abends – ob als Bewegungsgeber*innen oder Stillsteller*innen – hervorhebt. Es lohnt sich, unsere Gefühle ernst zu nehmen. Nicht zuletzt, weil wir in Strukturen emotional verhaftet sind, die sich als nicht emanzipatorisch erweisen. Für diese und alle anderen Erkenntnisse hat die Veranstaltungsreihe zu «Heute Nacht geträumt» im Dachboden des Kunstmuseums Gegenwart wie in unseren Köpfen einen Raum geöffnet.

Lea Dora Illmer studiert Geschlechterforschung, Philosophie und Literaturwissenschaften an der Universität Basel. Ihre Masterarbeit hat sie zur sogenannten Frauengesundheitsbewegung in der Schweiz geschrieben. Daneben schreibt sie für die an.schläge und andere Magazine und arbeitet als freie Lektorin. Sie ist Mitbegründerin des Vereins FKK (Feministische Kulturkritik).

In diesem Text erwähnte Lieder zum Nachhören (auf eigene Gefahr):
Die Minstrels – Grüezi wohl, Frau Stirnimaa!
Trio Eugster – Oh läck du mir…
Aretha Franklin – Respect
Joan Baez – We shall overcome
Mercedes Sosa – Gracias a la vida
Conny Froboess – Lippenstift am Jacket
Drafi Deutscher – Marmor, Stein und Eisen bricht


Bild: Ausschnitt eines Scans des Kalenderblatts «Erinnerungsprozesse» (November) aus dem KAP Kalender 2022 von Revolving Histories (Nicole Boillat, Lena Eriksson, Martina Gmür, Martina Henzi, Chris Hunter, Chris Regn, Carlota Ribi). ©Die Künstler*innen.