Dornröschen in alternativen Bildern

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Von Caterina Bolognani, Livia Gruber und Linn Zimmermann

Inhaltlicher Hinweis: In diesem Beitrag geht es um sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt. Achte gut auf dich während dem Lesen. Weiterführende Ressourcen werden am Ende dieses Textes aufgeführt.


Im Rahmen des Seminars «Geschlecht und Gewalt: künstlerische Perspektiven» an der Universität Basel, haben wir uns intensiv mit der symbolischen Gewalt in Märchen auseinandergesetzt. Unser Fokus lag dabei auf dem Märchen «Dornröschen», dessen Geschichte wir aus verschiedenen Blickwinkeln künstlerisch interpretiert haben. Paula Rego’s Kunst hat uns dabei eine inspirierende Grundlage geboten.

In der Version von Disney sind sowohl Dornröschen als auch Prinz Phillip sind in ihren Rollen gefangen. Sie wird als die hübsche Prinzessin dargestellt, die darauf wartet, dass ihr Märchenprinz kommt und sie rettet. Sie erscheint als passive Figur ohne wirkliche Tiefe. Prinz Phillip, der eine aktive Rolle einnimmt, wird als starker Ritter in glänzender Rüstung erwartet. Dabei darf er keine Schwäche zeigen, denn er ist ein «starker Mann».

Mit dem ersten Bild wird veranschaulicht, wie beide Charaktere versuchen, sich voneinander und ihren Rollen, in deren sie gefangen sind, abzuwenden. Die romantische und schöne Atmosphäre des Bildes wurde bewusst gewählt, um die Romantisierung dieser Rollen darzustellen. Beide Charaktere sind nur dann «vollständig», wenn sie ihr Schicksal erfüllen und einander wählen. Die eine existiert nicht ohne den anderen: Prinz Phillip kann kein Retter sein, wenn es niemanden zu retten gibt, und die Prinzessin kann nicht auf Rettung warten, wenn niemand kommt.

Die Geschlechterrollen in Dornröschen, digitale Medien, 2024. © Caterina Bolognani.

Die Dornen im Hintergrund symbolisieren die Verstrickung ihrer Rollen und wie sie in diesen feststecken. Doch beide entscheiden sich in diesem Bild für das Gegenteil. Sie wenden sich voneinander ab und lehnen damit nicht nur einander, sondern auch die ihnen zugeschriebenen Rollen ab. Dornröschen wird mit einer starken, entschlossenen Haltung dargestellt, die Standfestigkeit vermittelt. Prinz Phillip hingegen wirkt traurig – eine Emotion, die er zeigen kann, weil er seine Rolle als stets «starker Mann» ablehnt.

Durch diese Inszenierung werden die Spannungen und der Konflikt zwischen individuellen Wünschen und gesellschaftlich auferlegten Rollen visualisiert. Den Figuren wird eine Autonomie und Tiefe verleiht, denn sie sind sich ihrer Rollen bewusst und lehnen diese bewusst ab.

Es ist eine Erzählung, die erschreckend reale Parallelen aufweist. Denn leider ist diese Geschichte keine, die nur in alten Märchen existiert.

Die folgenden zwei Bilder greifen die schockierende Urfassung des Märchens «Dornröschen» auf: Anders als in der romantisierten Fassung, in der ein Prinz die schlafende Schönheit wachküsst – was aufgrund der Unmöglichkeit, Konsens einzuholen, bereits kritisch zu betrachten ist – wird in Giambattista Basiles Version «Sonne, Mond und Thalia» (17.Jahrhundert) das Motiv der Gewalt gegen Frauen offengelegt: Dornröschen wird im Schlaf von einem Prinzen vergewaltigt, wodurch sie noch im Schlaf Zwillinge zur Welt bringt. Eine Geschichte, die geprägt ist von schrecklichen Gewaltdarstellungen und patriarchaler Machtausübung. Es ist eine Erzählung, die erschreckend reale Parallelen aufweist. Denn leider ist diese Geschichte keine, die nur in alten Märchen existiert. Erst letztes Jahr kam heraus, dass Gisèle Pelicot jahrelang von ihrem Ehemann mit Medikamenten betäubt und von ihm sowie zahlreichen ihr unbekannten Männern vergewaltigt wurde, während sie bewusstlos war. Das so etwas überhaupt geschehen kann, zeigt wie tief verwurzelt die Gewalt gegen Frauen in unserer Gesellschaft noch immer ist.

Dornröschen als Marionette, digitale Medien, 2024. © Linn Zimmermann.

Im zweiten Bild wird das Ausgeliefertsein der schlafenden Frau durch die Marionettenfäden besonders betont. Diese Fäden symbolisieren ihre Fremdbestimmung und den Raub ihrer Autonomie. Die blutigen Beine und die Babys an den Nabelschnüren visualisieren nicht nur die physische und sexuelle Gewalt, sondern auch deren brutale Konsequenzen. Die Kombination aus zarten Elementen wie den Rosen und dem pastelligen Hintergrund kontrastiert stark mit der verstörenden Darstellung und verdeutlicht die Ambivalenz zwischen der Märchenidylle und der grausamen Realität.

Die Illustration verweist nicht nur auf die geschilderte Gewalt in alten Märchen, sondern macht auch deutlich, dass die Vertuschung, Romantisierung und Normalisierung von Gewalt an Frauen ein fortwährendes Problem ist – sowohl in patriarchal geprägten Erzählungen als auch in unserer heutigen Gesellschaft, in der solche Realitäten oft ignoriert oder verharmlost werden.

Im dritten Bild sehen wir Dornröschen nicht wie gewohnt friedlich im Schönheitsschlaf. Im Gegenteil, sie ist wach, blickt ängstlich, und ihr Mund ist mit einem roten Tuch verschlossen. Denn sie weiss, was ihr widerfuhr: Ihr «Retter» hat sie nicht in Sicherheit gebracht, sondern missbraucht.

Es bleibt offen, ob sie sich das Tuch selbst umgebunden hat oder ob es ihr aufgezwungen wurde, um sie zum Schweigen zu bringen. Einerseits soll diese Darstellung auf die Sprachlosigkeit verweisen, die viele Überlebende gegenüber ihrer Gewalterfahrung empfinden. Darauf, wie schwer es ist, über das Geschehene und die damit verbundenen Gefühle zu sprechen. Andererseits steht sie auch für das (Ver)Schweigen, dass ihnen in ihrem Umfeld häufig widerfährt. Wie im Artikel «Schweigen und Stigma» beschrieben, werden viele Überlebende nicht nur mit ihrem Trauma, sondern auch mit gesellschaftlicher Abwehr und Stigmatisierung konfrontiert. Eine Angst vor Schuldzuweisungen verstärkt das Schweigen und hält das Tabu aufrecht. Somit war die brutale Version von Dornröschens Geschichte gesellschaftlich wohl nicht erwünscht. Ähnlich haben auch die Brüder Grimm Dornröschens schlimme Schicksal zensiert und dem jungen Mädchen damit die Stimme geraubt, wie dies auch heute immer noch viele Überlebende erfahren müssen.

Dornröschen verstummt, Aquarellfarbe, 2024. © Livia Gruber.

Weiterführende Ressourcen

Weiterführende Informationen und Unterstützung bieten unter anderem…
… die Opferhilfe Beider Basel.
… die Opferhilfe Schweiz.
… das Männerbüro der Region Basel.
… das Telefon gegen Gewalt.
… die Dargebotene Hand.
… die Notrufnummer für Kinder und Jugendliche.

Beitragsbild: Die Geschlechterrollen in Dornröschen (Ausschnitt), digitale Medien, 2024. © Caterina Bolognani.