Dieser Beitrag ist Teil der Blogserie «Paula Rego: Geschlecht und Gewalt».
Das Ticket für die Reise ins Märchenland wurde von Dominique Grisard gelöst: Sie leitete in der Rolle der Moderatorin durch den Abend. Unter dem Titel «Schnee von gestern? Weisse Schönheitsideale in Snow White und anderen Märchen» fand im November am Kunstmuseum Basel eine kostenlose Veranstaltung statt. Der Anlass für die Reise ins Märchenland wurde mir beim Betreten des Gebäudes nochmals in Erinnerung gerufen: Die von art of intervention initiierte dreiteilige Veranstaltungsreihe schliesst an die aktuelle Ausstellung der Werke der Künstlerin Paula Rego an.
In der Stadt Basel trifft mensch seit geraumer Zeit ihren übergross plakatierten Racheengel «Angel» (1998) an, der in genau diese Ausstellung locken soll. Die Werke Regos wurden in den Räumen des Museums von den Kurator*innen thematisch sortiert. Im Raum namens «Rollenspiele» befindet sich unter anderem das Werk «Snow White on the Prince’s Horse» (1996). Dieses zeigt eine spannende Gegenerzählung, oder Interpretation, der bekannten Darstellung Schneewittchens bei Disney. Entgegen des gängigen Narrativs präsentiert Rego in ihrer Version eine selbstbestimmte Figur, ein Schneewittchen, das sich nicht auf eine «Haut weiss wie Schnee» oder «Lippen rot wie Blut» reduzieren lässt. Doch ein vorgängiger Besuch der Ausstellung war keine Voraussetzung – die Abendveranstaltung bot auch so eine Menge Stoff sich auf neue Gedanken und Gefühle einzulassen.
Die Gedankenreise begann beim Betreten des Veranstaltungsraumes, wo jede*r die Frage nach den eigenen Held*innen der Kindheit als Inspiration mit auf den Weg bekam. Gespannt fanden Zuhörende sich auf ihren Plätzen ein. Als geladene Gästinnen und Expertinnen wurden Brandy Butler und Rahel El-Maawi begrüsst. Brandy Butler wurde unter anderem als Musikerin, Performancekünstlerin, Aktivistin, Musikpädagogin und seit 2019 Gastkünstlerin am Theater Neumarkt vorgestellt. Rahel El-Maawi als Autorin, die sich mit rassismuskritischer Schulkultur und der Aus- und Fortbildung von Lehrpersonen und Lehrbeauftragten beschäftigt, und selbständig in Soziokultur und Bewegungsforschung, Fachberatung und vielem mehr tätig ist.
Brandy Butler eröffnete ihre Performance Lecture mit einem Bild von sich als Kind im Schneewittchen-Kostüm. Im Laufe der Performance wurden die dominanten und beliebtesten Disney-Darstellungen märchenhafter Prinzessinnen gezeigt: Nebst Schneewittchen, Aschenputtel, Dornröschen, Belle und Co. Sie haben eine Gemeinsamkeit: Es sind allesamt weisse Figuren – bis 1988 ausschliesslich weisse. Butler wies darauf hin, dass die Versionen dieser den Märchen entsprungenen Figuren seither vielfältiger geworden seien, dass jedoch Grimms und Disneys Versionen die vorherrschenden bleiben.
Dass Märchen ursprünglich gar nicht für Kinder gedacht waren, war für viele wahrscheinlich neu. Butler wies auf soziale Veränderungen Ende des 19. Jahrhunderts, und den damit einhergehenden Abänderungen von Märcheninhalten, hin. Eine Thematik mit der sich auch Maria Tatar im Text «Sex and Violence. The Hard Core of Fary Tales» (2003) sehr genau auseinandersetzt. Tatar zeigt darin am Beispiel verschiedener Ausgaben der Märchenbände der Gebrüder Grimm Veränderungen in den Erzählungen, ausgehend von deren Erstversionen, auf. Als die Gebrüder Grimm beschlossen, ihre Erzählungen vermehrt an ein Kinderpublikum anzupassen, wurden sexualisierte Inhalte beispielsweise, im Vergleich zu deren Ursprungserzählungen, «entschärft» (vgl. Tatar, 2003, S. 10f).
Machtvolle Rollenbilder
Im Vortrag von Brandy Butler wurde neben der historischen Dimension vor allem auf die Kontinuität der symbolischen Gewalt und rassistischer Verflechtungen in den immer wiederkehrenden Märchenerzählungen eingegangen. So fragte Butler:
Was lernen Kinder, wenn sie hauptsächlich weisse Figuren als «ideal» oder «schön» in Geschichten sehen? Wie verinnerlicht ein Kind Botschaften darüber, wer «gut» oder «wertvoll» ist, wenn es hauptsächlich weisse Figuren in diesen Rollen sieht?
In der Performance betonte Butler die Wichtigkeit diesen sich ständig wiederholenden gesellschaftlichen Narrativen entgegenzuwirken. Also einfach weg mit den normierenden Märchen? Nein, Butler plädierte dagegen: Schneewittchen darf bleiben! Schneewittchen solle nicht aus der Geschichte entfernt, sondern der Wert und die hierarchische Bedeutung ihres Weiss-seins hinterfragt werden. Bei Märchen, wie dem von Schneewittchen, sei Rassismus auf den ersten Blick schwieriger zu erkennen. Butler verdeutlichte uns die Relevanz ungesagte Botschaften zu erkennen und die Chance nicht zu verpassen, über diese zu sprechen.
Märchen liefern uns Geschichtsfragmente über Generationen, eine Sprache der Gemeinschaft, wer wir sind / sein sollen. Sie erschaffen Werte, Normen, Schönheitsideale.
Brandy Butler
Butler riet in der Auseinandersetzung mit Märchenfiguren zur Flexibilität – es gehe vor allem darum die Bilder nicht allein stehen zu lassen.
Alle Kinder können Held*innen sein!
Es gilt also als «ideal» Dargestelltes in dessen Macht- und Gewaltverhältnissen zu erkennen und kritisch zu hinterfragen und gleichzeitig die Sichtbarkeit von Vielfalt und Gegennarrativen voranzutreiben, um antirassistische und antisexistische Kämpfe fortzuführen. Denn nach Butler gehe es bei den Märchenfiguren und Geschichten auch darum, diese wachsen zu lassen und zu erweitern. Im Expertinnen-Gespräch im Anschluss an den Vortrag von Brandy Butler wurde unter anderem das von El-Maawi mitbegründete Netzwerk Bla*Sh (Netzwerk Schwarzer nicht-binärer Menschen und Schwarzer Frauen in der deutschsprachigen Schweiz), und das Projekt «Vor.Bilder.Bücher», eine Sammlung von Kinder- und Jugendbüchern mit BIPOC Protagonist*innen, vorgestellt.
Besonders die Schule und der Austausch mit Kindern und Jugendlichen wurden als Orte und Momente thematisiert, in denen die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit von wiederkehrenden rassifizierten und sexistischen Narrativen und Bildern stark ist und durchbrochen werden könnte, bzw. sollte. El-Maawi schilderte, wie dem in Schulbüchern und Lehrmitteln reproduzierten Rassismus bisher nur vereinzelt und schleppend entgegengewirkt werde. Dies geht auf Kosten der Kinder, denn wie El-Maawi und Butler aus der Praxis berichten, bringen diese oft ein sehr grosses Interesse an Gerechtigkeit mit.
Das Gespräch mit den Expertinnen ermutigte, dass neben strukturellen, politischen Kämpfen, auch kleinere Interventionen Grosses bewirken können. Ein Ansatz könnte demnach sein, bei sich selbst zu beginnen und sich dem kritischen Blick auf die eigenen Held*innen der Kindheit nicht zu versperren. Eine Gelegenheit, den Nebel der Nostalgie zu lichten bietet sicherlich die Betrachtung von Regos Schneewittchen im Kunstmuseum.
El-Maawi nahm sich während der Podiumsdiskussion der Figur von Pipi Langstrumpf an, einer Heldin der Kindheit von vielen Zuhörer*innen im Raum. Beim Versuch, den Inhalt der Erzählung von den nostalgischen Erinnerungen zu trennen, wird die Figur der Pipi Langstrumpf im Kontext kolonialer Verstrickungen fassbar gemacht. El-Maawi fragte: Was macht ein Affe in Schweden? Und woher stammt das Gold in der Schatztruhe?
Es komme, so El-Maawi, wieder darauf an, Machtverhältnisse zu thematisieren und die Erzählung, auch bei Pipi, einer starken weiblichen Figur, zu kontextualisieren. So wurde nochmals aufgezeigt, inwiefern Kindergeschichten ein Anknüpfungspunkt für Gespräche über Diskriminierungsstrukturen sein können. Mit den Inputs des Abends geht die Reise also weiter.
Literatur
Tatar, Maria: Sex and Violence. The Hard Core of Fairy Tales. Princeton, 2003.
Bild: art of intervention: Schnee von gestern?, Kunstmuseum Basel | Neubau, 13.11.2024, Foto: Damaris Thalmann.