Gendered Spaces. Zum Verhältnis von Raum und Geschlecht

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Von Andrea Zimmermann. Dieser Beitrag ist Teil der Serie «Gendered Spaces».


Die folgende Einführung in das Verhältnis von Raum und Geschlecht geht zurück auf Überlegungen, die für die öffentliche IZFG-Ringvorlesung «Gendered Spaces» im Frühjahr 2024 grundlegend waren. Die dafür gewählte Perspektive fokussiert ein kulturwissenschaftliches Verständnis und die sich daraus ergebenden Leitfragen: Wie manifestieren sich Geschlechterverhältnisse im Raum? Und wie manifestieren sich räumliche Verhältnisse in Bezug auf Geschlecht?

Zentraler Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist, dass Räume nicht geschlechtsneutral sind. Vielmehr sind sie als machtdurchdrungene Kategorie sozialer Ungleichheitsverhältnisse Gegenstand von Analysen in der Geschlechterforschung. Diese Einsicht, dass Raum eine zentrale Kategorie des Sozialen und Kulturellen darstellt, hat spätestens seit dem sogenannten ‘spatial turn’ Ende der 1980er Jahre Eingang in die Kulturwissenschaft gefunden.[1] Im Folgenden werden vier für die Geschlechterforschung bedeutsame Aspekte dieser Erkenntnis ausgeführt:

Raum und Geschlecht konstituieren sich wechselseitig

Erstens ist es für die Perspektive kulturwissenschaftlicher Geschlechterforschung von Bedeutung, dass Räume als materiell-physikalisch und zugleich sozial verstanden werden. Der Fokus liegt daher einerseits auf der Frage, wie sich Subjektivität, eine gesellschaftliche Ordnung und damit auch eine Geschlechterordnung im und durch Raum materialisieren. Andererseits wird von einem performativen Raumkonzept ausgegangen. Räume sind folglich an der Konstitution von Subjektivitäten und Ordnungen beteiligt und laden – mal mehr, mal weniger – zu einer Inszenierung bestimmter Gesellschafts- und Geschlechterordnungen ein. Im Fokus stehen also sowohl

Wechselwirkungen zwischen Raumstrukturen und Geschlechterverhältnis als auch […] die Bedeutung kultureller Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit für die Konstitutionsprozesse von Raum» [2]

Dieses Verhältnis zwischen Raum und Geschlecht ist im alltäglichen Geschehen manchmal kaum wahrnehmbar. Hin und wieder ist es jedoch offensichtlich, beispielsweise wenn Räume bestimmten Geschlechtern vorbehalten sind, bzw. andere Geschlechter explizit ausgeschlossen werden.

Geschlecht und Raum werden folglich als offene soziale Konstruktionen verstanden, die sich in den Prozessen ihrer Herausbildung, ihrer jeweiligen Erscheinung und ihrer sozialen Wirkmächtigkeit gegenseitig beeinflussen. Die Fragestellungen, die sich für eine Analyse aus dieser Perspektive auf das Verhältnis eines konkreten Raumes und der damit verbundenen Geschlechterordnung ergeben, lauten: Welche Geschlechterordnung schlägt sich in diesem Raum nieder? Wie strukturiert dieser Raum Handlungen? Welche Bezugnahmen, Positionierungen und Handlungen werden nahegelegt und welche nicht?

Aus Sicht der Kulturwissenschaften ist es folglich nicht mehr ausreichend, einen Raum als von einer Geschlechterordnung durchdrungen zu betrachten. Vielmehr sind wir in unseren Analysen angehalten, zu beschreiben, wie sich ein konkreter Raum zur jeweils herrschenden Geschlechterordnung verhält. Damit treten die performativen Aspekte eines Raums in den Vordergrund. Ein Raum kann affirmativ wirken und damit die mit der Geschlechterordnung verbundenen Normen stärken. Er kann aber auch subversiv wirken und unsere Vorannahmen zu Geschlecht in Frage stellen, irritieren oder gar unterlaufen. Meist sind in einer Analyse verschiedene gleichzeitig wirkende Dynamiken zu beschreiben.

Geschlechterordnung(en) zwischen Persistenz und Wandel

Zweitens ist aus der Perspektive der kulturwissenschaftlichen Geschlechterforschung die Frage zu stellen, von welcher Geschlechterordnung in der Analyse auszugehen ist, und welche Beobachtungen sich jeweils in Bezug auf diese Ordnung feststellen lassen. Sowohl Raum als auch Geschlecht sind historisch zu begreifen. Wie also ist Geschlecht in unserer Gesellschaft organisiert? Als ‹Vergleichsfolie› möchte ich die bürgerliche Geschlechterordnung aufrufen, wie sie im 18./ 19. Jahrhundert etabliert wurde[3] und wie sie auch heute noch äusserst wirkmächtig ist: Wir sprechen von einer patriarchalen und cis-heterosexuellen Zweigeschlechterordnung, geprägt von Geschlechternormen für Männlichkeit und Weiblichkeit, die sich grundlegend voneinander unterscheiden und komplementär zueinander gedacht werden.[4] Was dies im Einzelnen bedeutet, also welche Normen in welchem Raum aufgerufen, reproduziert oder unterlaufen werden – das gilt es, in einer Analyse jeweils herauszufinden.

Einerseits aktualisiert sich die vorherrschende Geschlechterordnung stets aufs Neue, jedoch immer auf spezifische Weise. Andererseits sind unsere Vorstellungen von Geschlecht stets in Bewegung und verändern sich. Das Wissen um die wirkmächtigen Normen der bürgerlichen Geschlechterordnung und damit verbunden um vorherrschende Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit sind meines Erachtens zentral, um in einer Analyse die jeweils wirkenden komplexen Dynamiken von Rekonstruktion und Transformation präzise bestimmen zu können.

Zentral ist ausserdem, dass Geschlecht in dieser nach wie vor vorherrschenden Ordnung eine Kategorie ist, die soziale Ungleichheitsverhältnisse produziert. Wie in vielfacher Hinsicht alltäglich beobachtet werden kann, setzt diese Ordnung zwei – und nur zwei – Geschlechter voraus: Mann und Frau. Männlichkeit wird dabei nicht nur anders verstanden als Weiblichkeit, vielmehr ist Männlichkeit für die Struktur der Gesellschaft zentral und geht mit Privilegien und Ressourcen einher.[5] Oder wie Simone de Beauvoir formuliert: Weiblichkeit ist «Le Deuxième Sexe», das stets in Ableitung von Männlichkeit definiert wird.[6]

Derzeit ist auch vielfältige Kritik an einer solchen binär organisierten Geschlechterordnung zu beobachten. Eine präzise Analyse sollte sich daher nicht darauf beschränken, die Persistenz einer bürgerlichen Geschlechterordnung herauszuarbeiten. Vielmehr gilt es auch diejenigen Aspekte wahrzunehmen, die auf den Wandel einer solchen Geschlechterordnung verweisen, da wir aktuell von der Gleichzeitigkeit beider Dynamiken auszugehen haben.

Machtverhältnisse im Raum

Mit Blick auf Raum lassen sich in besonderer Weise die Regulation von Zugängen, gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse und damit einhergehende Macht- und Kontrollmechanismen ablesen, wie es zum Beispiel von Michel Foucault herausgearbeitet wurde.[7] Daraus ergeben sich die Fragen, wer Zugang hat zu welchem Raum, wer nicht und warum. Für wen sind welche Räume gemacht? Wer fühlt sich in welchen Räumen wohl und wer nicht? Für wen ist die Schwelle beim Betreten eines bestimmten Raums höher als für andere? Zu beobachtende Ein- und Ausschlüsse sind unter anderem entlang von Geschlechternormen organisiert, aber auch andere Kategorien sozialer Ungleichheit spielen eine Rolle. Daher arbeitet die Geschlechterforschung mit intersektionalen Analysen.

Damit kommen wir auf den dritten zentralen Aspekt zu sprechen: Intersektionalität bedeutet, dass verschiedene Diskriminierungs- und Privilegierungssysteme im gleichzeitigen Zusammenspiel und in Wechselwirkung miteinander beobachtet werden können.[8] Welche das jeweils sind, bestimmt sich in der konkreten Analyse: Klassismus, Rassismus und Ableismus sind neben Geschlecht meist weitere zentrale Kategorien. Grundsätzlich stellt Intersektionalität jedoch ein offenes, sich stets in der Anwendung konkretisierendes Konzept dar. Wir wissen zum Beispiel aufgrund bereits geleisteter Forschungsarbeit, wie stark sich Bewegungsmuster und Raumnutzung einzelner Personen voneinander unterscheiden und wie diese in Relation zu verschiedenen Kategorien gesellschaftlicher Machtverhältnisse und sozialer Ungleichheit stehen.[9]

Der vierte Aspekt, den es bei Analysen zu Raum und Geschlecht zu beachten gilt, stellt die Frage nach der eigenen Positionierung: Von welchem Ort aus und mit welchem Erkenntnisinteresse stelle ich meine Fragen an den Raum? Im Kontext dieser kurzen Einleitung sei an dieser Stelle auf die lange Tradition einer selbstreflexiven Forschungsperspektive in feministischer Theoriebildung verwiesen. Ausdruck findet dieser Anspruch der Selbstreflexion in Instrumenten wie «situated knowledge».[10] Diese Konzepte sind darauf ausgelegt, den Mythos einer objektiven Wissenschaft zu kritisieren und vielmehr die Relevanz dessen zu betonen, das eigene Erkenntnisinteresse zu rahmen und auszuweisen, die eigene Position in den Blick zu nehmen, sowie die damit verbundenen Vorannahmen, Privilegien und Interessen selbstkritisch zu hinterfragen. Denn auch für den Kontext der Wissenschaft stellt sich die Frage: Wer nimmt sich auf welche Weise Raum und mit welcher Selbstverständlichkeit? Und bedeutet das, dass anderen dieser Raum nicht mehr zur Verfügung steht?

Potenzial der Heterotopie

In dieser kurzen Einleitung sollte deutlich werden, dass im Kontext der Kulturwissenschaften Geschlecht und Raum als Ergebnisse sozialer Konstruktionsprozesse begriffen werden, in denen Machtverhältnisse, Privilegien sowie koloniale, biologische und gesellschaftliche Diskurse einerseits manifestiert, andererseits auch irritiert, verschoben oder gar transformiert werden können.
In der Analyse sind daher folgende vier Dimensionen zentral: die materiell-räumliche Struktur, vorhandene Zeichen-, Symbol und Repräsentationssysteme, normative Regulationssysteme sowie Interaktions- und Handlungsstrukturen, die den Räumen inhärent sind.

Wenn Räume an der Produktion unserer Vorstellung von Geschlecht massgeblich beteiligt sind, dann lässt sich in der Analyse fragen: Wie kann es gelingen, diesen Zusammenhang als performativen Prozess offen zu legen und damit auch kritisierbar zu machen? Und inwiefern können Räume darüber hinaus sogar alternative Vorstellungen von Geschlecht herstellen? Das wären mit Foucault gesprochen ‹Heterotopien›: reale Gegen-Orte, « verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden».[11] Solche Räume einer alternativen Ordnung, die uns die vorherrschende Ordnung in ihrer Begrenzung vor Augen führen, sind von besonderem Interesse: Sie ermöglichen uns, die uns vertraute Geschlechterordnung mit ihren wirkmächtigen Geschlechternormen besser zu begreifen, ihre historische und räumliche Bedingtheit zu erkennen und ihre Selbstverständlichkeit und scheinbare Alternativlosigkeit kritisch zu hinterfragen. Oder in den Worten der Geografin Doreen Massey:

[Space] is always in a process of becoming; it is always being made. It is never finished; never closed» [12]


Dr. Andrea Zimmermann ist Geschlechterforscherin und leitet als senior researcher am IZFG der Universität Bern mehrere Forschungsprojekte zu Geschlechterverhältnissen im Schweizer Kulturbetrieb. Sie ist zudem Co-Leitung der Vernetzungsplattform art of intervention.


[1] Bachmann-Medick, Doris: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2014 (5. Aufl.).

[2] Becker, Ruth: «Raum: Feministische Kritik an Stadt und Raum», in: Becker, Ruth und Beate Kortendiek (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden, 2010, S. 806–819.

[3] Vgl. z.B. Maihofer, Andrea: Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz, Frankfurt a. M., 1995; Opitz-Belakhal, Claudia: Geschlechtergeschichte, Frankfurt a.M., 2010.

[4] Vgl. Hausen; Karin: «Die Polarisierung der ‹Geschlechtscharaktere›. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben», in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart, 1976.

[5] Vgl. z.B.: Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft, Frankfurt a.M., 1997.

[6] De Beauvoir, Simone: Le Deuxième Sexe, Paris, 1949.

[7] Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M., 1976.

[8] Vgl. z.B. Meyer, Katrin: Theorien der Intersektionalität zur Einführung, Hamburg, 2017.

[9] Ruhne, Renate: «(Sozial-)Raum und Geschlecht als strukturierendes Element des Sozialraums», in: Kessl, Fabian und Christian Reutlinger (Hg.): Handbuch Sozialraum. Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit, Wiesbaden, 2019, S. 203–224.

[10] Haraway, Donna: «Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective», in: Feminist Studies, 14. Jg., 1988, H.3, S. 575–599.

[11] Foucault, Michel: «Von anderen Räumen», in: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Band 4, Frankfurt a.M., 2005, S. 931–942, hier: S. 934f.

[12] Massey, Doreen: «Philosophy and politics of spatiality: some considerations. The Hettner-Lecture in Human Geography», in: Geografische Zeitschrift, 87. Jg., 1999, H.1, S. 1–12, hier: S. 2.


Bild: «Spiral Time», 2022, Ruth Buchanan mit Museumspersonal. Foto: Jonas Hänggi, Kunstmuseum Basel | Gegenwart. ©Ruth Buchanan.