Geschlechterfragen sind nicht egal – der Literaturbetrieb ist in Bewegung

, ,

veröffentlicht am

Von Martina Läubli.

Als ich 2018 die Stelle als verantwortliche Redaktorin von «Bücher am Sonntag», der Buchbeilage der «NZZ am Sonntag», antrat, nahm ich mir vor, dass die Hälfte aller Personen auf der Titelseite Frauen sein und dass etwa gleich viele Bücher von Autorinnen wie von Autoren besprochen werden sollten. Aus meiner Auseinandersetzung mit Literaturgeschichte wusste ich: Es ist nie Zufall, wer in einer Gesellschaft, in den Medien und in der kulturellen Überlieferung sichtbar wird und wem Wichtigkeit beigemessen wird. Dieser Grundsatz von gleicher Sichtbarkeit lässt sich im Bereich Belletristik problemlos umsetzen. Im Sachbuch-Bereich ist das etwas schwieriger; nach wie vor gibt es hier mehr Neuerscheinungen von Autoren als von Autorinnen; gerade bei Büchern, die mit grosser Geste die Geschichte, die Politik, die Zeit – also: die Welt erklären wollen.

Was ich bei meiner Arbeit für «Bücher am Sonntag» sofort gemerkt habe: Der Literaturbetrieb ist in Bewegung. Nicht zuletzt #MeToo hat die Macht- und Geschlechterfrage wieder an die Oberfläche gebracht. Es ist eine neue Aufmerksamkeit für strukturelle Mechanismen der Diskriminierung zu beobachten und es gibt eine hohe Sensibilität für Sexismus.

Schlüsselpositionen in Verlagen und Medien, die Förderung von Literaturschaffenden, Literaturpreise, die Zusammensetzung von Jurys und anderen Gremien, Leselisten an Schulen und Universitäten sowie die Berichterstattung: all dies wird aus feministischer Perspektive stärker durchleuchtet als zuvor. Immer wieder wird darüber diskutiert, wer die Machtpositionen im Betrieb innehat, wessen und welche Bücher erscheinen und wessen Bücher wie diskutiert werden.

Blogger*innen stellen unbequeme Fragen

Diese kritischen Perspektiven auf herrschendes Ungleichgewicht werden mehrheitlich von unten aufgeworfen, etwa von Bloggerinnen, Beobachterinnen, Literaturschaffenden oder Forscherinnen in den Sozialen Netzwerken und in Blogs, und weniger von den grossen Medien. In diesem Beitrag möchte ich auf einige dieser feministischen Initiativen hinweisen. Die Aufzählung ist unvollständig.

In ihrem Literaturblog «Nacht und Tag» widmet sich die Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert der Literatur von Frauen, Neuerscheinungen, Klassikern und Büchern, die eine (Wieder-)Entdeckung wert sind, wie zum Beispiel Gabriele Reuter. Neben Rezensionen schreibt Nicole Seifert auch Analysen zum Literaturbetrieb, etwa den vielbeachteten Artikel «Schweig, Autorin. Misogynie in der Literaturkritik». Darin zeigt sie, wie sehr Autorinnen persönlichen Angriffen von Seiten männlicher Kritiker ausgesetzt sind. Attacken auf die Person statt sachlicher Kritik: Mit dieser alten Strategie sollen weibliche Texte aus der Sphäre der «hohen» Literatur ausgeschlossen, ja Autorinnen zum Schweigen gebracht werden. Seifert schreibt dazu:

«Die Schärfe solcher Attacken macht es in einzelnen Fällen fast unmöglich, eine gesunde Distanz zu der Kritik einzunehmen und gleichzeitig beim Schreiben zu bleiben.»

Eine genauere Analyse dieser Mechanismen der Abwertung und des Verdrängens weiblicher Autor*innen unternimmt Nicole Seifert in ihrem Buch «Frauen Literatur», das in diesen Tagen erscheint.

Angesichts der von Seifert angeführten Beispiele fragt frau sich schon: Wann wird solche frauenfeindliche Kritik endlich verschwinden? Wie «wirksam», also verheerend sie heute noch ist und künftig sein wird, bleibt zu beobachten. Denn Frauen sind im Literaturbetrieb inzwischen ja sehr präsent und erfolgreich und in verschiedenen Bereichen in der Mehrzahl. Die Verhältnisse haben sich in den letzten Jahren vielerorts umgekehrt. Ein aktuelles Beispiel: Auf der diesjährigen Shortlist des Leipziger Buchpreises für Belletristik waren vier Autorinnen nominiert und ein Autor, wobei die Jury mit drei Frauen und vier Männern fast paritätisch aufgestellt war. Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2021 herrscht mit elf Autoren und neun Autorinnen beinahe Gleichstand.

Es sind mehrheitlich Frauen, welche die Debatte um Geschlechterverhältnisse und Diskriminierungen unterschiedlicher Art vorantreiben und frauenfeindlichen Angriffen, im Unterschied zu früheren Jahrzehnten, klar widersprechen. Damit erreichen sie, nicht zuletzt dank Social Media, eine grosse Öffentlichkeit.

Ebenfalls ein spannender Blog oder eher ein Online-Literaturmagazin ist «54 Books», in dem Seiferts erwähnte Analyse erschien. Hier schreiben verschiedene Autor*innen über Literatur und Feuilletondebatten, immer wieder auch aus feministischer Perspektive. Ein aktuelles Beispiel ist Marcel Inhoffs Analyse der Jury-Diskussion des diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preises, die sich jeweils live am Fernsehen mitverfolgen lässt. Obwohl die Jury längst nicht mehr von Männern dominiert wird, fällt der Umgang mit weiblichen Jurymitgliedern und Autorinnen doch immer noch auf. Marcel Inhoff stellt fest:

«Es ist insgesamt auffällig, wie oft Diskussionen von Autorinnen auf eine Ebene überführt werden, auf der die politische und persönliche Ausrichtung des Textes diskutiert wird, ohne den Text an sich als literarisches Kunstwerk überhaupt zu betrachten, während man bei Autoren in dieser Hinsicht viel mehr Sorgfalt walten lässt.»

Auch andere Beobachter*innen stellen fest: Wenn männliche Kritiker über weibliche Autorinnen sprechen oder schreiben, treten in der Wahrnehmung von Autorinnen immer wieder sexistische Stereotype zutage. In einer Rezension im «Tages-Anzeiger» etwa schrieb der Literaturkritiker Martin Ebel über die Autorin Sally Rooney, dass sie auf einem Foto aussehe «wie ein aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen». Dies ärgerte die Literaturwissenschaftlerin Nadia Brügger, die Autorin und Journalistin Simone Meier und die Drehbuchautorin und Regisseurin Güzin Kar – und inspirierte sie zu einer ironischen Gegenreaktion. Unter dem Hashtag #dichterdran begannen die drei, im gleichen Stil über männliche Schriftsteller zu schreiben. Zum Beispiel schrieb Simone Meier über Katia Mann:

«Während die beeindruckende Katja Mann erfolgreich die Fabriken ihres Vaters leitete, kümmerte sich Gatte Thomas liebevoll um die Kinder. Daneben schrieb er Bücher.»

#dichterdran löste eine ganze Welle an ironischen Tweets aus, wurde von den grossen Medien aufgegriffen; und Nadia Brügger, Simone Meier und Güzin Kar veröffentlichten dazu schliesslich auch ein Buch.

Auf Kollaboration beruht auch das Online-Portal «Frauen zählen», das auf Twitter unter dem Hashtag #frauenzählen nachzuverfolgen ist. Das Projekt will «umfassende Datenreports zur Sichtbarkeit von Autorinnen in der Literaturkritik, bei der Vergabe von Literaturpreisen, in Verlagsprogrammen, in schulischen Lehrmaterialien, in Jurys oder bei der Stipendienvergabe» zusammenstellen. Nach einer ersten Pilotstudie unter der Leitung von Elizabeth Prommer geht es nun darum, weitere Fakten zu den Geschlechterverhältnissen im Literaturbetrieb zu sammeln und fragen wie diese zu stellen: Wie viele Frauen stehen an der Spitze von Verlagen? Allerdings beschränkt sich die Pilotstudie auf den deutschen Literaturbetrieb. Wie die Situation im Schweizer Literaturbetrieb aussieht, bleibt noch zu erforschen. Eine erste Analyse der Geschlechterverhältnisse im Schweizer Kulturbetrieb unternimmt eine 2021 veröffentlichte Studie der Universität Basel unter der Leitung von Andrea Zimmermann. Für die Literatur stellt die Studie «ein zunehmendes Bewusstsein für Ungleichverhältnisse» fest. Beispielsweise haben mehr und mehr Frauen* leitende Positionen im Literaturbetrieb inne.


Wer ist der Kanon?

Mit Zählen hat auch eine andere wichtige Debatte zu tun: Die Frage nach dem literarischen Kanon. Welche Leseliste von welcher Schule man auch wählt, welche Person man auch nach den gelesenen Klassikern befragt: Die Zahl der Bücher von Autoren ist stets höher als jene von Autorinnen. Das liegt an den vielschichtigen Ausschlussmechanismen in der kulturellen Traditionsbildung. Doch nun, in der Gegenwart im Jahr 2021, sind auf verschiedenen Ebenen Bestrebungen im Gang, den literarischen Kanon zu verändern und vielfältiger zu machen. Denn es gibt und es gab in der Literatur immer gleichrangige weibliche Stimmen, die jedoch oft nicht als Klassiker wahrgenommen wurden und werden.

In der Kanon-Debatte gibt es verschiedene Initiativen, etwa die von Sibylle Berg, Simone Meier und anderen Autorinnen gegründete Seite «Die Kanon». Hier findet man Listen mit Frauen aus verschiedenen Bereichen der Kunst und Wissenschaft, jedoch ohne historische Gliederung. In der Schweiz erlangte die Diskussion um den literarischen Kanon zusätzliche Aktualität durch den nationalen Frauenstreik am 14. Juni 2019. Mit Performances, Lesungen und Editionen riefen Autorinnen zu Unrecht wenig wahrgenommene Autorinnen in Erinnerung. «Alte Meisterinnen» heisst ein Textzyklus der Autorinnengruppe RAUF über Klassikerinnen der Literatur. «Frauen haben schon immer geschrieben – genauso (wenig) genial wie Männer», sagen die Autorinnen von RAUF in einem Interview über den Literarischen Kanon.

Auch die Tatsache, dass sich schreibende Frauen in Gruppen wie RAUF kollektiv vernetzen, lässt sich als Reaktion auf bestehende Machtverhältnisse im Literaturbetrieb deuten. Die neuen Gruppierungen bringen neue Dynamik. Und die Arbeit am Kanon ist nach wie vor wichtig: Gerade dieser Tage erzählte mir eine Freundin, dass ihr Sohn im Deutschunterricht am Gymnasium seit Jahren nur Texte von männlichen Autor*innen lese.

Auch an Universitäten werden Leselisten revidiert, und Wissenschaftler*innen reflektieren die Kanon-Bildung. Zudem werden derzeit die Werke zahlreicher Autorinnen neu übersetzt und / oder herausgegeben, wie etwa Clarice Lispector (1920-1977), Tove Ditlevsen (1917-1976), Gabriele Tergit (1894-1982), Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) oder Adelheid Duvanel (1936-1996). Mit der Buchreihe «Femmes des Lettres» macht der Secession Verlag Werke vergesser europäischer Autorinnen der frühen Neuzeit – oft zum ersten Mal – auf Deutsch zugänglich, etwa die Novellen «Enttäuschte Liebe» von María de Zayas (1590– 1647) oder die Gedichte von Sidonia Hedwig Zäunemann (1711-1740)

Ein beachtenswertes Buchprojekt ist auch der neu erschienene Band «Frauen | Lyrik. Gedichte in Deutscher Sprache». Das Buch versammelt über 500 Gedichte aus zehn Jahrhunderten und wirft einen multiperspektivischen Blick auf die Überlieferung und Kanon-Bildung. Dass sich die Edition von wiederentdeckten Autorinnen für die Verlage auch finanziell lohnt – Tove Ditlevsens «Kopenhagen-Trilogie» etwa war ein Bestseller –, verweist auf ein verändertes Interesse der Leser*innen. Bücher, die Frauenleben thematisieren, und feministische Bücher taugen nun für den breiten Buchmarkt und sprechen Leser*innen unterschiedlicher Altersgruppen an.

Aus der Debatte über Geschlechterverhältnisse im Literaturbetrieb und aus den Bemühungen um mehr Gleichberechtigung und Diversität auf verschiedenen Ebenen muss letztlich auch ein verändertes Verständnis von Autorschaft, oder eben Autor*innenschaft, folgen. Literarische Kreativität sollte sich ohne Geschlechtervorstellungen denken lassen. Aber auch hier ist eine Ungleichzeitigkeit zu beobachten; ein Nebeneinander von hartnäckigen traditionellen patriarchalen Mechanismen und Denkmustern ebenso wie ihrer Kritik und vielfältigen, emanzipatorischen Ansätzen.

Die alten Stereotypen sind noch nicht verschwunden, was sich zum Beispiel darin zeigt, dass es immer noch fast vorwiegend männliche Autor*innen sind, die als «Intellektuelle» von den Medien befragt werden, um die Welt und das Leben als Gesamtes zu erklären – etwa Adolf Muschg im (etwas entgleisten) Interview in der «Sternstunde Philosophie» im April 2021. Frauen dagegen kommen zwar manchmal auch vor, dann aber als Expertinnen, die spezifisch zu einem Thema befragt werden und (noch) nicht als Welterklärerinnen.

Das Problem am hergebrachten literarischen Kanon sei, dass «ein einseitiges Bild vom Genie als etwas Männlichem» entstehe, sagt das Autorinnenkollektiv RAUF im Interview mit der «NZZ am Sonntag». Dieses einseitige Bild des*der prototypischen Autor*in als Mann bröckelt und wird jetzt schon neu gedacht. Dazu tragen derzeit sehr viele Stimmen bei – es sind viele mehr als die oben genannten und viele von ihnen äussern sich vorzugsweise im Internet. Der Prozess ist im Gang und wird andauern. Hauptsache, es herrscht Bewegung. Denn der Kanon ist ebenso wie Literatur und Gerechtigkeit work in progress.


Martina Läubli ist Kulturjournalistin bei der «NZZ am Sonntag» und Leiterin des «Bücher am Sonntag». Sie hat Germanistik und Theologie studiert. Im Rahmen ihrer Dissertation «Subjekt mit Körper» beschäftigte sie sich mit der Erschreibung des Selbst bei Jean-Jacques Rousseau, Karl Philipp Moritz und W.G. Sebald.



Bild: Collage aus Bildern von Colleen ODell und Pete Linforth auf Pixabay.