Von Lea Dora Illmer über Gaslicht von Jessica Jurassica, aufgeführt am 27. April 2022 im Kunstmuseum Basel.

Hinweis: In diesem Texte geht es um Gewalterfahrungen und darum, wie diese die (Selbst-)Wahrnehmung beeinflussen können. Es werden jedoch keine Details der Gewalthandlungen geschildert.

©Lea Dora Illmer

Gaslicht ist die wörtliche, deutsche Übersetzung von Gaslighting. Der Begriff bezeichnet eine bewusstseinsmanipulierende Form psychischer Gewalt, die das Opfer verrückt erscheinen oder sich verrückt fühlen lässt.[1] Üblicher ist es, im Deutschen das englische Kompositum zu verwenden. Jessica Jurassica jedoch wählt für den Titel ihrer performativen Lesung bewusst das weniger gebräuchliche, deutsche Wort Gaslicht. Warum sie das tut, ist Teil ihrer Geschichte. In diese weiht sie uns ein: Das bis in alle Ecken und Enden des Raumes – stehend, sitzend und liegend – verteilte Publikum an diesem ausverkauften Abend im Kunstmuseum Basel.

Aber: Worin weiht sie uns ein? Was stellt sie siebzig Minuten lang in diesen schummrigen Raum – versprachlicht, vertont und beleuchtet? Worüber spricht die Kunstfigur Jessica Jurassica mit ruhiger, wenngleich gefühlvoller Stimme, gekleidet mit weisser Sturmmaske und goldenem Trainingsanzug, dessen Jäckchen sie sich während der Performance wie eine zweite Haut mehrmals an- und abstreift?

Das Kunstmuseum schreibt in der Veranstaltungsankündigung, Jessica Jurassica stelle mit Gaslicht ihre Traumata in den Raum und erzeuge damit «einen öffentlichen Heilungsmoment». In Anlehnung an Louise Bourgeois, die ihre Traumata in Form der «Cells» isolierte und in Ausstellungsräume stellte, schafft auch Jurassica einen durchlässigen Raum, in dem Gewaltvolles benannt wird und Platz erhält. Ich bin unsicher, ob ich mich danach geheilt fühle. Aber ich fühle – viel. Die 70-minütige Lesung ist intensiv und einnehmend, was dem hörbaren Atmen, Seufzen und Raunen im Publikum nach nicht nur mir so geht. Einige schliessen die Augen, müssen vielleicht die Augen schliessen, andere legen sich hin.


Raum einnehmen als Heilung

Was mit einer kollektiven Geschichte, mit dem Frauenstimmrecht und Britney Spears beginnt, geht in Jurassicas eigene, innerste Erfahrungen über. Sie erzählt von traumatischen Gewalterfahrungen, die auf den ersten Blick nur lose zusammenhängen. Auf den zweiten Blick wird klar: Das verbindende Element ist ein anonymer Er, ein Platzhalter und Stellvertreter, manchmal in der Einzahl und manchmal in der Mehrzahl. Dieser Stellvertreter macht sichtbar, dass patriarchal motivierte Gewalt System hat.

Jurassica legt offen, dass Gaslighting nicht nur im Kleinen, Privaten, sondern auch im Grossen, in den Institutionen und Strukturen wirkt. Die Soziologin Paige L. Sweet definiert Gaslighting als «the mind-manipulating strategies of abusive people, in both politics and interpersonal relationships.»[2] Paige hebt hervor, dass Gaslighting ein soziales Phänomen ist. Eines, das in sozialen Ungleichheiten – insbesondere gender und Sexualität – wurzelt. Was die losen Stränge und Fäden bei Jurassica zusammenspinnt, ist das übergeordnete Gefühl einer Dissonanz, einer Unstimmigkeit, die durch Gaslighting bei der betroffenen Person erzeugt wird.

Die Unstimmigkeit entsteht zuallererst daraus, in einer patriarchalen Gesellschaft eine Frau zu sein. Der Glaubenssatz der Gleichberechtigung schwebt zwar über uns, wir bekommen versichert, ein aktiver Teil der Gesellschaft zu sein. Gleichzeitig wird uns verweigert, Raum einzunehmen. Tun wir es doch, werden wir abgestraft. Weisen wir auf diese paradoxen Zusammenhänge hin, wird unsere Wahrnehmung delegitimiert: «Du spinnst doch», ist die Reaktion. Gegenderte Stereotype werden dabei aktiviert, hält Sweet fest: «These tactics are gendered in that they rely on the association of femininity with irrationality.»[3]

Die tiefgreifenden Konsequenzen von Gaslighting sind Selbstzweifel. Und – wie in Jurassicas Fall – Sprachlosigkeit. Eine Dissonanz zwischen Nähe, Vertrauen und Gewalt zu erfahren, ist verstörend. Wie kann das, was uns nah und vertraut ist, gewaltvoll sein? Das gilt für Nahbeziehungen genauso wie für die Gesellschaft, in der wir leben. Mir fallen feministische Bezüge ein, ich denke an Franziska Schutzbachs Schilderungen in «Die Erschöpfung der Frauen». Sie beschreibt darin, wie subtile, allgegenwärtige gewaltvolle Erlebnisse und Grenzüberschreitungen an unserer ureigenen Wahrnehmung rütteln, uns in eine «(Selbst)-Wahrnehmungskrise»[4] stürzen können. Wir beginnen, uns zu misstrauen: War das Erlebte tatsächlich eine Grenzüberschreitung oder übertreibe ich? Bin ich zurechnungsfähig oder paranoid?

Wahrnehmungsunsicherheiten entstünden auch dadurch, so Schutzbach, dass es für diese Erfahrungen «oft (noch) keine Sprache und keine Legitimität»[5] gäbe. Dass Jurassicas Heilungsmoment darin besteht, öffentlich Raum einzunehmen und sich eine Stimme zu geben, liegt auf der Hand: War es doch die Anforderung, möglichst wenig Raum einzunehmen, leise zu sein, die sie in erster Linie krank machte. Er sprach ihr diese Erfahrung ab: sie habe bloss ein «unterkomplexes Raumverständnis».


Nicht nur in romantischen Beziehungen

Jurassica betont, dass psychische Gewalt nicht bloss in romantischen Nahbeziehungen und Familien vorkomme. Sie selbst hatte Mühe, sich das einzugestehen. Auch Freund*innenschaften können gewaltvoll sein, toxisch, manipulativ. Sie erzählt von einem WG-Haus und einer Gemeinschaft, die sie erst abhängig machte, um ihr dann die Zuneigung zu entziehen. Der typische Mechanismus von Gaslighting. Ihre Erfahrung fiel in die Zeit der Pandemie, die mit einer Verstärkung von Isolation und Abschottung einherging. Jessica Jurassica zog sich innerhalb ihrer WG in ihr Zimmer, ihre «Zelle» zurück, wurde depressiv, entwickelte eine Angststörung.

Sie beschreibt die Erfahrung der psychischen Krankheit bildhaft und haargenau. So genau, dass es beim Zuhören für Beklemmung sorgt und das Gefühl der Enge spürbar wird. Es muss in diese Zeit gefallen sein, dass Jurassica begann, Videos von Louise Bourgois zu schauen, Videos, in denen diese Orangen schälte. Auf besondere Art und Weise: Die Schale blieb als Ganzes zurück, als Orangenpenismann. Auch er wird zum Stellvertreter. Jurassica erkannte, während sie ebenfalls Orangen schälte, dass ihre Erfahrungen keine universellen sind – wie etwa «Europapolitik» – sondern spezifisch weibliche. In vielen der gewaltvollen Erfahrungen, die Jurassica machen musste, wird ihr Frau-Sein, ihr Körper, ihre Sozialisierung gegen sie verwendet und dazu genutzt, ihre Perspektive zu bagatellisieren. Diese Strategien gründen auf patriarchalen Machtphantasien und Universalitätsansprüchen.


Eingereiht in feministische Genealogien

Wenn sie das englische Wort Gaslighting dachte, sagte die Stimme in ihrem Kopf, «du übertreibst». Der Begriff sei Unsinn, «als wärst du nur Opfer». Dachte sie aber Gaslicht, sagte die Stimme: nichts. Und so machte sie sich daran, Wörter neu zu erfinden, zu erproben, sich Zwischenräume in der Ordnung der Sprache zu suchen, und eroberte sich die Sprache damit zurück. Jedes Wort so, dass es standhalten konnte. Sie begann mit Lesen, dann fing sie wieder an, zu schreiben. Jurassica beruft sich auf andere Frauen, die von Gewalt erzählten, Worte fanden für Unaussprechliches, Traumatisches. Sie nennt Verena Stefan, ihren autobiographischen Roman Häutungen, den sie gleich zwei Mal las. Sie bezieht sich auf Federn lassen, die interpunktionslose Novelle von Regina Dürig und auf das Archiv der Träume von Carmen Maria Machado – das Buch, von dem sie dachte, dass es erst noch geschrieben werden müsse.

Jeder dieser Texte, so fällt Jurassica auf, handelt vom selben Thema, von ihrem Thema. Und sie fragt sich: Soll sie ihre Geschichte überhaupt noch schreiben? Aber wenn Erzählungen wie Impfungen, wie Immunisierungen wirken, dann braucht es deren Vielzahl und Vielfalt. Jede Stimme ist eine Stimme mehr. Von gewaltvollen Erfahrungen zu berichten kann warnen, vielleicht sogar davor bewahren. Es kann bei der Heilung unterstützen. Es kann aber auch dabei helfen, für die eigenen Erfahrungen überhaupt erst eine Sprache zu finden. Es kann das Mitteilen erleichtern oder erst ermöglichen. Daher entschloss sich Jessica Jurassica nach der Lektüre all dieser Bücher, ihre Geschichte zu erzählen, den Erzählungen eine weitere Stimme hinzuzufügen. Trotz der Angst und entgegen dem Schutzmechanismus, Gewaltvolles nicht zu benennen. Für Jurassica war es das Wichtigste, nicht zu schweigen. «Der Mensch meines Lebens bin ich», zitiert sie Verena Stefan. Jurassica hat die alte, durchlöcherte Haut, die «geschundene Membran» abgelegt, genau wie die Protagonistin aus Häutungen und die Orangen von Louise Bourgois. Wenn Organgenpenismänner trockneten, stellt Jessica Jurassica zum Schluss fest, werden sie immer kleiner und kleiner.

©Fotos zur Verfügung gestellt von Jessica Jurassica



Lea Dora Illmer studiert Geschlechterforschung, Philosophie und Literaturwissenschaften an der Universität Basel. Ihre Masterarbeit schreibt sie zur sogenannten Frauengesundheitsbewegung in der Schweiz. Daneben schreibt sie für die an.schläge und andere Magazine. Sie ist Mitbegründerin des Vereins FKK (Feministische Kulturkritik).


[1] Vgl. Paige L. Sweet (2019): «The Sociology of Gaslighting». In: American Sociological Review 84 (5), S. 851.

[2] Ebd., S. 852.

[3] Ebd., S. 851.

[4] Franziska Schutzbach (2021): Die Erschöpfung der Frauen. Droemer Verlag, S. 45.

[5] Ebd., S. 46.



Bild: ©Lea Dora Illmer