Von Selina Schönbächler. Dieser Beitrag ist Teil der Serie «Barbie im Spannungsfeld (queer-)feministischer Theorien und Aktivismen».
Ich muss mich anstrengen, doch bitte nicht zu anstrengend sein
Mich sexy anziehen, doch darf auch nicht zu anziehend sein
Ich muss dünn sein, aber lieber auch nicht zu dünn
Muss mir anhören, Sexismus ist doch gar nicht so schlimm
Ich muss Kinder kriegen, denn ich bin ja bald dreissig
Muss Karriere machen, nicht girly sein, aber weiblich
Ich muss smart sein, muss für mich einstehen
Aber nicht schwierig sein, bis alle einsehen…
…ich bin eine Frau. 2021 veröffentlichte Antje Schomaker ihr Lied Ich muss gar nichts. Mit dem feministischen Song beschreibt sie, wie sie dauernd ungefragte Ratschläge bekommt und ihre Weiblichkeit gegen sie gewendet wird. Genervt von den herablassenden Kommentaren anderer Personen zu den ersten Songskizzen, legte sie das Projekt erst mal beiseite. Als sie nach einer Pause wieder den Mut und die Kraft fand, ihre Skizzen einem Produzenten zu zeigen, wurde der Song weiterbearbeitet und schliesslich fertiggestellt/veröffentlicht. Schomaker sagt, dass sie mit dem Lied ein Statement setzen will: Sie allein entscheidet über ihr Leben und Menschen sollen aufhören, einander aufgrund (geschlechts-)stereotyper Annahmen zu bewerten. Diese Erfahrung, dass Frauen immer gesagt wird, was sie zu tun haben, wurde letztes Jahr mit dem Barbie-Film nochmals klar und deutlich der ganzen Welt dargelegt und kritisiert. Gloria (America Ferrera) findet in ihrem Monolog die treffenden Worte, indem sie sagt:
You have to be thin, but not too thin. And you can never say you want to be thin. You have to say you want to be healthy, but also you have to be thin. You have to have money, but you can’t ask for money because that’s crass. You have to be a boss, but you can’t be mean. You have to lead, but you can’t squash other people’s ideas. You’re supposed to love being a mother, but don’t talk about your kids all the damn time. You have to be a career woman but also always be looking out for other people. You have to answer for men’s bad behavior, which is insane, but if you point that out, you’re accused of complaining. You’re supposed to stay pretty for men, but not so pretty that you tempt them too much or that you threaten other women because you’re supposed to be a part of the sisterhood.
Die Zeilen aus dem Song Ich muss gar nichts und dem Bekenntnis von Gloria beschreiben bestens, was unter Weiblichkeitsnormen zu verstehen ist. Es sind die Vorstellungen, Projektionen, Eigenschaften und bestimmte Formate, die an Frauen gestellt werden. Diese Normen durchdringen alle Lebensbereiche von Frauen – Rollenerwartungen, Körperideale, Schönheitsstandards, Kleidung und Konsumgüter – sie sind kulturell tief verwurzelt und oft so selbstverständlich, dass sie schwer zu erkennen sind. Sie sind zudem so widersprüchlich, dass es unmöglich ist, ihnen vollständig zu entsprechen. Da solche kulturell geprägten Verhaltensweisen unsere Handlungs- und Gestaltungsmacht beeinflussen, braucht es vor allem Mut, diese zu durchbrechen. Diesen Mut konnte ich vor kurzem wieder mal nicht aufbringen.
Ich wollte im Kraftbereich meines Fitness-Studios trainieren – schaffte es aber nicht. Weil ich mich selbst begrenzte. Schon aus der anderen Ecke des Studios erblicke ich nur Männer, die im Kraftbereich laut atmend und übertrieben Männlichkeit performten. Letztere ist eng mit den Weiblichkeitsnormen verknüpft, da Männlichkeitsideale, die ebenfalls gesellschaftlich geprägt sind, patriarchale Strukturen reproduzieren und damit das sozial konstruierte Frauenbild zementieren. Ich entschied mich dagegen, meine Übungen zu machen, weil sich in mir alles sträubte, mich den Blicken dieser Männer schutzlos auszusetzten. Ich hatte keinen Bock auf die unausgesprochenen Erwartungen, mich beweisen zu müssen. Danach fühlte ich mich, als hätte ich verloren. Verloren gegen das Patriarchat und gegen die starken Normen, in welchen ich mich als Frau bewege. Diese Szene löste in mir wieder einmal Minderwertigkeitsgefühle aus, weil ich nicht den Mut hatte, mir das zu nehmen, was mir zusteht: ein Raum, in dem ich frei von sozialem Druck Kraftsport treiben kann. Ich hasste mich dafür, nicht genug stark zu sein.
Wie ganz viele andere Frauen auch, entschied ich in dieser Situation bewusst, meine intentionale Handlung (Kraftübungen) und mein Verhalten (nicht im Kraftbereich zu trainieren) durch selbst auferlegte Grenzen zu beschränken. Damit reproduzierte ich gleich mehrere Normen, die uns, sowohl als kleine Mädchen als auch kleinen Buben, nahegelegt werden. Wie wir Entscheidungen treffen, fusst nicht auf irgendeiner Freiheit, sondern darauf, wie wir sozialisiert worden sind. Dies bedeutet, dass sich Normen durch die unterschiedliche Erziehung von Mädchen und Jungen sowie durch tradierte Rollenbilder und deren sozialen Positionen verfestigen und gegenseitig verstärken. Auch im Fitness-Studio, befeuert durch eine ungewollt entstandene Übereinkunft: Indem ich nicht in den Kraftbereich ging und stattdessen auf die Yogamatte auswich, prägte/bestätigte ich das Bild von Frau, die zu schwach für die grossen Hanteln ist und sich besser mit weniger anstrengenden Übungen die Zeit vertreibt. In einer binären Welt lernen also beide Geschlechter anhand dieser Situation erneut, dass die Yogamatte die bessere Wahl für Frauen darstellt und der Kraftbereich für die «harten Jungs» ist.
Da mich andere Personen als feminin lesen, wird mir automatisch ein gewisses Verhalten zugeschrieben und dies legitimiert vermeintlich, wie sich andere mir gegenüber verhalten dürfen. Ich wollte nicht in den Kraftbereich gehen, weil ich mich schutzlos fühlte vor den Blicken der Männer, die vom Rand aus alle Frauen genau musterten. Sie fühlten sich als Männer legitimiert, mir auf meinen Arsch zu starren oder meine kleinen Brüste zu bewerten, da sie aufgrund meines femininen Aussehens bereits klare Vorstellungen von mir als Person hatten, obwohl sie mich nicht persönlich kennen. Diese klaren Vorstellungen darüber, wie Frauen zu sein und auszusehen haben, sind mit konkreten Erwartungen verbunden, die es zu erfüllen gilt. Frauen verbringen sehr viel Zeit damit, diesen Anforderungen nachzukommen, um zu gefallen und Anerkennung für ihre Arbeit zu bekommen. Gelingt es einer Frau beispielsweise dünn zu sein, wird sie sogleich dafür wieder kritisiert: «…aber lieber auch nicht zu dünn». Daher bin ich überzeugt, dass es nicht die Weiblichkeit gibt. Aber es gibt die Normen und diese werden je nach Kontext immer wieder neu geformt und bestätigt. Die Ambivalenz, Normen erfüllen zu wollen und sich bewusst dagegen zu wehren, ist anstrengend. Gloria kommt ebenfalls zu diesem Schluss und konstatiert:
…It is literally impossible to be a woman. You are so beautiful, and so smart, and it kills me that you don’t think you’re good enough. Like, we have to always be extraordinary, but somehow, we’re always doing it wrong.
Deshalb plädiere ich für mehr Schomaker und wünschte es würden alle – auch ich – einsehen: ICH MUSS GAR NICHTS.

Ich bin Selina Schönbächler (sie/ihr, 28J) und mich interessieren insbesondere Fragen, wie Geschlechterverhältnisse und öffentliche Räume sich gegenseitig beeinflussen. Die Fragen sind manchmal nur in meinem Kopf, manchmal werden sie in Diskussionen platziert oder schriftlich verarbeitet.
Beitragsbild: Foto von Maria Lupan auf Unsplash.