Von Luzia Knobel.

Wie viele sind es? flüstere ich meiner Sitznachbarin ins Ohr. Sie betrachtet das Publikum und zählt: «Eins, zwei, drei. Drei Menschen lese ich als Männer!». Zwei von ihnen kratzen übereifrig mit ihrem Stift über das Papier und markieren damit ganz eindeutig ihre Berufszugehörigkeit. Ein exzellent besetztes Podium an der BuchBasel: Die Literaturkritikerin Martina Läubli diskutiert mit der Autorin Tabea Steiner, der Geschlechterforscherin Andrea Zimmermann und der Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert über Autorinnen im Literaturbetrieb. Und wer hört zu? Ein weitgehend weibliches Publikum.

Nichts Neues, aber umso frustrierender! Warum interessieren sich kaum Männer für die Lebenswelten von Autorinnen ?[1] Warum denken sie, ein solches Podium gehe sie nichts an?

Frauen schreiben seit Jahrhunderten über ihre Erfahrungen im Patriarchat. Hätte man ihre Texte oder diejenigen von versklavten Menschen ernst genommen, hätte man sich mit den Inhalten auseinandersetzen müssen»

verdeutlicht Nicole Seifert den Zuhörenden. Deshalb sei es kein Zufall, wessen Texte gelesen, wessen Worte gehört wurden. Es sei auch kein Zufall, dass viele der Autorinnen vergessen, mehr noch, aktiv aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt wurden. Trifft diese Feststellung auch auf heute zu? Erfahren Autorinnen und ihre Texte noch immer wenig Sichtbarkeit, werden abgewertet, übergangen und ausgeschlossen?


Der Literaturbetrieb wird als weiblich wahrgenommen

Zunächst scheint die Vorstudie Geschlechterverhältnisse im Schweizer Kulturbetrieb, welche Andrea Zimmermann und ihr Team im vergangenen Jahr an der Universität Basel durchgeführt haben, eine solche Annahme zu widerlegen: Der Literaturbetrieb ist in Bewegung und wird insgesamt als weiblich wahrgenommen. Es gibt ein zunehmendes Bewusstsein für Ungleichheitsverhältnisse und zahlreiche Bestrebungen für Kollaborationen, Netzwerke und gegenseitige Unterstützung. Frauen übernehmen leitende Positionen, Jurys sind bereits auffallend geschlechtergerecht besetzt und auch in den Programmen der Literaturfestivals finden sich vermehrt Autorinnen.[2]

Bei genauerem Hinsehen wird aber ersichtlich, dass die qualitativen Ergebnisse der Vorstudie sehr wohl auf strukturelle Ausschlüsse verweisen. Autorinnen erzählten in Interviews von ihren Erfahrungen im Literaturbetrieb. Dabei wird deutlich, dass der Beruf ein hohes Ausmass an Mobilität und Flexibilität erfordert. Lesereisen, kurzzeitige Förderprogramme, Residencies in anderen Ländern und Beziehungspflege nach Feierabend setzen Zeit-, Organisations- und Energieressourcen voraus, über die Menschen mit Fürsorgeverpflichtungen nur selten verfügen. Dabei gestaltet sich die Vereinbarkeitsproblematik für Mütter und Eltern zusätzlich kompliziert, erklärt Andrea Zimmermann, was mit einer bürgerlich-patriarchal geprägten Geschlechterordnung zu tun habe. In dieser Ordnung wird dem Männlichen das Kulturschaffen, die Gestaltung der öffentlichen Sphäre sowie eine Lebensweise ohne Sorgetätigkeiten im Bereich der Familie oder dem als privat deklarierten Umfeld zugeschrieben. Das Weibliche hingegen wird ganz in diesen Bereich der Privatheit verbannt.

Die Vorstudie zeigt, dass die Vorstellung eines männlichen Schriftstellergenies, das über eine ‹natürliche Begabung für Sprache› verfügt, nach wie vor wirkmächtig ist. Diese Figur stellt ein autonomes, leidenschaftliches Künstlersubjekt dar, das sich seiner Veranlagung wegen zur Kulturproduktion eignet. Alles, was in Konkurrenz zu diesem Narrativ steht, muss daher unsichtbar gemacht werden. Die Anstrengungen reproduktiver Arbeit, zerstückelte Zeitabläufe, Schreibblockaden oder Nebenerwerbstätigkeiten sind nur einige Beispiele, die nicht ins Bild eines Autors passen, der sein Leben einzig und allein dem Schreiben widmet. Diese Erfahrungen werden als privat und persönlich abgetan und somit nicht nur unsichtbar gemacht, sondern auch als einzigartige Problemstellungen individualisiert. Es sind diese Erfahrungen, welche die Berufsverläufe von Autorinnen und aller anderen, die diesem normativen Standard des Autors nicht entsprechen, ganz wesentlich prägen und die ihr Bestehen im Literaturbetrieb erschweren.

Ein weiterer Punkt betrifft die finanzielle Situation von Autorinnen. Über Geld wird nicht gesprochen, auch nicht im Literaturbetrieb. Die Löhne, Gagen, Vorschüsse und Honorare bleiben intransparent. Männer verlangen in der Regel höhere Gagen als Frauen, betont Tabea Steiner, und Verlage bezahlen Männern höhere Vorschüsse. Ist Literatur von Frauen weniger wert? Ein teuer eingekauftes Manuskript muss der Verlag auch besser vermarkten. Für ein Buch mit niedrigerem Vorschuss wird folglich weniger getan. Und das führt meist zu weniger Sichtbarkeit.


Vergessen geschieht lautlos, aber aktiv

Zu diesen strukturellen Bedingungen kommen Abwertungsmechanismen hinzu, die auf die inhaltliche Ebene abzielen. Nicole Seifert führt in ihrem Buch Frauenliteratur zwei Argumente aus, welche die Schriftstellerin Joanna Russ in How to Supress Women’s Writing 1983 ausgearbeitet hat: Die Verdrängung von Autorinnen aus der öffentlichen Wahrnehmung erfolge einerseits durch die Abwertung der Gegenstände ihrer Literatur und andererseits durch die Zuordnung ihrer Texte zu einer «minder gewerteten Gattung von Literatur».[3] Konkret heisst das: Von Autorinnen verhandelte Themen werden nicht als allgemein relevante Inhalte eingestuft. Sie gelten als spezifisch, von Frauen für Frauen. Frauenliteratur ist in dieser Logik Sonderliteratur.

Das zieht einen ganzen Rattenschwanz mit sich: Was nicht als hohe Literatur gilt, wird nicht kanonisiert, wird nicht in die Lehrpläne und Curricula integriert. Was nicht gelehrt wird, hat keine Reichweite und wird nicht kritisiert. Was nicht kritisiert wird, erhält wiederum keine Aufmerksamkeit, wird folglich auch nicht gefördert und auch weniger gekauft. So gerät Literatur von Frauen im Normalfall in Vergessenheit. Dies «geschieht lautlos, unspektakulär und allüberall»,[4] wie die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann schreibt. Vergessen erfolgt derart unbemerkt, dass wir versucht sind, den Verteidiger:innen des männerdominierten Kanons zu glauben, wenn diese behaupten, es hätte in der Vergangenheit nun mal keine schreibenden Frauen gegeben. Nicole Seifert zeigt pointiert auf: Vergessen geschieht zwar lautlos, aber es geschieht aktiv. Dem Vergessen liegen Entscheidungen und Abwertungsstrategien zu Grunde.


Verkannte literarische Traditionslinien

Im Schulunterricht nur die Literaturgeschichte von schreibenden Männern zu vermitteln, ist eine Entscheidung. Eine, die auch für die Literaturkritik weitreichende Folgen hat, wie Nicole Seifert ausführt. Innovative ästhetische Strategien ‹weiblichen Schreibens› werden verkannt. Kritiker:innen versäumen es, Werke von Frauen in literarische Traditionslinien einzuordnen, weil ihnen die Grundkenntnisse feministischer Literaturgeschichte fehlen. Stattdessen werden Stilmittel von Autorinnen als ‹banal›, ‹trivial›, ‹kitschig› oder ‹naiv› abgetan. Das sei keine Literaturkritik, sagt Seifert, sondern Misogynie.

So publizierte Die Zeit 2019 einen Verriss von Karen Köhlers Roman Miroloi unter dem Titel «Hier stellt sich jemand dumm».[5] Köhler prangert Geschlechterverhältnisse an und verpackt ihre scharfe Kritik in poetische Sprache. Auch heute noch werden häufig jene Bücher vernichtend bewertet, die «spezifisch weibliche Lebensumstände und gesellschaftliche Missstände»[6] schildern. Nicht selten vermengt sich dieses Urteil mit einer persönlichen Abwertung der Autorin.

Wie über Literatur berichtet und wer wie verrissen, gelobt, übergangen wird, ist eine Entscheidung. Ebenso welche Qualitätskriterien für ‹gute› Literatur geltend gemacht werden oder welche Bücher Jurys prämieren, welche Autor:innen sie fördern. All das sind Entscheidungen, die man auch anders hätte treffen können, die man anders treffen kann.


Erinnern als Praxis

Die gute Nachricht lautet: Weil Bücher von Autorinnen aus der Literaturgeschichte ausgeschlossen wurden, gibt es in der Vergangenheit unglaublich viel zu entdecken»

Nicole Seifert Frauenliteratur 2021, S. 170

Initiativen wie die Kanon oder die Reihen 10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen und Alte Meisterinnen versuchen den zementierten Literaturkanon zu erschüttern und aktiv das Erinnern zu praktizieren. Auch die Social-Media-Aktionen #frauenzählen, #vorschauzählen oder #dichterdran machen auf die bestehenden Machtverhältnisse im Literaturbetrieb aufmerksam. Während viele ‹Frauenverlage› und ‹Frauenbuchläden› der 70er Jahre verschwunden sind, publizieren neugegründete feministische Verlage wie der Verlag Sechsundzwanzig oder AKI «neue Bücher zum Überwintern in einer misogynen Welt».[7] Andere, wie Aviva, das vergessene buch, Edition Fünf, oder die Buchhandlung Paranoia City existieren schon länger. Sie alle haben sich der Wieder- und Weiterverbreitung vergessener Texte und der Förderung von Autorinnen angenommen.

Wir erinnern uns, es tut sich was: viele Menschen arbeiten unaufhörlich daran den Literaturbetrieb zu transformieren. Dass dies immer noch notwendig ist, darüber sind sich die drei Podiumsgäste an diesem Mittag einig. Wer die Erfahrungen des Ausschlusses teilt, zweifelt nicht an der Relevanz dieses Gesprächs an der BuchBasel, begrüsst eine öffentliche Debatte über die Strukturen des Literaturbetriebs und die Aufmerksamkeit für Autorinnen. Es bleibt nur zu wünschen, dass Bücher wie Frauenliteratur dieses Jahr ihren Weg unter möglichst viele Weihnachtsbäume finden. Denn, nicht nur das Vergessen, sondern auch das Erinnern können – und müssen – wir aktiv praktizieren.

Luzia Knobel studiert Geschlechterforschung und Geschichte an der Universität Basel. Sie arbeitet zu Themen der Geschlechtergeschichte und ist Co-Koordinatorin des Vereins Frauenstadtrundgang Basel. Sie ist Mitbegründerin von FKK (Feministische Kulturkritik).


Fussnoten

[1] Die Begriffe «Autorin», «Frau», «weiblich», «männlich» etc. werden hier als historisch gewachsene Setzungen und soziale Konstrukte verstanden. Im Text werden sie (ausser es geht um eine spezifische Person oder um ein Zitat) kursiv geschrieben, um zu markieren, dass der Literaturbetrieb von binären Geschlechterkategorien geprägt ist. Dies beeinflusst auch die Datenlage, auf welcher wissenschaftliche Studien und sozialpolitische Analysen basieren. Tatsächlich sind die gelebten Geschlechteridentitäten jedoch weitaus vielfältiger und die Auswirkungen dieser Zwei-Geschlechterordnung gestalten sich für viele Menschen unterschiedlich. Sowohl dieser Text als auch die angeführten Analysen reproduzieren diese normativen Setzungen, um sie gleichzeitig zu kritisieren und zu politisieren.

[2] An dieser Stelle sei angemerkt, dass das Verlagswesen in der Vorstudie nicht untersucht wurde. Siehe auch: Zimmermann, Andrea, Diana Baumgarten, Daniela Gloor, Hanna Meier und Luzia Knobel: Geschlechterverhältnisse im Schweizer Kulturbetrieb. Eine qualitative und quantitative Analyse mit Fokus auf Kulturschaffende, Kulturbetriebe und Verbände. Vorstudie im Auftrag von Pro Helvetia und dem Swiss Center for Social Research 2021.

[3] Seifert, Nicole: Frauenliteratur – Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt. Köln 2021. S. 91. Siehe auch: Russ, Joanna. How to Suppress Women’s Writing. Austin 1983.

[4] Assmann, Aleida: Formen des Vergessens. Göttingen 2016. S. 30.

[5] Müller, Burkhard: Miroloi. Hier stellt sich jemand dumm. In Die Zeit vom 21. August 2019.

[6] Seifert 2021, S. 143.

[7] Affenzeller, Margarete: Neue Bücher zum Überwintern in einer misogynen Welt. In Der Standard vom 22. November 2021.


Bannerbild: Die Podiumsveranstaltung «Im Gespräch: Autorinnen* im Literaturbetrieb» mit Martina Läubli, Nicole Seifert, Tabea Steiner und Dr. Andrea Zimmermann, während der BuchBasel am 06.11.2021. ©Flavia Schaub / BuchBasel