Von Johanna Glaus. Dieser Beitrag ist Teil der Serie «Barbie».
Ich lernte Leila (Name geändert) durch den Freundeskreis meiner Mutter kennen. Beide, Leila und meine Mutter, sind blind. Leila kam mit einem Sehrest von 15% zur Welt, welcher kontinuierlich abnahm, bis sie Mitte 30 vollends erblindete. Bei einer Tasse Tee im März dieses Jahres erzählte ich ihnen von meinem Seminar zu Barbie und bat Leila darum, mit mir ein Interview zu machen, da mich ihre Perspektive zum Thema interessierte.
Barbie, die ikonische Puppe von Mattel, hat in vielen Kindheiten eine zentrale Rolle gespielt. Die Blicke zurück können nostalgisch und liebevoll sein, aber auch entfremdend und feindlich. Leila beschrieb ihre Beziehung als komplex und polarisierend. Als Kind besass Leila keine eigene Barbie, erlebte aber das Spielen mit der Kultpuppe bei Freundinnen. Als sie die Puppe das erste Mal in den Händen hielt, empfand sie diese als steif und ausdruckslos. Barbie verkörperte für sie ein Bild von Schönheit und Perfektion, dass sie nicht nur nicht erreichen konnte, sondern auch nicht anstrebte. Ausserdem erlebte sie das Spiel mit Barbies Modezubehör und Hygieneprodukten als langweilig und eintönig.
Barbie erschien ihr hochnäsig, sie repräsentierte für sie die Menschen, die stolz auf ihr Aussehen sind und andere aufgrund dessen abwertete. Sie hingegen bevorzugte Menschen, die natürlicher und «verstrubbelter» waren, im Gegensatz zur makellosen Barbie. Freund*innen, welche keine Angst hatten, authentisch zu sein, auch wenn das manchmal aneckte.
Mit zunehmendem Alter wurde ihre Ablehnung gegenüber Barbie stärker. Leila kritisiert mir gegenüber das unrealistische Körperbild, das die Puppe vermittelt: grossbusig und extrem schlank. Diese unerreichbaren Proportionen zu romantisieren, sei schädlich für junge Menschen, die mit Barbie als Vorbild aufwachsen. Die Puppe repräsentiere eine Oberflächlichkeit und eine fehlende Lebensfreude, die sie nicht inspirierend finde. Barbie wirke mehr wie eine Dekoration, denn als eine Persönlichkeit, mit der man sich identifizieren könne.
Ein steifes Bild: Vorstellung des Äusseren
Als Leila Kinder bekam und ihnen von Verwandten Barbies geschenkt wurden, kam sie erneut intensiv mit der Puppe in Kontakt. Beim Spielen mit ihren Kindern fiel ihr auf, wie unflexibel und steif Barbie war. Das starre, kühle Material der Puppe erschwerte lebendige, fantasievolle Spiele. Ihre Kinder, die gerne lebhaft spielten, fanden es herausfordernd, Barbie in ihre Geschichten zu integrieren. Sie wollten Tanzen und Faxen machen und dafür sei die Puppe einfach zu unbeweglich. Weil Barbie als Abbild einer jungen Erwachsenen präsentiert wird, wird von ihr erwartet, ein Vorbild zu sein, doch sie wirkt leblos und animiert nicht dazu, eigene Geschichten zu entwickeln. Sie beschrieb das Gefühl bildlich:
Man spielt mit einer Frau in schönen Schuhen und edlen Kleidern, welche ja nicht dreckig werden dürfen; das limitiert, denn man muss immer elegant bleiben.»
In ihren Händen stellte sie sich Barbie immer mit langen, blonden Haaren und blauen Augen vor – das Bild einer Frau, die stereotype Schönheitsideale und Prinzessinnenfiguren verkörperte. Auch die Kleidung – in ihrer Vorstellung meist rosarot oder weiss – spiegelte für sie ein Bild der Eleganz wider, das nicht zu ihrer Idee von einem vielseitigen Spielzeug passte. Als ich ihr von der Farbe «Barbie Pink» erzählte, war sie überrascht, dass Barbie mit einer lebendigen und knalligen Farbe vermarktet wird. Aus ihrer Perspektive hat Barbie keinen eigenen Standpunkt und steht für nichts Provokantes. Ihr ganzes Wesen ist konsumierbar.
Barbie war in ihrer Vorstellung stets darauf bedacht, schön auszusehen, egal welchen Job sie hatte oder welchem Hobby sie nachging. Sie stellte sich Barbie sowohl im Büro als auch beim Reiten in der Freizeit vor. Leila war überrascht zu hören, dass Barbie in ihrer Laufbahn über 200 Berufe ausgeübt hat, da sie dies nicht mit der Puppe in Verbindung brachte.
Barbie und Diversität
Als sehbehinderte Person empfand Leila das Spielen mit Barbie als besonders herausfordernd. Die Puppe und ihr Zubehör sind stark visuell ausgerichtet – farblich passende Schuhe und Kleider zu finden, war nur mit Hilfe anderer möglich, da sich alles ähnlich anfühlte. Auch die mangelnde Flexibilität der Puppe machte das Spielen schwierig, da Barbie leicht umkippte und nicht geschmeidig genug war, um realistische Spielszenarien zu unterstützen.
Obwohl Barbie inzwischen mehr Diversität in Form von unterschiedlichen Hautfarben und Körperformen bietet und es sogar Rollstühle und Hörgeräte im Zubehörsortiment hat, fehlte bis zum Sommer dieses Jahres eine Barbie, die das Leben einer blinden Person widerspiegelt.
Doch Leila überrascht es nicht, dass es bis vor kurzem (mit Ausnahme der Helen Keller Puppe aus der Linie «Inspiring Women») keine blinde Barbie gab: Barbies Welt ist eine visuelle Welt. In ihr geht es darum sich zu präsentieren, alles zu können und dabei elegant zu bleiben.
Die neue Vielfalt an Barbies mit verschiedenen Hautfarben, Körperformen sowie mit unterschiedlichen Behinderungen sei, so Leila, zweifellos ein Fortschritt. Doch trotz dieser Entwicklung bleibe eine grundlegende Herausforderung bestehen: alle Barbies strahlen weiterhin ein übermässig perfektes Bild aus. Es gibt keine Barbies, die wirklich aus der Rolle fallen, die Mängel aufweisen oder die an den alltäglichen Herausforderungen, mit denen viele Menschen konfrontiert sind, scheitern. Selbst die Barbies mit Behinderungen strahlen eine nahezu makellose Perfektion aus. Eine solche Darstellung übergeht die schwierigen und unperfekten Aspekte des Lebens.
Dieser Perfektionismus führt zu einem hohen Anspruch an Menschen, auch im Anderssein alles unter Kontrolle zu haben und stets lächelnd durch das Leben zu gehen. Es entsteht ein leistungsorientierter Druck, der wenig Raum für Fehler und Schwächen zulässt. Eine Barbie, die variabel ist und nicht den Anspruch erhebt, perfekt zu sein, wäre vielleicht eine Lösung. Doch möglicherweise ist dies in der Welt des Spielzeugs nicht umsetzbar. Dennoch sollte auch Raum für Humor und Fehlerhaftigkeit geschaffen werden und es sollte die Möglichkeit geben, aus diesen Erfahrungen zu wachsen. Genau das wünscht sich Leila: Freude, Humor und Lebendigkeit. Aus diesem Grund zeige Barbie derzeit «nur die Hälfte der Realität».
Es sei wichtig, erklärt Leila, dass Menschen sich in ihrer Ganzheit empfinden und zeigen können – in dem, was stark ist und gedeiht, aber auch in dem, was noch ungelöst, schmerzhaft und schwer ist. All diese Aspekte gehören zum Menschsein, unabhängig davon, ob jemand eine Behinderung hat oder nicht. Beide Realitäten sollten ihren Platz haben – das Helle und das Dunkle – und beides sollte mitgenommen werden. Es sei entscheidend, nicht die eigene Lebendigkeit abzuwürgen, indem man nur den geschliffenen, starken Anteil akzeptiert und zeigt.
Wider die Eindeutigkeit
Die Spannung zwischen Vielfalt und Perfektionismus wirft die Frage auf, ob Barbie ein grösseres gesellschaftliches Problem widerspiegelt, das viele Menschen mit Behinderungen betrifft: der Druck, sich möglichst vollständig einer Gesellschaft anzupassen, die nicht inklusiv ist, auch wenn sie sich gerne so darstellt. Was könnte eine alternative Botschaft sein, die Menschen, die mit solchen Herausforderungen kämpfen, besser unterstützt? Was brauchen sie?
Um die Diversität in ihren Produkten zu verbessern, schlägt Leila vor, könnte Mattel die Merkmale verschiedener Charaktere mischen. Beispielsweise könnte es eine glückliche kranke Person geben, einen erfolgreichen Manager, der dennoch traurig ist, einen sympathischen Räuber oder eine humpelnde Königin. Diese Vielfalt, die durch Brüche mit Idealvorstellungen und Stereotypen entsteht, könnte helfen, die Eindeutigkeit von Charakteren zu beseitigen und zu zeigen, dass niemand vollkommen oder unvollkommen ist, und dass es keine klare Trennlinie gibt zwischen Gut und Böse, Erfolg und Misserfolg, Gesundheit und Krankheit.
Ein weiterer Ansatz könnte sein, so Leila, Unerwartetes mit Humor zu kombinieren. Humor sei eine mächtige Waffe, um Klischees zu durchbrechen und neue Perspektiven zu eröffnen. Durch unerwartete Elemente könnten Charaktere und Geschichten entstehen, die Menschen überraschen und zum Nachdenken anregen.
Das Gespräch mit Leila hat mir nochmals verdeutlicht, wie wichtig es ist, über den Perfektionsanspruch hinauszublicken und den Raum für das Unvollkommene, das Menschliche zu schaffen – denn authentische Begegnung entsteht dort, wo wir uns in all unseren Facetten zeigen dürfen. Indem wir nur die perfekte Hälfte von uns selbst präsentieren, nehmen wir uns die Chance, einander wirklich zu begegnen und kennenzulernen. Der Wert eines Menschen hängt nicht davon ab, was er kann oder nicht kann – er ist inhärent. Jeder Mensch ist wertvoll, einfach weil er ist.
Johanna Glaus studiert Ethnologie und Geografie. Durch ihre blinde Mutter ist das Thema Sehbehinderung für sie allgegenwärtig und bereichert ihren Studienalltag mit neuen Perspektiven auf vielfältige Fragestellungen.
Bild: Foto einer Barbie und eines Kens mit ihren Accessoires. Foto: C. Zinsstag.