KASSANDRA: Was wir zu sagen haben

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Von Tamea Wissmann


Athene: «Kassandra hat Apollon freundlich abgelehnt und ist gegangen. Aber Apollon? Der konnte das nicht ertragen. Er hat sie verflucht, wie ein trotziges Kind, das nie Teilen gelernt hat. Jetzt sieht sie, was kommt, jedes Detail, jede Katastrophe, und doch hört ihr niemand zu. Ihre Wahrheit ist wie ein Schrei in einem leeren Raum – laut, aber völlig nutzlos»

KASSANDRA, Szene 3

Im Februar 2025 führte das Unitheater Basel unter dem Titel KASSANDRA ein Theaterstück über sexualisierte Gewalt in universitären Strukturen auf. Im Zentrum der Recherchen und des Skriptes standen Vorfälle an der Universität Basel.

Warum?

Kassandra: «Und du, Fachperson für Integrität, du Professorin, du Kollegin, du Freund: Du weisst Bescheid und du schweigst»

KASSANDRA, Szene 8

Im Frühling 2024 entstand innerhalb des Vereins Unitheater Basel zum ersten Mal die Idee, ein Theaterstück zum Thema sexualisierte Gewalt in universitären Strukturen zu machen. Seit ich im Herbst 2021 in meinem ersten Semester an der Uni Basel von Mitstudierenden darüber informiert worden war, dass einer der Professoren, bei dem ich damals ein Proseminar belegte, schwere Übergriffe an einer Doktorandin begangen hatte, beschäftigte mich dieses Thema. Ich war im Sommer 2022 dem Kollektiv Dulifera beigetreten und hatte zusammen mit anderen Studierenden mittels Flyeraktionen, Demos und Kundgebungen versucht, auf das Thema aufmerksam zu machen. Aber die Universitätsleitung, die wir anzusprechen versuchten, hielt sich weiterhin bedeckt und zeigte keine grosse Motivation, die Veränderungen vorzunehmen, welche wir im Oktober 2022 von ihr forderten. Das machte mich wütend. Und es machte auch die Menschen vom Unitheater wütend, allesamt Studierende.

Wir sind der Meinung, dass es zu einem sorgfältigen Umgang mit unseren Bildungsprivilegien gehört, die Bühnen, die wir als Studierende in dieser Gesellschaft erhalten, sinnvoll zu nutzen. Und wir waren uns einig, dass an einem solchen Projekt – einem Theaterstück über sexualisierte Gewalt an «unserer» Universität – ausschliesslich Studierende beteiligt sein sollten. Also keine professionelle Regie, kein professionelles Bühnenbild oder Kostüm. Wir entschieden, den Versuch zu wagen und in einen chaotischen Prozess einzusteigen, in den wir alle erst noch hineinwachsen mussten.

Recherchieren

Kassandra: «Diese Erfahrung lebt jetzt in mir drin und ich kann sie nicht aus mir herausholen. Sie trägt einen Preis und ich kann ihn nicht nennen»

KASSANDRA, Szene 7

Ich sprach zwei Betroffene an, die ich kenne, und stellte ihnen unsere Idee vor. Eine von ihnen verfasste eigens für das Projekt einen Erfahrungsbericht. Die andere schickte mir sofort ihren Erfahrungsbericht und eine genaue Dokumentation der Ereignisse. Erst mit den Betroffenen begann das Projekt. Ohne sie und ihre Erfahrungen bräuchte es kein Theater über sexualisierte Gewalt. Und ohne ihren bemerkenswerten Mut gäbe es KASSANDRA nicht.

Im Herbst 2024 formierte sich das Kernteam aus sieben Spielenden, Regie, Produktionsleitung, Dramaturgie, Kostüm, Bühnenbild und einer aussenstehenden Awareness-Person. Die erste Probephase während des Semesters begann mit einer eingehenden Recherche. Wir lasen gemeinsam die Erfahrungsberichte und schrieben, darauf aufbauend, kollektive Briefe an die Betroffenen:

Ich habe dir zugehört und ich glaube dir und stehe dir zur Seite. 
Ich bin fassungslos. Ich bin wütend. Wütend auf unsere Universität. 
Was nützt die Akademie, wenn sie nicht denken wollen?
Ich kack’ für dich die Uni voll. 
Deine Sichtbarkeit wird nicht vergessen, wir haben die Augen geöffnet, wir schweigen nicht mehr, wir kämpfen und schreien für dich! 
Wir müssen gehört werden. Genau wie du hättest gehört werden müssen.
Warum müssen wir solche Dinge immer noch erleben? Lesen? Schreiben?
Wie können wir dich unterstützen?
Danke fürs Sprechen. Danke fürs Teilen. Danke fürs Sichtbarmachen.
Ich umarme dich und bin überwältigt von deinem Mut und der Kraft, die du hast.
Solidarisch –
Unitheater Basel

Wir tauschten uns aus mit dem Kollektiv Dulifera, lasen Studien, erhielten Inputs von Forschenden, surften auf der Website der Uni Basel und unternahmen einen Silent Walk durch die Stadt, die Augen geöffnet dafür, wie und wo sich Machtstrukturen zeigen. Das Material, welches dabei zusammenkam, fassten wir in einem «Archiv» zusammen. Sobald Material zum Archiv dazukam, improvisierten wir damit, schrieben Gedichte, Gedanken, Dialoge und andere Texte, machten Videos, Bilder und Sprachmemos, die wiederum im Archiv landeten. Schliesslich erarbeiteten wir ein Konzept.

Wir entschieden uns, «Die Troerinnen» von Euripides als Grundlage für die Weiterarbeit zu verwenden. Das 2’500 Jahre alte Stück über die Frauen von Troja, die nach dem trojanischen Krieg verschleppt werden, gab uns Stoff für Kostüm- und Bühnenbildentwürfe und für die Figurenarbeit. Vor allem aber war es ein roter Faden, an dem sich das Skript orientieren konnte.

Das Problem an dieser Vorlage war, dass wir als Laiengruppe nicht die richtigen Werkzeuge hatten, um mit den oftmals sperrigen Textflächen umzugehen. Das kostete uns viel Energie und wir alle würden das bei einem nächsten Mal wohl anders angehen. Nichtsdestotrotz war die Figur der Kassandra, die in Euripides’ «Troerinnen» zentral ist, für den weiteren Prozess sehr wichtig: Sie verkörperte für uns den ständigen Kampf um Glaubwürdigkeit, dem sich Betroffene stellen müssen, sobald sie entscheiden, sich mit ihren Gewalterfahrungen an die Uni als Institution zu wenden.

Repression

Alle: «Die spüren erst den Druck, wenn man ihnen die Forschungsgelder streicht! Die hören erst dann zu, wenn ich ihnen in die Ohren schreie!!

KASSANDRA, Szene 12

Von Anfang an begleitete uns die Frage, ob und mit wie viel Repression wir rechnen mussten. Wir hielten viele Sitzungen zum Thema Repression ab und besprachen uns mit befreundeten Jurist*innen und Aktivist*innen. Möglichst lange hielten wir uns bedeckt, was das Thema des Stücks betraf und outeten keine Beteiligten. Ausserdem erwogen wir den Abschluss einer Rechtsschutzversicherung (die wir uns mit unserem knappen Vereinsbudget sowieso nicht leisten konnten). Spätestens beim Schreiben des Theaterskripts im Januar 2025 mussten wir Antworten auf diese Fragen finden: Dürfen wir offen über die Uni Basel sprechen? Sollen wir die Namen von Tätern nennen? Welche Texte dürfen wir auf die Bühne bringen und inwiefern müssen diese abgeändert werden, um einerseits uns und andererseits die Autor*innen zu schützen? Es sollte sich zeigen, dass uns statt Repression eine Welle der Solidarität und des Engagements entgegenschlug, auch von einigen Dozierenden der Universität Basel.

Eine bewährte Strategie grosser Institutionen im Umgang mit Vorfällen struktureller Gewalt ist es, das Thema so gut wie möglich zu vermeiden und es dann, wenn es nicht mehr vermieden werden kann, als Einzelfall zu betrachten. Auf keinen Fall soll anerkannt werden, dass die strukturellen Bedingungen, welche die Institution prägen und welche die Institution selbst mitgestaltet, Teil des Problems sind. Denn dann müsste sich tatsächlich etwas ändern.

Aufführung KASSANDRA, 2025. Foto © Aayo Röthlisberger.

Engagieren

Hekabe: «Sag doch ‘nein, stopp, halt’. Aber diese Wörter kennt er ja gar nicht. Jetzt habe ich die Kontrolle. Du hast gedacht, du hättest mich gebrochen. […] Scham sinkt in sein Gesicht»

KASSANDRA, Szene 11

Für KASSANDRA hat eine sehr grosse Zahl an Menschen sehr viel unbezahlte Arbeit geleistet, vor allem während der Intensivprobenzeit im Januar und Februar 2025. Es wurde genäht, gestrickt, geschrieben, Wissen geteilt, geklebt, gebrainstormt, Text geübt, ein Magazin zum Thema gestaltet, Stoff eingefärbt, improvisiert, verkabelt, komponiert, choreografiert, geschraubt, geputzt, gesungen, geschrien, gedruckt, gekocht, transportiert, gezeichnet, viel diskutiert, zu wenig geschlafen, organisiert, gespielt, gehofft, geweint, gelacht, geplant, Sitzungen gehalten, Pläne und Ideen wieder verworfen, getanzt, Bretter zerschlagen, Menschen wurden krank aufgrund der Belastung, manche sind aus dem Projekt ausgestiegen.

Der Belastungshöhepunkt für mich als Regie war der Stückdurchlauf, den wir gegen Ende der Intensivprobenzeit vor einem freiwilligen Testpublikum spielten. In der Feedbackrunde danach waren sich die meisten Testzuschauer*innen einig: «Das Ende vom Stück wirkt, als wolltet ihr die Täter schützen». Das Ende des Stücks war unsere eigene Utopie einer hierarchiefreien Uni gewesen, in der sexualisierte Gewalt keine Rolle mehr spielt. Diese Idee war mit einem solchen Feedback natürlich gescheitert. Das durften wir so nicht auf die Bühne bringen.

In einer Nachtschicht krempelten wir den zweiten Teil des Stücks um, strichen die letzte Szene und schrieben neuen Text. Anstelle der Hauptprobe inszenierten wir dann den zweiten Teil des Stücks neu und probten bis in die Nacht. Rückblickend ist mir klar: Das Problem an der ersten Version war nicht die Utopie als solche, sondern unser Weg dahin gewesen. Wir wollten Alternativen zur Strafe im Umgang mit Täterschaft zeigen und nahmen dabei dem Wunsch nach Strafe und Rache, den viele Betroffene hegen, seine Legitimität. So lernten wir kurz vor der Premiere, dass es wichtig ist, beides nebeneinander stehen zu lassen und verabschiedeten uns vom Versuch, diesen Widerspruch aufzulösen.

Aufführen

Hekabe: «Bitte hör mir mal kurz zu.»
Kassandra: «Nein, jetzt hört ihr mir zu. Warum habt ihr die Warnzeichen ignoriert?»

KASSANDRA, Szene 7

Die sieben Aufführungen von KASSANDRA im Februar 2025 waren sehr gut besucht. Es gab Echos aus der Presse (baseljetzt und Bajour) und die Inhalte wurden vom Publikum rege diskutiert. Leider schlugen sowohl die Rektorin der Uni Basel als auch der Pressesprecher, sowie viele weitere Personen aus dem Rektorat, unsere Einladungen zu den Aufführungen aus. Nichtsdestotrotz hat das Thema der sexualisierten Gewalt in Hochschulstrukturen – und was sie mit Betroffenen macht – durch KASSANDRA ein neues Publikum bekommen. Wir konnten unsere Empörung mit sehr vielen Menschen teilen und neue Verbindungen schaffen.

Zufrieden?!

Kassandra: «Ja, ich will gehört werden, ich will Vertrauen, ich will einen Schlussstrich»

KASSANDRA, Szene 12

Ich werde seit den Aufführungen von KASSANDRA hin und wieder gefragt, ob ich «zufrieden» sei mit dem Projekt – und bin jeweils unsicher, was ich antworten soll. Denn ich bin nicht zufrieden. Ich bin unzufrieden mit gewissen Teilen der Umsetzung. Das ist, denke ich, normal. Und ich bin aber vor allem unzufrieden damit, dass die Rektorin, der Pressesprecher, kurz: diejenigen Personen, welche universitäre Machtpositionen innehaben und wirklich etwas an den gewaltvollen Strukturen ändern könnten, das Stück nicht gesehen haben. Mittlerweile denke ich, dass Zufriedenheit weder in der Kunst noch im Aktivismus ein erstrebenswertes Ziel sein kann. Die Leute sollten mich besser fragen, ob es sich gelohnt hat. Denn ich finde, es hat sich gelohnt. Und wir würden es wieder tun.


Weiterführendes

Das Programmheft von KASSANDRA kann sowohl auf der Dulifera-Website, als auch auf der Unitheater-Website heruntergeladen werden.

Bild: Aufführung KASSANDRA, 2025. Foto © Aayo Röthlisberger.