Von Luzia Knobel
Eine Besprechung des Buches «Niemals aus Liebe. Männergewalt an Frauen» von Miriam Suter und Natalia Widla.
Beim Abschied drücke ich meine Freundin fest an mich. Fast beiläufig sage ich: «Schreib mir, wenn du zu Hause bist». Was wie eine Floskel klingt, ist ernst gemeint. Wer Freund*in ist, erkennt den Nachdruck im Unterton und weiss, dass die Sorgen echt und das Versprechen einzuhalten sind. Denn: «Mindestens jede fünfte Frau in der Schweiz erlebt mindestens einmal in ihrem Leben sexualisierte oder anderweitig physische Gewalt durch Männer» (Suter/Widla, 2024: 16).
Ich schreibe diesen Text in der Kalenderwoche 22. Das aktivistische Kollektiv Stop Femizid um Nadia Brügger, Sylke Gruhnwald und Pauline Martinet, zählt zu diesem Zeitpunkt den 15. Femizid in der Schweiz im Jahr 2025. Durchschnittlich alle zwei Wochen – aktuell sogar häufiger – «tötet ein Mann seine (Ex-)Partnerin, seine Frau, Tochter, Schwester oder Bekannte. Jede Woche überlebt eine Frau einen Tötungsversuch» (Suter/Widla, 2024: 29). Diese Gewalt kann jede und überall treffen. Doch «der gefährlichste Ort für eine Frau ist immer noch ihr eigenes Zuhause» (Clemm, 2023: 17). Dass diese Gewalt statistisch viel häufiger im häuslichen Bereich stattfindet, also in nahen Beziehungen und nicht auf offener Strasse, ist längst bekannt. Und doch hält sich in unseren Köpfen hartnäckig das Bild des unbekannten Täters, der uns nachts verfolgt und überfällt. Müsste ich also nicht viel eher sagen: ‹Schreib mir, solange du zu Hause bist›?
Schreib mir, solange du zu Hause bist
Jede fünfte Frau – und für jede gibt es auch einen Täter. Jede fünfte Frau – das bedeutet, wir alle kennen Betroffene. Doch: Wo sind all die Täter? Genau dieser Frage gehen Miriam Suter und Natalia Widla in «Niemals aus Liebe» nach. Sie untersuchen, wie und warum Männer belästigen, drohen, kontrollieren oder töten und welche Risikofaktoren partnerschaftliche Gewalt und Femizide begünstigen. Nach ihrem ersten gemeinsamen Buch «Hast du nein gesagt?», das sich mit der Situation von Betroffenen sexualisierter Gewalt in der Schweiz beschäftigt, wenden sie den Blick nun explizit Tätern von häuslicher oder sexualisierter Gewalt zu: Wer sind diese Männer? Und vor allem: wie liesse sich diese Gewalt verhindern?
Natalia Widla und Miriam Suter reichern das Buch mit persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen an und strukturieren es entlang unterschiedlicher journalistischer Formate: Interviews, Erfahrungsberichte, Beobachtungsprotokolle, Erinnerungsfragmente. So nähern sie sich dem Begriff des Täters aus verschiedenen Perspektiven: Angehörige kommen zu Wort, Statistiken und qualitative Forschungsergebnisse werden analysiert, Gerichtsprozesse beobachtet und Medienberichte verfolgt. Fachpersonen aus Justiz, Politik und Psychologie geben Einblick in ihre Praxis und nicht zuletzt sprechen auch Männer, die Gewalt ausgeübt haben.
Dieser multiperspektivische Aufbau bringt Abwechslung und ermöglicht ein differenziertes Bild der Thematik. Dennoch verlangt das Buch Ausdauer. Das liegt nicht zuletzt am ausführlichen Einstieg ins Thema geschlechtsspezifische Gewalt. Dabei wird deutlich, dass sich das Buch insbesondere an ein Publikum richtet, das mit dem Thema noch wenig vertraut ist, vor allem an Männer. Vielmehr liegt die Herausforderung aber auch in den beklemmenden, teils schmerzhaften Schilderungen der Tathergänge, den Argumentationen der Verteidigung und den Glaubenssätzen der Täter. Doch gerade in diesen persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen sowie den Analysen der exemplarischen Gerichtsprozesse liegt die besondere Stärke des Buches, denn hier werden Muster sichtbar, die über individuelle Schicksale hinausweisen.
«Es ist noch nicht genug passiert»
Einem Femizid gehen «zahllose Überschreitungen, Verletzungen und Erniedrigungen voraus, die in unserer patriarchalen Gesellschaft weder als alarmierend noch als sträflich bewertet werden», schreibt die deutsche Anwältin Christina Clemm in ihrem Buch «Gegen Frauenhass» (Clemm, 2013: 18). Und dennoch will diese Anzeichen meist niemand bemerkt haben. Suter und Widla sensibilisieren für die subtilen Anzeichen partnerschaftlicher Gewalt. Das Buch lädt dazu ein, sich aktiv an die Seite von möglichen Betroffenen zu stellen und gegenüber grenzverletzendem und kontrollierendem Verhalten nicht zu schweigen, sondern die Unterstützungsangebote, auf die das Buch hinweist, einzusetzen.
Auch auf reale Missstände in der Prävention weist das Buch richtigerweise hin: Ein umfassendes Bedrohungsmanagement seitens der Polizei, das auf die frühzeitige Identifikation von Gefährdungen statt auf die Verfolgung begangener Straftaten setzt, könnte die Mechanismen der Gewaltspirale besser erfassen und sie mithilfe von Schutz- und Interventionsmassnahmen rechtzeitig durchbrechen, argumentieren Suter und Widla. Die Istanbul-Konvention verpflichtet die Schweiz seit 2018 dazu, häusliche und partnerschaftliche Gewalt wirksam zu verhindern. Da die Umsetzung in der Verantwortung der Kantone liegt, variiert sowohl das Tempo als auch die Ausgestaltung spezifischer Massnahmen stark. Und das ist frappierend: Während Vorreiter wie Solothurn bereits 2013 ein Bedrohungsmanagement einführen, fehlen andernorts bis heute grundlegende Präventionsinstrumente. Welche Folgen das haben kann, zeigt der Fall von Fabienne in «Niemals aus Liebe»eindrücklich:
Fabienne wird online von einem ihr unbekannten Mann belästigt. Als sie öffentlich dazu aufruft, ihn auf Social Media zu melden, wenden sich zahlreiche weitere Frauen an sie, die ebenfalls von Stalking und Belästigung durch denselben Mann berichten. Eine Frau hatte bereits Strafanzeige gegen ihn erstattet, diese dann aber wieder zurückgezogen. Eine weitere wandte sich an die Polizei. Doch diese entgegnete ihr: «Es ist noch nicht genug passiert (…) [die] Belästigungen seien nicht häufig und schwerwiegend genug, um etwas zu unternehmen» (Suter/Widla, 2024: 81). Später lesen Fabienne und die Betroffenen in den Zeitungen von den Tötungsdelikten des Mannes. Es hätte jede von ihnen sein können.
Der unzureichende Schutz durch staatliche Strukturen hält viele davon ab, sich aus gewaltvollen Beziehungen zu lösen
Meine eigene Erfahrung hat gezeigt, dass Betroffene von partnerschaftlicher und sexualisierter Gewalt viele Jahre lang mit der Last leben, nie nur für sich selbst, sondern auch für potenzielle andere Frauen mitzuhandeln. Sie fragen sich: ‹Hätte ich weitere Gewalt verhindern können, wenn ich darüber gesprochen, ihn angezeigt hätte›? Auch Fabienne schildert eindringlich: «Ich machte mir Vorwürfe und hatte das Gefühl, dass ich damals nicht alles getan hatte, um ihn aufzuhalten. Aber: Hätte es die Polizei interessiert, wenn ich Anzeige erstattet hätte?» (Suter/Widla, 2024: 82).
Im Falle von partnerschaftlicher Gewalt erstatten viele auch deshalb keine Anzeige, weil sie sich eine Trennung nicht leisten können. Oft sind Betroffene finanziell von ihren Partnern abhängig. Darüber hinaus riskierten Frauen ohne Schweizer Pass bis vor Kurzem bei einer Trennung den Verlust ihres Aufenthaltsrechts. Der unzureichende Schutz durch staatliche Strukturen hält viele davon ab, sich aus gewaltvollen Beziehungen zu lösen. Dass es anders geht, machen Suter und Widla mit Blick auf Spanien deutlich: Dort unterstützt der Staat die betroffenen Frauen nach einer Trennung, etwa durch die Bereitstellung einer sofortigen Wohnlösung.
«A man’s home is his castle»
Doch wer sind eigentlich diese Männer, die partnerschaftliche Gewalt ausüben oder einen Femizid begehen? Schnell wird klar: Eine einfache, geschweige denn unsensible Antwort liefern Suter und Widla bewusst nicht. Zu gut kennen sie die Fallstricke, die rechten Narrativen in die Hände spielen könnten. Gleichzeitig verschweigen sie heikle Forschungsergebnisse nicht: So thematisieren sie etwa die «deutliche Übervertretung von ausländischen Täter:innen» (Suter/Widla 2024: 97), ohne rassistische oder vereinfachende Schlüsse zu ziehen. Stattdessen kontextualisieren sie diese Befunde sorgfältig innerhalb patriarchaler und struktureller Machtverhältnisse und entlasten die Täter dabei keineswegs von ihrer Verantwortung. Das Ergebnis ist eine differenzierte und klug argumentierte Analyse, die Verkürzungen konsequent vermeidet.
Bereits zu Beginn stellen die Autorinnen klar: «Es gibt nicht den einen Täter (…) keinen singulären Faktor (…), der dazu führt, dass ein Mann eine Frau belästigt, vergewaltigt, schlägt, stalkt oder umbringt» (Suter/Widla, 2024: 15). Die Täter sind eine heterogene Gruppe. Und dennoch identifizieren Suter und Widla Risikofaktoren, die solche Gewalttaten begünstigen können: allen voran ein patriarchales Weltbild, «dysfunktionale Maskulinität», wie es die Politikwissenschaftlerin Jacqui True nennt, sowie Brüche in der Biografie des Mannes, etwa der Verlust einer Anstellung oder der Tod einer nahestehenden Bezugsperson.
Wie aber zeigt sich dieses patriarchale Weltbild konkret? Miriam Suter und Natalia Widla machen deutlich, dass viele Täter traditionelle Rollenbilder verinnerlicht haben: Der Mann als starker Versorger – eine Vorstellung, die brüchig wird, sobald sich die Partnerin emanzipiert oder das eigene Selbstbild durch Arbeitslosigkeit, Trennung oder biografische Krisen ins Wanken gerät. Gewalt wird dann zum Versuch, verlorene Autorität zurückzugewinnen, das Machtverhältnis wiederherzustellen.
Dabei zeigt sich die Gewalt oft nicht sofort, sondern wird von manipulativen Dynamiken begleitet – etwa über sogenanntes ‹Lovebombing›, intensive Liebesbekundungen zu Beginn der Beziehung, die später in Kontrolle umschlagen: Das Sozialleben der Partnerin wird überwacht – teils auch durch digitale Spyware –, Freundinnen werden abgewertet oder als Bedrohung dargestellt. Was häufig übersehen wird: Viele Betroffene passen ihr Verhalten an, um Eskalationen vorzubeugen. Sie ziehen sich aus ihrem sozialen oder beruflichen Umfeld zurück und verlieren ihre Autonomie. Genau das aber verstärkt ihre Abhängigkeit zusätzlich.
Die häusliche Sphäre, die partnerschaftliche Beziehung wird so zum Ort der Kompensation struktureller Unterdrückung
Diese Mechanismen der Gewalt und Kontrolle, die Suter und Widla beschreiben, lassen sich nicht nur als Ausdruck patriarchaler Geschlechterverhältnisse verstehen, sondern auch kapitalismuskritisch deuten. Ich denke an Silvia Federicis Analyse «Wages against Housework» (1974), in der sie beschreibt, wie sich kapitalistische Ausbeutung in häuslicher Gewalt entlädt: «the more blows the man gets at work the more his wife must be trained to absorb them, the more he is allowed to recover his ego at her expense» (Federici, 2012: 18). Die häusliche Sphäre, die partnerschaftliche Beziehung wird so zum Ort der Kompensation struktureller Unterdrückung – auf Kosten der Frauen. «A man’s home is his castle», schreibt Federici (2012: 18), ein Ort, an dem der Mann regiert, während die Frau seine Launen aushält und ihn wieder aufrichtet, wenn er gebrochen ist. Zwar stellen Suter und Widla fest, dass Männer ihre Frustration meist nicht an ihren Chefs oder Arbeitskollegen auslassen, doch machen sie daraus kein explizit kapitalismuskritisches Argument, was dem Thema eine zusätzliche emanzipatorische Dimension verliehen hätte.
In manchen Beziehungen werden Männer erst dann gewalttätig, wenn sich ihre Partnerinnen nicht länger unterordnen, sich den Erwartungen widersetzen. Besonders gefährlich wird es, wenn die Frau sich trennen oder ausziehen will – laut Miriam Suter und Natalia Widla die ultimative Kränkung der internalisierten männlichen Anspruchshaltung. Und doch: In den Medien und vor Gericht werden diese Fälle häufig als tragische Ausnahmen behandelt. Die Männer werden als fürsorgliche Partner, engagierte Väter oder stille Nachbarn beschrieben, auch Angehörige und Bekannte beteuern: ‹Er doch nicht! Niemals!›. Oder wie es in einem Gerichtsprotokoll heisst: «Mein ganzes Umfeld kann belegen, dass ich nicht gewalttätig bin» (Suter/Widla, 2024: 101).
Gewalt an Frauen ist ein Männerproblem – und jetzt?
Die Autorinnen machen deutlich: Partnerschaftliche Gewalt ist kein isoliertes Fehlverhalten einzelner Männer, sondern Ergebnis eines Zusammenspiels individueller Krisen, psychischer Belastungen und vor allem tief verankerter patriarchaler Machtverhältnisse, die männliche Dominanz und Kontrolle begünstigen und strukturell absichern. Gewalt gegen Frauen ist demnach ein Männerproblem. Genau hier setzen Suter und Widla mit konkreten Handlungsansätzen an: von transformativer Täterarbeit über die Stärkung alternativer Männlichkeitsbilder bis hin zu frühen Interventionen – durch Polizei und Institutionen ebenso wie im Alltag, etwa bei sexistischen Äusserungen im Freundeskreis.
Statt Femizide und Gewalttaten zu individualisieren, besteht das Buch auf unsere kollektive Verantwortung: Gewaltprävention ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Und dafür braucht es auch eine emanzipatorische Männerbewegung, die sich aktiv gegen Männergewalt stellt.
Gleichzeitig schreiben Suter und Widla gegen das ‹gutschweizerische› Zögern an. Sie benennen institutionelle Versäumnisse, kritisieren fehlende Koordination, ungenutzte Handlungsräume und das zähe föderalistische System. Nicht zuletzt zeigen sie, dass es progressive Lösungen gibt, die andernorts längst greifen oder hierzulande seit Jahren auf dem Tisch liegen. Dass sie diese Leerstellen und Versäumnisse so klar benennen, macht das Buch zu einem politischen Appell. Und diese Dringlichkeit ist nötig, damit die Zahl der Femizide zurückgeht, damit geschlechtsspezifische Gewalt nicht länger normalisiert wird.
Literatur
Suter, Miriam und Natalia Widla: Niemals aus Liebe. Männergewalt an Frauen. Zürich 2024.
Clemm, Christina: Gegen Frauenhass. München 2023.
Chapman, Tracy: Behind the wall. 1988. In: YouTube.
Federici, Silvia: «Wages against Housework». In: Silvia, Federici: Revolution at point zero. housework, reproduction, and feminist struggle. Oakland 2012. S. 15–22.
Beitragsbild: Portraits von Natalia Widla (l.) und Miriam Suter (r.). Foto © Ayşe Yavaş. Zur Verfügung gestellt für Rezensionen durch den Limmat Verlag.