Kunst als Möglichkeitsraum, als visionärer Raum für ein lebbares Leben – diesem Motto ist die Gruppe rag (research-art-gender) an der Tagung am 31. Mai an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien (mdw) gefolgt.
Rag ist ein international ausgerichtetes Forschungsnetzwerk der Schweizerischen Gesellschaft für Geschlechterforschung (SGGF), das aus Akademiker*innen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz besteht. Rag verbindet Wissenschaft und Kunst transdisziplinär und trägt so zu einer inhaltlichen Weiterentwicklung der kulturwissenschaftlichen Geschlechterforschung bei. Die inhaltliche Ausrichtung des Netzwerks versteht Wissenschaft und Kunst als gleichwertig: beide können als Instrumente der Vermittlung, Kritik und Intervention genutzt werden. Den folgenden Beitrag formuliere ich als Mitwirkende in rag und als Teilnehmende und Beitragende an der Tagung am 31. Mai 2024 an der mdw in Wien.

An der Tagung Möglichkeitsräume behaupten kamen unterschiedliche Perspektiven auf die Verknüpfung von Kunst, Wissenschaft und lebbarem Leben zu Wort. Das Konzept des «lebbaren Lebens» fragt mit Butler nach den Bedingungen, die ermöglichen, dass Menschen ein in jeder Hinsicht lebbares Leben gestalten können. Es fragt nach Strategien, Visionen und Denkräumen, die hierfür notwendig sind. Und es lässt sich mit Haraways Konzept der «lebbaren Welten» verbinden, das Science und Fiction gleichwertig zueinander in Beziehung setzt.
Die Verknüpfung von künstlerischen Interventionen mit Herrschafts- und Machtkritik eröffnet immer wieder für uns alle benötigte Visionen.»
Zum Auftakt begrüssten die Gastgeberinnen Claudia Walkensteiner-Preschl, Universitätsprofessorin für Medien-und Filmwissenschaft an der mdw, und Doris Ingrisch, Univ. Doz.in, Dr.in, assoziiert am Institut für Kulturmanagement und Gender Studies der mdw, die Anwesenden. Sie betonten, dass in gegenwärtigen Zeiten, in denen Lebbarkeit und Wohlergehen von Mensch und Planet vielerorts in Not geraten sind, die Hinterfragung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, wie sie die Gender Studies charakterisieren, umso relevanter ist. Die Verknüpfung von künstlerischen Interventionen mit Herrschafts- und Machtkritik eröffnet immer wieder für uns alle benötigte Visionen. Denn im Möglichen verbindet sich das Denken der Veränderung, des Zukünftigen und des Potentiellen, so Doris Ingrisch. Sowohl Wissenschaft als auch ganz zentral Kunst spielen in all ihren Facetten für die Behauptung von Möglichkeitsräumen eine bedeutsame Rolle. Und dieser Rolle war diese Tagung gewidmet.
Die Vortragsreihe wurde von Anne-Berenike Rothstein, Professorin für Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz, mit dem Titel «Die Kunst des Überlebens – Klandestine Kultur(produktion) im nationalsozialistischen Konzentrationslager» eröffnet. Rothstein zeigte auf, dass die von Germaine Tillions 1944 im Frauen-Konzentrationslager in Ravensbrück entstandene «opérette-revue» Le Verfügbar aux enfers als «Möglichkeitsraum», genauer als «Heteretopie des Überlebens» verstanden werden kann. Denn sie vereinigt zwei eigentlich unvereinbare Räume: der Raum der Kultur im Raum der Unkultur, der lebensvernichtenden Umgebung des Konzentrationslagers. Durch die neuartige Zusammensetzung vielfältigen Liedguts, durch die Inszenierung in Form von Rezitation und Tanz, aber letztlich auch in der Publikation als Faksimile und in zeitgenössischen Adaptionen schafft die Operette als Heterotopie des Überlebens gleichzeitig einen neuen Kulturraum.
Dass […] fehlende strukturelle Massnahmen nachhaltige Änderungen in den öffentlichen Kunstbetrieben verhinderten.»
Der Beitrag der Historikerin Dominique Grisard, Direktorin des Center for Social Research, lautete «‹Das ist einfach eine andere Art und Weise, zu arbeiten. Mit einer Anerkennung von Arbeit.› Zum ambivalenten Verhältnis von Kuratieren und Care in öffentlichen Kunstbetrieben der Schweiz.» Grisard ging der These nach, dass heute zwar vermehrt ein Wille zum Wandeldes Kuratierens und des kuratorischen Leitens in Kunstbetrieben der Schweiz bestehe und sich teilweise auch in Ausstellungkonzepten sowie in Leitungs- und Arbeitsweisen zeige. Dass aber gleichzeitig fehlende strukturelle Massnahmen nachhaltige Änderungen in den öffentlichen Kunstbetrieben verhinderten. Und doch zeigten sich heute Tendenzen, den Möglichkeitsraum eines ‹caring› Kuratierens, also eines zu den Künstler*innen und Museumsmitarbeiter*innen Sorge-tragenden Kuratierens, zu stärken und zu behaupten.
Der zunächst als Dialog geplante Beitrag von Sophie Vögele, Forschende und Dozierende am Departement Kulturanalysen und Vermittlung, Zürcher Hochschule der Künste ZHdK, und mir wurde von mir als einstimmiger Beitrag eingebracht, da Vögele kurzfristig verhindert war. Ich ging den gemeinsam formulierten Fragen nach, wie Visionen zur Zukunft unseres Planeten aus der Sicht von Nachhaltigkeit stärker mit sozialen Fragen verknüpft werden können und welche Rolle Kunst hier zukommen kann. Anhand der Lektüre von Kim de l’Horizon’s «Blutbuch» von 2022 habe ich aufgezeigt, wie das Queering von Geschlecht, also die Durchbrechung eines binären Geschlechterverständnisses, einen Möglichkeitsraum in diesem Roman auftut. Die Blutbuche wird zum Symbol einer Verbindung von Menschen untereinander und zwischen Mensch und Planet. Die Hauptfigur entwickelt eine «Meersprache» – eine Sprache der Mütter und der Meere – als künstlerisch-sprachliche Intervention der Verbindung, Durchdringung und Untrennbarkeit allen Lebens auf dem Planeten.
Die Suche nach geteilten, nicht von Hierarchien bestimmten Möglichkeitsräumen für ein lebbares Leben verbindet Kreativität und Reflexion, solange akademisches Wissen offen für Unerwartetes bleibt.»
Die Kulturwissenschaftlerin Doris Ingrisch stellte das gemeinsam mit der Filmregisseurin Gabriele Mathes durchgeführte Projekt von Künstler*innen-Gesprächen vor. In diesem Projekt befragten Ingrisch und Mathes Sprachkünstler*innen, Schriftsteller*innen, Ton- und Medienkünstler*innen und Performer*innen dazu, wie deren Lebens-, Denk- und Arbeitsformen in gesellschaftliche Gestaltungs- und Möglichkeitsräume eingebettet waren und sind. Ingrischs Beitrag brachte dabei ein diffractive reading (nach Barad) zur Anwendung, also eine kritische Lesepraxis, in welcher eine dialogische Begegnung zwischen akademischen und künstlerischen Wissensformen entsteht. Die Suche nach geteilten, nicht von Hierarchien bestimmten Möglichkeitsräumen für ein lebbares Leben verbindet Kreativität und Reflexion, solange akademisches Wissen offen für Unerwartetes bleibt. Denn, wie die Gespräche zeigen: künstlerische Möglichkeitsräume können sehr fragil sein, sie haben sich immer wieder mit und gegen gesellschaftliche Erwartungen zu behaupten.
Den schönen und anregenden Abschluss der Tagung bildete das gemeinsame Anschauen des Films «Eine Million Kredit ist normal, sagt mein Grossvater» (2006) von Gabriele Mathes und das daran anschliessende Gespräch von Claudia Walkensteiner-Preschl mit der Filmemacherin. Mathes nutzt in diesem Werk den Möglichkeitsraum dokumentarischer Super-8-Filme aus dem Familienarchiv, ergänzt durch eigene Filmsequenzen aus ihrem persönlichen Bestand, für ihre künstlerisch-reflexive Auseinandersetzung mit Herkunft, Geschlecht, und Ausbruch aus Rollenerwartungen. Dabei wird die Gleichzeitigkeit von Zugehörigkeit und Verbundenheit wie auch Revolte und Neuausrichtung, vermittelt über Bild und sparsam eingesetzte Sprache und Tonspur, zutiefst spürbar.
Das Gespräch von Walkensteiner-Preschl mit der Künstlerin rundete die Tagung mit einem transdisziplinären Dialog ab, an dem sich auch die Anwesenden beteiligen konnten. Dieser Dialog wird rag auch in Zukunft als Inspiration dienen, Möglichkeitsräume der Verbindung von Kunst und Wissenschaft immer wieder zu schaffen und zu behaupten.
Weitere Informationen zur Tagung und den Inputs finden sich im Book of Abstracts.
Christa Binswanger ist Titularprofessorin und Ständige Dozentin für Gender & Diversity an der School of Humanities and Social Sciences der Universität St.Gallen. Als kulturwissenschaftliche Geschlechterforscherin hat sie rag mitinitiiert. Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind: Kritische Sexualitätsforschung; Queer und Affect Studies; inklusive Sprache; Diversität, Inklusion und Intersektionalität.
Bild: Ausschnitt des Posters der internationalen Tagung «Möglichkeitsräume behaupten. Transdisziplinäre Dialoge zu Kunst und Leben» im Mai 2024.