Nicht-staatlicher Umgang mit patriarchaler Gewalt. Erfahrungen aus Qamishlo (Rojava) und Zürich

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Von Hannah Borer.

Am 4. Dezember fand im feministischen Streikhaus in Zürich eine Veranstaltung statt mit dem Titel «Nicht-staatlicher Umgang mit patriarchaler Gewalt. Erfahrungen aus Qamishlo (Rojava) und Zürich». Als Teil der Vorbereitungsgruppe zur Veranstaltung, die im Rahmen der 16 Tage gegen Gewalt an Frauen durchgeführt wurde, möchte ich mit diesem Bericht einige Erkenntnisse festhalten. Eingeladen waren eine Person aus einem Frauenhaus in Qamishlo, ein ehemaliges Vorstandsmitglied des Zürcher Frauenhauses und Personen aus dem aktivistischen Netzwerk «Telefon gegen Gewalt». Ausgehend von den Erfahrungen in Rojava und Zürich wurden verschiedene Aspekte von nicht-staatlichem sowie institutionalisiertem/verstaatlichtem Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt diskutiert.

Beendigung von Gewalt: Eine Staatsaufgabe?

Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein weltweites Problem und kann viele verschiedene Formen annehmen. Leider wird diese Art der Gewalt oftmals immer noch als «Privatsache» angesehen und individualisiert. Geschlechtsspezifische Gewalt gilt als etwas, was im privaten Raum geschieht und dessen Ursache alleine in der individuellen Bösartigkeit der Tatperson begründet liegt. Dabei wird ausgeblendet, dass es sich um ein strukturelles, gesellschaftliches Problem handelt und die Ursachen vielfältig und meistens nicht monokausal sind. Dieses verkürzte Verständnis geschlechtsspezifischer Gewalt führt zu einer täterfokussierten und strafzentrierten Herangehensweise.

Die grundlegende Einsicht, dass das Justizsystem, historisch betrachtet, von patriarchaler Gewalt geprägt ist, wird bis heute nicht genügend mitreflektiert.

Somit scheint es für einige Organisationen und Individuen, die sich gegen Gewalt einsetzen naheliegend zu sein, höhere Strafen, und eine Ausweitung polizeilicher und staatlicher Kompetenzen zu fordern. Dass diese Forderungen sogenannter «Strafrechtsfeminist*innen» jedoch meistens nicht zur Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt beiträgt und in vielen Fällen weitere Gewalt für Betroffene nach sich zieht, zeigen abolitionistische Theoretiker*innen und Aktivist*innen (Loick und Thompson 2022). Sie weisen darauf hin, dass Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt oftmals nicht zur Polizei gehen können oder wollen. Es ist beispielsweise bekannt, dass viele Betroffene sich aus Angst vor Retraumatisierung oder Täter-Opfer-Umkehr nicht an die Polizei wenden. Doch selbst da, wo sich Betroffene trauen, Anzeige zu erstatten, bieten die bestehenden Strukturen im Justizsystem kaum Möglichkeiten, die gesellschaftlichen Dimensionen von Gewalt zu reflektieren und basierend darauf langfristige Veränderungen des Systems anzustossen.

Die grundlegende Einsicht, dass das Justizsystem, historisch betrachtet, von patriarchaler Gewalt geprägt ist, wird bis heute nicht genügend mitreflektiert. Die Frage, wie wir als Gesellschaft Verantwortung für das Aufkommen geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt tragen und wie wir damit umgehen können und sollten, kann in diesem Rahmen nicht verhandelt werden. Denn, wie Abolitionist*innen betonen, kann das täterfokussierte Bestrafen unseres Justizsystems das legitime Gerechtigkeitsbedürfnis der gewaltbetroffenen Person nicht immer befriedigen.

Staat, Staatlichkeit und Selbstverwaltung

Justizsysteme sind in der Gegenwart ein Instrument des Nationalstaates. Sie dienen der Durchsetzung jener Normen, Hierarchien und Ein- respektive Ausschlüsse, auf denen das Konzept des modernen Nationalstaats basiert. Der moderne Nationalstaat ist mit der Durchsetzung des Kapitalismus als weltumfassendes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem entstanden und dient dessen Erhalt. Insofern als dass das kapitalistische System auf die Trennung von Besitzenden und Proletariat, auf die gratis verrichtete Reproduktionsarbeit und auf die Prekarität einer proletarischen Reservearmee angewiesen ist – insofern beansprucht der Staat das Monopol darauf, diese Grundpfeiler durchzusetzen (Löffler 2005, 122). Im Konzept des modernen Nationalstaates ist also auch dieser die einzige Institution, die – in Form von Polizei, Militär und eben Justiz – Gewalt ausüben darf. Staatlichkeit im Sinne moderner Nationalstaaten ist also immer hierarchisch, gewaltausübend, und dient dem Erhalt des Status-Quo einer patriarchal-kapitalistischen Gegenwart.

[A]utonome Strukturen [bieten] Anknüpfungspunkte für Alternativen zu nationalstaatlichen Justizsystemen und Gewaltmonopolen.

Autonome Strukturen oder Selbstverwaltungen wie die Autonome Administration Nord- und Ostsyriens (Rojava) lehnen diese Konzepte der Staatlichkeit ab. Auch in diesen Strukturen muss ein Zusammenleben organisiert und gesellschaftliche Regeln aufgestellt und durchgesetzt werden. Im Gegensatz zu Nationalstaaten versuchen aber basisdemokratische, autonome Strukturen diese Aufgaben gemeinschaftlich zu organisieren ohne Gewaltmonopole, Hierarchien und Ausschlüsse. Dass diese Versuche nicht auf Anhieb gelingen und die theoretischen Überlegungen nicht eins zu eins in die Realität übertragen werden können, ist evident. Dennoch bieten solche autonome Strukturen Anknüpfungspunkte für Alternativen zu nationalstaatlichen Justizsystemen und Gewaltmonopolen.

Flyer für die Veranstaltung «Nicht-staatlicher Umgang mit patriarchaler Gewalt. Erfahrungen aus Qamishlo (Rojava) und Zürich» vom 04.12.2023 im feministischen Streikhaus Zürich.

Selbstverwaltung: Mala Jîns in Rojava

So beispielsweise in Rojava, wo seit über 10 Jahren ein demokratisches System aufgebaut wird, das die Frauenbefreiung[1] ins Zentrum stellt. Durch basis-demokratische Organisierung wurden neue Gesetze geschrieben, Frauenhäuser (Mala Jîn) gegründet, zahlreiche Schutzhäuser und sogar ein Frauendorf, Jînwar, errichtet. Es wird dort versucht, zwischenmenschlicher Gewalt auf kommunaler Ebene zu begegnen, sowie Prozesse weitgehend nach den Bedürfnissen der betroffenen Person(en) auszurichten. Die Arbeit mit Täter*innen und das Potenzial zur Veränderung durch Bildung werden in diesem System stark gewichtet. Im Zentrum der politischen und zivilen Tätigkeiten gegen geschlechtsspezifische Gewalt stehen die Mala Jîn. Es sind offene Anlaufstellen für alle Arten von familien-, haushalts- und nachbarschaftsgebundenen Konflikte:

Bei allen Fragen, die Frauen betreffen und bei patriarchaler Gewalt ist das Mala Jîn ansprechbar. Es stellt eine Form der erstinstanzlichen Gerichtsbarkeit für Frauen dar. Dabei steht [sic!] der Einigungsgedanke und die Wiedergutmachung durch einen Dialog mit allen Beteiligten im Mittelpunkt. Die Ursachen eines Regelverstoßes sollen untersucht und beseitigt und die Betroffenen geschützt werden.» (Herausgeber_innenkollektiv 2020, 637)

Aus den mittlerweile über 10 Jahren an Erfahrungsschatz in den Mala Jîn in Rojava lassen sich auch für die Versuche, einen nichtstaatlichen Umgang mit patriarchaler Gewalt in der Schweiz zu finden, Erkenntnisse ableiten. Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist, dass die Beendigung geschlechtsspezifischer Gewalt einer langfristigen Perspektive bedarf. Diese Form von Gewalt entspringt einem Macht- und Herrschaftsverhältnis (dem Patriarchat), welches auf ideologischen und materiellen Standbeinen steht.

Die strukturelle Abwertung von Menschen, welche keine cis Männer[2] sind, findet einerseits auf ideologischer Ebene statt, indem beispielsweise alles Weibliche mit Schwäche, Passivität, Emotionalität (versus Stärke, Aktivität und Rationalität) konnotiert wird. Andererseits werden Frauen auf materieller Ebene der Reproduktionsarbeit zugewiesen, welche nicht, oder sehr schlecht bezahlt wird. Dadurch entsteht eine Doppel- bis Dreifachbelastung von Frauen sowie eine Tendenz zu Armut und materieller Abhängigkeit. Auch non-binäre Personen, trans Menschen und weitere Personen, die sich aus der Heteronormativität herausbewegen, sind überproportional von Armut betroffen oder befinden sich in prekären Jobs. Auch juristisch manifestiert sich das Patriarchat, wenn beispielsweise spezifische Formen von Vergewaltigung nicht als Straftat gewertet werden oder die Entscheidungsgewalt über den eigenen Körper nicht gewährt ist. Diese Machtverhältnisse führen zu Besitzdenken, Abwertung und Machtbewusstsein, welche direkt mit geschlechtsspezifischer Gewalt zusammenhängen und gipfelt in (Trans-)Femiziden (Gago 2021).

Besitzergreifende Denkweisen, Vorstellungen von Überlegenheit und von gewaltsamer Verfügbarkeit von nicht-cis-männlichen Körpern müssen verlernt werden.

Ausgehend von diesem Verständnis von geschlechtsspezifischer Gewalt zeigt sich in Rojava in der Arbeit der Mala Jîns, dass Bildung eine wichtige Rolle spielt. Besitzergreifende Denkweisen, Vorstellungen von Überlegenheit und von gewaltsamer Verfügbarkeit von nicht-cis-männlichen Körpern müssen verlernt werden. Dass muss schon im frühen Kindesalter beginnen, aber es zeigt sich auch, dass man(n) nie ausgelernt hat. Hier lässt sich auch sehen, dass Täterarbeit eine wichtige Rolle im Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt einnehmen muss. Täter sollen nicht einfach bestraft werden, es geht vielmehr darum, dass sie verstehen, dass sie Gewalt ausgeübt haben und weshalb sie dies getan haben sowie weshalb geschlechtsspezifische Gewalt bestehende Machtstrukturen zementiert unter denen schlussendlich auch Männer leiden (Connell 2015). Doch auch die materiellen Gegebenheiten müssen sich verändern. Das heisst Gesetze müssen angepasst, finanzielle Abhängigkeiten aus der Welt geschafft und die soziale Absicherung für Armutsbetroffene ausgebaut und gestärkt werden. In Rojava, wo neben dem syrischen Staat autonome Selbstverwaltungsstrukturen aufgebaut werden, wird versucht, solche Massnahmen innerhalb dieser Strukturen umzusetzen. Für die Schweiz lohnt sich hier wohl eine Gleichzeitigkeit von Kämpfen auf institutioneller/staatlicher Ebene wie auch die Selbstorganisierung von Communities.


Hannah Borer (sie) studiert Geschichte und Geschlechterforschung, hat keine Geduld mehr für patriarchale Gewalt und die kapitalistische Misere.



Fussnoten

[1] Da in Rojava selbst und in den theoretischen Schriften sowie in den Berichten über die Strukturen immer von Frauen geschrieben wird, verwende ich in Bezug auf die Situation in Rojava ebenfalls diesen Begriff. Ansonsten werde ich bei geschlechtsspezifischer Gewalt von Gewalt an FTIQ schreiben, da auch Transpersonen, Interpersonen und Queers Gewalt aufgrund ihres (angenommenen) Geschlechts oder Geschlechtsausdrucks erfahren. Diese Gewalt lässt sich ebenfalls mit patriarchalen Strukturen erklären.

[2] Cis Männer sind Männer, denen bei Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde und die sich diesem Geschlecht auch zugehörig fühlen.


Literatur

Brügger, Nadia, und Sylke Gruhnwald, o. J. «Femizide in der Schweiz». Stop Femizid (Blog).

Connell, Raewyn, 2015. Der gemachte Mann: Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Herausgegeben von Michael Meuser und Ursula Müller. Geschlecht und Gesellschaft, Band 8. Wiesbaden: Springer VS.

Gago, Verónica, 2021. Für eine feministische Internationale: wie wir alles verändern. Übersetzt von Katja Rameil. Münster: Unrast.

«Geschlechterspezifische Gewalt gegen Frauen». 2021. humanrights.ch (Blog).

Heinen, Christina, 2022. «‹Die mediale Erzählung hinkt progressiven Entwicklungen hinterher›». mediendiskurs (Blog). 2022.

Herausgeber_innenkollektiv, Hrsg., 2020. Wir wissen was wir wollen: Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien. Widerstand und gelebte Utopien, Band 2. Münster: edition assemblage.

Löffler, Marion, 2005. «Staatlichkeit als Konzept: Innovationspotentiale feministischer Staatstheorie». In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 34(2), S. 119–132.

Loick, Daniel, und Vanessa E. Thompson, Hrsg., 2022. Abolitionismus. Ein Reader. Berlin: Suhrkamp Verlag.


Bild: Flyer für die Veranstaltung «Nicht-staatlicher Umgang mit patriarchaler Gewalt. Erfahrungen aus Qamishlo (Rojava) und Zürich» vom 04.12.2023 im feministischen Streikhaus Zürich (zugeschnitten).