Von Nadia Brügger
Dieser Text ist ein Rückblick und Weiterspinnen der gemeinsamen Veranstaltung mit Jessica Jurassica und Laura Leupi am 2. Mai 2024, wo wir zu dritt übers Schreiben über patriarchale Gewalt gesprochen haben. Die Veranstaltung fand im Humbug Basel in Kooperation mit dem Literaturhaus Basel statt.
Ein bisschen so stelle ich mir das vor, in einer Band zu sein. Bevor wir auf die Bühne gehen, stehen wir zusammen im Kreis und warten, bis alle bereit sind, einen weiteren Beitrag zur Demontage des Patriarchats zu leisten. Öffentlich über patriarchale Gewalt zu sprechen, hat etwas Ermächtigendes, gleichzeitig wappne ich mich innerlich immer dafür. Meinen Mitstreiter*innen geht es womöglich ähnlich. «So, gömmer?», frage ich.
Betroffene zentrieren
Laura Leupi und Jessica Jurassica lesen im Verlauf des Abends abwechselnd aus ihren literarischen Texten vor. Mir fällt auf, wie die Texte miteinander in einen Dialog treten. Beide prägt ein spezifisches Raum- und Zeitverhältnis, sie verweigern sich einer linearen Erzählweise und profitieren vom Dazunehmen feministischen Wissens. Ganz bewusst wählen sie ihre Perspektive. Jurassica meint:
Ich bin mit der Täterperspektive in der Literatur aufgewachsen. Täter sind nicht unsichtbar, die patriarchale Gewalt, die sie ausüben, ist einfach sehr normal und akzeptiert.
Indem die Texte ganz selbstverständlich die Betroffenen und ihr Erleben zentrieren, kommen Leser*innen gar nicht auf die Idee, Sympathie oder Mitleid für Täter zu empfinden. Weder wird die erlebte Gewalt konkret auserzählt, noch geht es um die jeweiligen Tatpersonen. Die sprachlichen Bilder, die geschaffen werden, sind auf diese Explizitheit gar nicht angewiesen: Gerade in den klaffenden Leerstellen erzählen die Texte am eindringlichsten vom Geschehenen.
Körperspeicher
Beide Texte sind ausgesprochen körperlich. Bei Leupi beginnen Objekte, selbst zu Akteuren zu werden, die die Hauptfigur in ihrer Subjekthaftigkeit verunsichern. Wände machen plötzlich Vorwürfe, den Stühlen wachsen Haare. Jurassicas Protagonistin wird zur Zeitreisenden, ihr Körper wird «durchlässig», ihre Haut «löchrig». Die Körper der Protagonist*innen werden zu «Speichern» von Erinnerung und Schmerz (Frei Gerlach 2003, S. 90). Das erinnert an die vielen feministischen Vorläuferinnen der 1970er und 1980er Jahre, die patriarchale Gewalt im deutschsprachigen Raum vermehrt zum literarischen Thema gemacht hatten (Brügger 2023).
In den Texten von Jurassica und Leupi werden unangenehme Sinnesempfindungen – etwas klebt oder stinkt – zu Platzhaltern für das gleichzeitig nicht und eben doch Ausgesprochene:
Ich wohne in einer kleinen Wohnung in einem Haus ohne Garten, mit einem kleinen Balkon und einer Küche und einem Badezimmer und drei Schlafzimmern. Der Nachbar sammelt stinkende Schuhe vor seiner Wohnungstür, und immer, wenn ich nach Hause komme, muss ich mir die Nase zuhalten. Mit zugehaltener Nase klettere ich mühselig die Treppen hoch, bis in den obersten Stock. Es kommt vor, dass ich vergesse, die Nase wieder loszulassen, sodass ich noch Stunden später mit zugehaltener Nase in der Küche sitze.
Leupi, Das Alphabet der sexualisierten Gewalt, 2024, S. 12.
Die Sandsteinmauern schwitzten unsichtbaren Schleim, der an meinen Fusssohlen klebte und der einfach nicht wegging. Ich fegte den Küchenboden dreimal, aber meine Füsse klebten immer noch. Und auch die Zeit klebte […] zwischen den Fingern, zwischen den Zehen, zwischen den Zähnen. Zu willkürlichen Tageszeiten befiel mich eine lähmende Müdigkeit und dann wälzte ich mich im Bett, liess mich von Assoziationsspiralen an Orte zerren, an die ich nicht hinwollte.
Jurassica, Gaslicht, unveröffentlichter Text.

W wie Widerstand
Laura Leupis Alphabet der sexualisierten Gewalt ist dieses Jahr beim März-Verlag erschienen. Es ist eine Art Archiv. Über ein eigens zusammengestelltes Alphabet, über Assoziationen und Erinnerungen versucht die Erzählfigur, eine Sprache für die erfahrene sexualisierte Gewalt zu finden. Unter W heisst es beispielsweise:
W steht für Wut. W steht für Weinen. W steht für widersprechen und Widersprüche. W steht auch für Widerstand.
Leupi 2024, S. 97.
Das Alphabet strukturiert den Text, dazwischen finden sich mal ganz kurze, mal längere Textfragmente, deren Titel sich ebenso ins Alphabet einfügen lassen. Unter Homeoffice heisst es: «Ich versuche, mich zu sortieren, aber mir fehlen die richtigen Büroklammern. […] Ich räuspere mich den ganzen Tag» (Leupi 2024, S. 54).
sadboy abfuck Weltbild
Jessica Jurassicas Roman Gaslicht wird voraussichtlich im Herbst 2025 bei lectorbooks veröffentlicht, ich kenne also erst einige Auszüge aus dem Text. Ausgangslage für Gaslicht war eine Performance von Jurassica im Kunstmuseum Basel. Ihr Text beschäftigt sich mit der Frage nach der selbstbestimmten Aufarbeitung eines erlebten Traumas und damit, wie man sich aus einer kulturellen Prägung heraus-schreiben kann, die eben solche Gewalterfahrungen systematisch verharmlost oder negiert:
Ich hatte Monate, Jahre damit verbracht, mir jene Worte und Ideen anzueignen, die ich so dringend brauchte, um meine Erfahrungen zu beschreiben und mich von dem toxischen Weltbild zu emanzipieren, welches der Gewalt, die ich überlebt hatte, Nährboden gewesen war, dieses lächerliche pseudo bohemian toxic sadboy abfuck Weltbild, in dem auch ich eine Weile zuhause gewesen war.
Jurassica, Gaslicht.
Ein Ort fürs Sprechen über Gewalt
Beide Texte verstehe ich als eine Suchbewegung. Ihnen zugrunde liegt der Versuch, einer Sprache für patriarchale Gewalt habhaft zu werden, einen Ort fürs Sprechen über Gewalt zu finden.
Bei Leupi ist diese Suche in die Form eingegangen: Die Struktur des Alphabets – Leupi bezieht sich damit auf das Alphabet of Feeling Bad der feministischen Theoretikerin Ann Cvetkovich – gibt eine Ordnung vor und unterläuft sie gleichermassen dadurch, dass vieles unerzählt bleibt. Für Leupi bot das Alphabet die Möglichkeit, die Idee eines lückenlosen Erzählens infrage zu stellen, wie Leupi auf der Bühne erklärt.
Bei Jurassica geht die Suche auf die Hauptfigur über: deren rastlose Ortswechsel – Brooklyn, Bern, Basel – verdeutlichen die Schwierigkeit, nach einer Gewalterfahrung erneut einen (inneren wie äusseren) Ort zu finden, der sich sicher anfühlt: «Ich ging ja zuhause in keine Bars mehr, weil da überall Gaslighter und Gatekeeper waren», heisst es im Text. Kurzzeitige Erlösung findet die Protagonistin in einer «Zelle», die sie sich eigenhändig in ihr Zimmer baut.
Kollektiver Schmerz
Mit dem Bild der Zelle nimmt Jurassica auf Louise Bourgeois’ Cells Bezug. Bourgeois hatte ihre Zellen «Strukturen des Daseins» genannt. Fast zwanzig Jahre lang beschäftigte sich die bildnerische Künstlerin mit der Frage, auf welche Weise verschiedene Formen von Schmerz räumlich sicht- und erfahrbar gemacht werden können. In ihren mitten in den Raum gestellten, einsehbaren und begehbaren Zellen, die gleichzeitig Zuflucht gewähren und isolieren, transformierte Bourgeois das individuelle Schmerzfühlen zu einem kollektiv erfahrbaren, das Betrachter*innen miteinbezieht.

Leser*innen werden Zeug*innen
Wie Jurassica die Situation ihrer Protagonistin für die Leser*innen quasi räumlich ausstellt, spricht auch Leupis Text die Leser*innen immer wieder direkt an und macht sie damit zu Zeug*innen der erfahrenen Gewalt:
[M]eine Zeug:innen werden Sie sein. Sie werden versuchen, gemeinsam mit diesem Text das Geschehen und seine Auswirkungen zu erforschen. Und etwas Kontext bekommen Sie auch dazu, versprochen. Vielleicht sogar etwas zum Mitmachen.
Leupi 2024, S. 13.
Dieser Aufruf zum «Mitmachen» bei Leupi und die ins Zimmer eingebaute Zelle bei Jurassica lassen einen Kontrast zutage treten: Die beiden Protagonist*innen fordern über ihre Sprechakte und ihre Positionierung im Raum das Zuhören, das Bezeugen ein, bleiben dabei selbst aber äusserst isoliert. In beiden Texten ist keine Rede von einem bestärkenden Umfeld oder nahen Freund*innen, diese Rolle kommt allein den Leser*innen zu. Damit werden die Leser*innen in die Pflicht genommen. Das Sprechen über die erlebte Gewalt wird aus einem vermeintlich privaten Raum ins Öffentliche verlagert, und es ist gerade diese Öffentlichkeit, die dabei helfen soll, Anerkennung für das Erlebte zu bekommen.
Öffentliches Sprechen als Intervention
Bei Jurassica heisst es:
Als ich dann auf der Bühne stand, passierte etwas Seltsames: Für einen kurzen Moment war plötzlich alles gut. […] Der Auftritt hatte mir genau das gegeben, was ich in jenem Moment am meisten brauchte: Das Gefühl gesehen und gehört zu werden, nachdem ich so lange ignoriert und unsichtbar gemacht worden war, zum Möbelstück degradiert in meiner eigenen Wohnung.
Jurassica, Gaslicht
Wo gesellschaftliche Mechanismen und Institutionen häufig versagen, kann Literatur als öffentliches Sprechen über patriarchale Gewalt zur «Intervention» werden (Pierstorff 2023), die kollektive Veränderung herbeizuführen versucht. Die dominante Erzählung im Patriarchat, so Leupi, sei ja fälschlicherweise gerade, dass der private Raum für Frauen sicher sei. Dagegen sehen die beiden Autor*innen im öffentlichen Raumeinnehmen mittels Literatur eine Form der Ermächtigung. Auf die Schwierigkeit des öffentlichen Sprechens angesprochen und darauf, dass ein Text – gerade eine Autofiktion – oft mit der schreibenden Person überblendet wird, meint Leupi:
Ich erzähle zwar, aber es geht nicht nur um mich. Der Text hat gleichzeitig alles und nichts mit mir zu tun.
Auch Jurassica, die im Gegensatz zu Leupi unter Pseudonym veröffentlicht, findet, dass diese Doppelung von Text-Ich und Autor*in sowieso geschieht und mensch dagegen wenig tun kann. Die Gleichzeitigkeit, Betroffene – also auch Expertin – und Autorin zu sein, ist kein Mangel, sondern eine Position der Stärke. Jurassica ist davon überzeugt, dass Betroffene den Weg in eine bessere Gesellschaft weisen werden. «Niemand kann uns so viel über sexualisierte Gewalt erzählen wie die Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben», schreibt Agota Lavoyer in ihrem neuen Buch zur Rape Culture (Lavoyer 2024, S. 239). Sowohl Leupi als auch Jurassica wissen das, und sie machen dieses Wissen in ihren Texten sichtbar.
Feministische Genealogien
Das Alphabet der sexualisierten Gewalt und Gaslicht reihen sich in eine feministische Kontinuität ein. Die erneute Konjunktur von literarischen Texten, die den vielfältigen Spielweisen patriarchaler Gewalt nachspüren, ist auch in einen Kontext mit dem Erstarken der feministischen Bewegung der letzten Jahre zu setzen. Für die feministische Theoretikerin Barbara Holland-Cunz gehören literarische und politische Arbeit zusammen, «verbinden sich mit theoretischer Erkenntnis und Betroffenheit über den Zustand der patriarchalen Welt» (Holland-Cunz 1988, S. 11).
Ob es um die Auswirkung einer Vergewaltigung auf die Betroffene und ihren Freundeskreis geht (Wilpert 2018), um kulturell dominante Erzählungen, die zutiefst frauenfeindlich und damit gewaltfördernd sind (Hirth 2023) oder um das komplette Versagen von Institutionen und Umfeld bei bspw. Stalking (Leroy 2023): all diese Texte beschreiben in ihrer differenzierten Darstellung patriarchale Gewalt nicht nur als weltweiten «Krieg» gegen Frauen und trans Menschen (Gago 2020, S. 56), sondern greifen aktiv ins gesellschaftliche Sprechen und Nachdenken über diese Gewalt ein.
Von der Rache zur Utopie
Je unterschiedlicher Texte und Perspektiven ausgestaltet werden, desto mehr «Handlungsspielräume» (Geier 2005, S. 61) erschliessen die literarischen Erprobungen ihren Protagonistinnen wie Leser*innen. Rächten sich in den radikalfeministischen Texten der Vorläuferinnen die Protagonistinnen gerne auch mal brachial (bspw. Tikkanen 1975, Reinig 1976, Hahn 1991), lernten Kampfsport (Parei 1999) oder töteten einen Vergewaltiger umgehend mit dem Flammenwerfer (Duve 1999), wird die Rache bei Leupi und Jurassica in Hinblick auf eine mögliche Utopie transformiert: Im radikalen Fokus auf die Betroffenen lösen Leupi und Jurassica in der Literatur ein, was sich Gesellschaft und Institutionen nach wie vor weigern, zu tun. Sie zentrieren das Erleben ihrer Protagonist*innen, geben ihnen Raum und Zeit, bringen sie nicht zum Schweigen und machen deren jeweilige Geschichte zur einzigen, die zählt. Ihre Rache liegt darin, patriarchale Gewalt niederzuschreiben.
Nadia Brügger ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, Geschlechterforscherin und Autorin. Sie forscht, schreibt und spricht u.a. über feministische Bewegungen, geschlechtsspezifische Gewalt und verdrängte Autorinnen und lebt in Zürich. Hier geht es zu ihrer Website.
Im Text werden erwähnt
Karen Duve: Regenroman. Frankfurt am Main 1999.
Ulla Hahn: Ein Mann im Haus. Stuttgart 1991.
Simone Hirth: Malus. Wien 2023.
Jessica Jurassica: Gaslicht. Unveröffentlichte Auszüge. Erscheint voraussichtlich 2025.
Myriam Leroy: Rote Augen. Hamburg 2023.
Laura Leupi: Das Alphabet der sexualisierten Gewalt. Berlin 2024.
Inka Parei: Die Schattenboxerin. Frankfurt am Main 1999.
Christa Reinig: Entmannung. Die Geschichte Ottos und seiner vier Frauen. Düsseldorf 1976.
Märta Tikkanen: Wie vergewaltige ich einen Mann? Reinbek bei Hamburg 1980 (Erstveröffentlichung 1975).
Bettina Wilpert: Nichts, was uns passiert. Berlin 2018.
Literatur
Nadia Brügger: Rache ist heilsam. SRF-Podcast vom 15.9.2023.
Franziska Frei Gerlach: «Schmerzgedächtnis». In: KörperKonzepte, hg. von Franziska Frei Gerlach, Annette Kreis-Schinck, Claudia Opitz, Béatrice Ziegler, Münster 2003, S. 89–99.
Verónica Gago: Feminist International. London 2020.
Andrea Geier: Gewalt und Geschlecht. Diskurse in deutschsprachiger Prosa der 1980er und 1990er Jahre. Tübingen 2005.
Barbara Holland-Cunz: Utopien der neuen Frauenbewegung. Gesellschaftsentwürfe im Kontext feministischer Theorie und Praxis. Meitingen 1988.
Agota Lavoyer: Jede_ Frau. Über eine Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt verharmlost und normalisiert. München 2024.
Cornelia Pierstorff: #Me-Too-Literatur? Sexualisierte Gewalt und die Antworten der Literatur. Geschichte der Gegenwart, 10.9.2023
Bild: v.l.n.r.: Laura Leupi, Nadia Brügger, Jessica Jurassica. Foto privat (zugeschnitten).