Von Verena Hartleitner. Das Stück „Mit der Träne im Knopfloch“ des Theaterkollektivs RaumZeit wird nun wieder aufgeführt. Die musikalische und komische Performance erzählt die zeitlose Geschichte von Johnny Butterfly in Anlehnung an die Herrendarstellerinnen der Bars und Music Halls des 19. Jahrhunderts.

Es ist eine kleine Bühne, ein etwas schief geschnittener Raum, kaum Platz für die sieben Stuhlreihen. Die Atmosphäre ist vorfreudig geladen, denn das beleuchtete Bühnenbild und die dunklen Wände erwecken spektakuläre Erwartungen. Durch die Enge ist das Erlebnis sehr intim. Wir dürfen den Schauspielenden so nah sein, dass wir fast schon im Bühnenbild sitzen. Wir, das Publikum, sind die queere Community Freiburgs – das wird zu Beginn der Show so angekündigt. Wir alle, so also die Behauptung, unterwandern auf die eine oder andere Weise die sexuellen und vergeschlechtlichten Normen und Erwartungen, mit denen wir täglich leben.

Alle sitzen. Die Band betritt die Bühne. Und dann kommt Johnny. Johnny setzt sich auf den Barhocker im Spotlight und schlägt die Beine unter dem blauen Kleid übereinander. Die blonde Perücke fließt über die Schultern und das weit ausgeschnittene Dekolleté. Sanft fängt Johnny an, ein chansonartiges, sehnsuchtsvolles Lied zu singen. Aus Monologen, Songs, Dialogen und Kabarettelementen entsteht eine Reise durch Johnnys Biografie von der Kindheit, in der sich Johnny wünscht, auch ein Junge zu sein, über eine Zeit des Sich-in-der-Welt-Suchens bis hin zur Verwandlung Johnnys in sich selbst – Johnny Butterfly. Unterdessen werden allerhand Transitionen performt: zunächst ein Kleiderwechsel, vom blauen Kleid über die Unterwäsche zum Anzug mit Zylinder.

Was im Theater als Crossdressing bezeichnet wird, hat auf Bühnen lange Tradition, spielten doch auch am Shakespearschen Globe cis männliche Personen Frauenrollen und trugen weiblich konnotierte Kleidung, da nur sie den Beruf des Schauspielers ergreifen durften[1]. Auch die Herrendarstellerinnen des 19. Jahrhunderts vollzogen ein Crossdressing, indem sie die Kleidung wechselten. Anzutreffen waren sie eher in Nischen als auf großen Bühnen, als Solo-Performer*innen, die sich und die Liebste mit der Kunst durchbrachten.

Nic* Reitzenstein als Johnny Butterfly. Ort: Bei den Schönen der Nacht Freiburg. Foto: James Tutor. 

Doch löst das Anziehen geschlechtlich konnotierter Kleidung, die nicht der eigenen zugeschriebenen Geschlechterrolle entspricht, die Binarität essentialistisch gedachter Geschlechterkategorien auch auf? Diese Debatte erreichte in den 1990ern einen Höhepunkt, nachdem Judith Butler in „Gender Trouble“[2] nicht nur das soziale Geschlecht „gender“, sondern auch das biologische Geschlecht „sex“ radikal dekonstruierte, und unter anderem die Drag-Kultur als Beispiel für die Möglichkeit von subversiven Praktiken anführte.

Aktualisiert wurde die Debatte in der Auseinandersetzung um den Film „Paris is Burning“ (US 1991), der die Ballroom-Szene im New York der 1980er ethnographisch dokumentiert. Der Film ist ein Zeitzeugnis der queeren sowie afroamerikanischen und Latino-Communities. Im Rahmen von Bällen fanden in Harlem Wettbewerbe zur möglichst realistischen Erfüllung verschiedenster Gender- und Klassenkategorien, wie etwa „high fashion“, „bangee boy“, „executive“, und „pretty girl“, statt. Laut Butler[3] dokumentiert der Film weder Aufstand noch Unterordnung, sondern zeigt auf, wie der gesellschaftlich geprägte Prozess der vergeschlechtlichten Subjektwerdung durch eigene Regeln verändert werden kann – damit liegt Macht in der Selbstdarstellung, der Performativität an sich.

Eine kritischere Haltung zu Crossdressing, wie es in „Paris is Burning“ dargestellt wird, nimmt bell hooks[4] ein. Der Film hinterfrage die Nachahmung von weissen, privilegierten sozialen Rollen nicht und suggeriere somit das Aufbrechen von materiellen Verhältnissen durch Fantasie. Laut bell hooks bestehe das emanzipatorische Potential der Dokumentation dagegen in der Botschaft, dass das Entdecken und Erfahren der Liebe zu sich selbst für jede Person wichtig ist. Dies werde im Bestreben nach ‚stardom‘, im Bedürfnis nach Anerkennung, Ruhm und Liebe durch ein Publikum, zelebriert. bell hooks stellt aber fest, dass diese Botschaft durch den weissen Blick der Regisseurin Jennie Livingston überschattet werde, die statt einem Ritual nur ein Spektakel projiziere und das alltägliche Leid der Protagonist*innen durch materielle Not und soziale Abwertung unsichtbar mache.

Nic* Reitzenstein als Johnny Butterfly. Ort: Slow Club Freiburg. Foto: Sévérine Kpoti.

Im Stück „Mit der Träne im Knopfloch“ arbeitet der performende Körper Johnnys mit einem Repertoire von Affirmation, Variation und Subversion der Normen. Die Stimme verändert sich in den Musikstücken von hoch, sanft, zu laut, zu kehlig, zu tief, mit Bass, zu irgendwas dazwischen. Die Körperbewegungen sind im blauen Kleid verhalten, wohl bedacht, im Anzug raumgreifend, stürmisch, kraftvoll. Ich beginne mich zu fragen: Ist nicht alles gespielt, Weiblichkeiten wie auch Männlichkeiten? Und was heisst hier „gespielt“?

Die Performance lässt Geschlechterverhältnisse dabei nicht unkommentiert, sondern parodiert dominante Männlichkeiten, indem Johnny selbst von seiner imaginierten Sitznachbarin darauf hingewiesen wird, manspreading und mansplaining zu betreiben. Zudem erzählt Johnny dem Publikum immer wieder von wichtigen Schlüsselfiguren queerer Geschichte, zum Beispiel von der antiken griechischen Mathematikerin und Dichterin Hypatia, von Hans Kayser alias Agathe Dietzschin, die im 16. Jahrhundert als Mann in Freiburg gelebt hat, sowie von den Ballroom-Stars Hetty King, Vesta Tilley und Ella Shields, die als Herrendarstellerinnen die Music Halls und Salons der Welt ihr Zuhause nannten.

Das Thema Sehnsucht, die Träne im Knopfloch, bleibt dabei der affektive Klebstoff des Stückes. Diese Sehnsucht findet sich im Wunsch, ein anderes als das gesellschaftlich zugeschriebene Geschlecht leben zu dürfen, im ganz und gar nicht heteronormativ dargestellten Begehren, in der Suche nach Zugehörigkeit, in der Einsamkeit an der Bar. Johnny fragt mit Herbert Grönemeyer: „Wann ist man ein Mann?“. Die ‚Träne im Knopfloch‘ versinnbildlicht dabei treffend die dennoch oder gerade deswegen genussvolle Ästhetisierung einer Trauer um das unbeschwerte Sein und Werden, welche Johnny gesellschaftlich verwehrt blieben und bleiben.

Die Queerness liegt nicht nur im Stoff des Stückes: Hinter der Bühne wird im Kollektiv produziert, wobei die Rollenaufteilung fliessend und überlappend geschieht – anders als bei der üblichen Trennung von Regie und Schauspiel, die von starken Hierarchieverhältnissen geprägt ist. Zudem wird hier (für) ein queeres Publikum produziert. Denn die Zuschauenden sind nicht nur passiv Konsumierende, sondern ein notwendiger Teil dieses Stückes: Sie erfahren und bezeugen Johnny’s Ringen darum, sein Leben so zu leben, wie es ihr*ihm entspricht. Darauf ist selbst die Logik des Humors ausgelegt; sodass Johnny selbstironisch mit stereotypen Vorstellungen im Raum jongliert und schliesslich das seiner Normen entwaffnete Publikum für sich einnimmt.

Zugegebenermassen habe ich das Stück zweimal gesehen. Das erste Mal tatsächlich für ein queeres Publikum, das zweite Mal in einer städtischen Kultureinrichtung, die ein eher älteres, bürgerliches Klientel anzieht. Obwohl das Stück beide Male funktionierte, war die jeweilige Wirkung unterschiedlich: Das erste Mal gelang die Durchbrechung der vierten Wand, beim zweiten Mal blieb sie intakt. Das Stück macht somit die Grenzen eines heteronormativen, von Geschlechterhierarchien geprägten Theaterbetriebs sicht- und spürbar. Die Queerness vor, hinter und auf der Bühne stellt mit diesem Stück aus der freien Szene den Theaterraum an sich in Frage und kreiert eine Alternative zum grossen, verkorkst-versteiften städtischen Schauspielhaus – vielleicht so wie queere Lebensweisen die heteronormative Alltagswelt durchqueren.

Nic* Reitzenstein als Johnny Butterfly. Ort: Slow Club Freiburg. Foto: Sévérine Kpoti.

Verena Hartleitner studiert Soziologie in Freiburg und Basel. Sie ist in feministischen Kontexten als Aktivistin vernetzt und wünscht sich einen materialistischen, queeren Feminismus.

„Mit der Träne im Knopfloch“
Theaterkollektiv RaumZeit

Nächste Vorstellung
30.03.2022, 20 Uhr in der TheaterBar, Bertoldstraße 46, Theater Freiburg

Zur Produktion
Produktionsleitung: Jenny Warnecke | Theaterkollektiv Raumzeit
Text-Dramaturgie: Jenny Warnecke, Nic* Reitzenstein
Regie & Schauspiel & Gesang: Nic* Reitzenstein als Johnny Butterfly
Komposition & Musik: Burkhard Finckh als Charlie Bee
Musikalische Begleitung: Beni Reimann als Bug’s Beni
Plakat: Ludmilla Bartscht
Pressefotos: James Tutor
Programmblatt: Sonja Neumaier
Übersetzungen Songs «Butterfly» von Danyel Gérard und «I’m Your Man» von Leonard Cohen: Burkhard Finckh
Übersetzung «Die Trompeterin» von Jackie Kay: Susanne Goga-Klinkenberg
Uraufführung 10. Mai 2019


[1] Enderwitz, Anne (2021): Crossdressing auf Shakespeares Bühne. In: Rothstein, A. (Hg.): Kulturelle Inszenierungen von Transgender und Crossdressing: Grenz(en)überschreitende Lektüren vom Mythos bis zur Gegenwartsrezeption, Bielefeld: transcript Verlag, S.16, DOI: https://doi.org/10.1515/9783839450888-002 und Rost, Katharina (2017): Cross-dressing und Queerness auf der Bühne. In: Kreuder, F., Koban, E., & Voss, H. (Hg.): Re/produktionsmaschine Kunst: Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten (Vol. 92). Bielefeld: transcript Verlag.

[2] Butler, Judith. ([1990] 2006): Gender trouble: Feminism and the subversion of identity. New York: Routledge.

[3] Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht: die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin: Suhrkamp, S. 184.

[4] hooks, bell (1992). Is Paris Burning?. In: Black Looks: Race and Representation, University of Toronto Press, S.145-56.

Bild: Nic* Reitzenstein als Johnny Butterfly. Ort: Slow Club Freiburg. Foto: Sévérine Kpoti (Ausschnitt).