Von Tabea Steiner


1. Erica Pedretti hat einmal ein Szegediner Gulasch für mich gekocht, als ich Liebeskummer hatte. Er ist nicht ab der Welt, sagte sie, als sie mir einen zweiten Teller füllte, und damit sollte sie recht behalten.

2. Erica Pedretti ist am 26. Februar 2020 neunzig Jahre alt geworden. Das Kunstmuseum Chur widmete ihr und ihrem Werk in der bildenden Kunst eine Ausstellung. Die Berichterstattung zu ihrem Jubiläum jedoch blieb mager – und auch wenn das Tagblatt die Schau zu den wichtigsten Kunstereignissen des Jahres zählte, so titelte es doch: «Berühmte Männer, spannende Frauen».

3. Kaum eine Schweizer Autorin hat einen so bewegten Lebenslauf hinter sich wie Erica Pedretti. In eindrucksvoll versöhnlichem Ton schildert sie in ihrem zuletzt erschienenen Buch, der in Siebenmeilenstiefeln verfassten Biographie «Fremd genug» (2010), die verschiedenen Stationen ihres Lebens, den Rotkreuztransport gemeinsam mit Auschwitz-Überlebenden in die Schweiz, die verschiedenen darauffolgenden Heimaten, womit nicht nur geographische Orte, sondern auch Sprachen und Menschen gemeint sind.

Pedrettis Werke umkreisen immer wieder das Thema Heimat, als etwas, was nicht fassbar wird, als etwas, das es wahrscheinlich nur in seiner Umkehrung gibt.

4. Pedrettis Werke umkreisen immer wieder das Thema Heimat, als etwas, was nicht fassbar wird, als etwas, das es wahrscheinlich nur in seiner Umkehrung gibt. Zugleich nehmen sie die Verhältnisse, in denen der Mensch lebt, und in denen insbesondere die Frau lebt, in den Blick und analysieren, bilden ab, stellen fest. Erinnerungen, Geschichtserfahrungen, das eigene Leben – stets auch unter dem Fokus einer displaced person – wie auch die Weltgeschichte kommen in eins zusammen, münden in einer Sprache, die ihre Gültigkeit über die Zeit hinweg erhalten hat, in der das Erinnern selbst zum Gegenstand des Erzählens wird.
Das Erinnern wird zum performativen Prozess, immer wieder überlagert vom Wunsch, zu vergessen; Erica Pedretti bleibt eine unverzichtbare Stimme in der Erinnerungsdebatte.

5. Erica Pedretti schreibt sich früh ein in ein autofiktionales Schreiben, worin Erfahrungen, Träume, Ängste der Gegenwart münden. Ihr Debüt, die Miniaturen-Sammlung «Harmloses bitte» (1970) begeistert die Kritik, und in den folgenden Werken bedient sie sich des Genres des nouveau roman, ohne darin verhaftet zu bleiben.
Sie stellt immer wieder Verbindungen her zwischen Literatur und Musik sowie der bildenden Kunst, so etwa in ihren Überschreibungs-Zyklen, worin verschiedene Materialien mit Zeitungsartikeln beklebt und überschrieben werden.
Ausserdem nutzt sie so ausgefallen famose Wörter wie «Mannökel» – was im Schweizerdeutschen eine männliche Spielfigur bezeichnet.

6. Die Erschütterung über eine Hodler-Ausstellung ist Impetus für das Buch «Valerie oder das ungezogene Auge» (1986). Es ist ein Protestbuch, dagegen, dass der Maler, statt seiner krebskranken Frau beizustehen, deren körperlichen Verfall mit dem Pinsel dokumentiert. Und es ist eine kraftvolle, entschlossene Geste, den eigenen Blick, die eigene Wahrnehmung und damit die eigene Wirklichkeit, die eigene Subjektivität den bestehenden Macht- und Geschlechterverhältnissen entgegenzusetzen.
Dies äussert sich auch in ihrem Sprechen, wenn der Kaminfeger und Max Frisch einander in ihren Schilderungen ebenbürtig gegenüberstanden – als Menschen, vielleicht aber auch als Figuren.

[E]ine kraftvolle, entschlossene Geste, den eigenen Blick, die eigene Wahrnehmung und damit die eigene Wirklichkeit, die eigene Subjektivität den bestehenden Macht- und Geschlechterverhältnissen entgegenzusetzen.

7. Erica Pedretti wurde vielfach ausgezeichnet und hat – unter anderem – den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis, den Berliner Literaturpreis, den mitteleuropäischen Literaturpreis, den Schweizer Grand Prix für Literatur, den Sudetendeutschen Kulturpreis für Literatur und Publizistik und als erste Frau den Kulturpreis des Kantons Graubünden erhalten. 

8. Bereits mit ihrem Debüt hat sich Erica Pedretti in der deutschsprachigen Literatur einen Namen geschaffen. Als starke Stimme steht sie fortan in den Traditionen und Strömungen der zeitgenössischen Literatur, geht dabei jedoch stets einen eigenständigen Weg.

9. Man sollte Erica Pedretti nicht nur neu und wieder lesen, sondern auch einen Platz nach ihr benennen, eine Universität mit ihrem Namen beehren, einen Preis stiften.

10. Erica Pedretti nennt Nathalie Sarraute oder Marguerite Duras als Autorinnen, die sie besonders schätzt, Bezüge zu Agota Kristof können hergestellt werden. Aber auch W. G. Sebald oder Jürgen Becker haben das Vorrecht, in einem Atemzug mit ihr genannt werden zu dürfen.


Macht mit!

«10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen»

Mit der Reihe «10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen» halten wir auf diesem Blog die Erinnerung an Autorinnen wach, wollen sie bekannt machen und gleichzeitig Bewusstsein schaffen für Geschlechterungleichheiten im Literaturbetrieb. Kennst auch DU eine Autorin, die dir viel bedeutet und an die du gerne erinnern möchtest? Hier erfährst du mehr.

Quellenangabe

Bild: Porträt von Erica Pedretti. Foto © Sébastien Agnetti. Quelle: Schweizerische Kulturpreise, BAK.