Schweigen, Schreiben und Sprechen bei Audre Lorde

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Von Clara Stolze und Selina Suter. Dieser Artikel entstand im Rahmen des Seminars «Audre Lordes Krebstagebuch. Intersektionalität in Theorie und Praxis» bei Dominique Grisard (Juni 2021).


Ich möchte meinen Zorn und meinen Schmerz und meine Angst vor Krebs nicht in noch einem Schweigen versteinern lassen. Ich möchte mich auch nicht der Kraft berauben, die im Kern dieser Erfahrung stecken kann, sofern ich sie offen annehme und prüfe. Für andere Frauen – Frauen jeden Alters, jeder Hautfarbe und sexuellen Identität, denen bewusst ist, dass das uns auferlegte Schweigen in allen Bereichen unseres Lebens ein Werkzeug der Spaltung und Ohnmacht ist – und für mich selbst habe ich versucht, einigen Gefühlen und Gedanken Ausdruck zu geben […]»

(Audre Lorde, 1994, S.11)

Wut, Schmerz und Angst können uns lähmen, «in einem Schweigen versteinern lassen», wie Audre Lorde in ihrem Tagebuch schrieb. Doch genau das wollte sie verhindern. Als Schwarze, Lesbe, Feministin, Mutter, Kriegerin und Poetin, wie sie sich selbst oft bezeichnete, erlebte sie viel Angst und Wut. Gerade in der Verflechtung ihrer Lebensweisen und Identitäten erlebte Audre Lorde unterschiedlichste Formen von Diskriminierung. Diese aufzuzeigen und zu kritisieren, machte sie sich zu ihrer Arbeit. Sie sprach Rassismus, (Hetero-)Sexismus, und hegemoniale* gesellschaftliche (Wert-)Vorstellungen offen an. Im Krebstagebuch geht es dabei insbesondere um Schönheitsideale, weisse Weiblichkeitsnormen der Brustkrebsindustrie oder um den Umgang mit Krankheit und Gesundheit. Frauen sollten Prothesen tragen, gestärkt aus der Erfahrung Brustkrebs hervortreten und keine Wut zeigen. Diese Erfahrungen wob sie in ihr Arbeiten und ihr Schreiben ein. Sie brach – wie so oft – das Schweigen.

Audre Lorde wurde im Jahr 1978, im Alter von 44 Jahren, mit Brustkrebs diagnostiziert. Sie begann daraufhin, Tagebucheinträge zu verfassen, um den Prozess ihrer Krankheit, aber auch die Unterstützung und Liebe von und zu anderen Frauen, die sie stetig begleitet und bestärkt haben, festzuhalten. Daraus entstanden ist das Krebstagebuch «Auf Leben und Tod» (1984), mit dem wir uns hier beschäftigen. Mit diesem Text machte sie schon damals sichtbar, was viele noch heute verschweigen. Sie spricht offen über alle Facetten der Brustkrebserkrankung. Alles in der Hoffnung, andere Frauen zu ermutigen, ihr Schweigen ebenfalls zu brechen.

Das Krebstagebuch liest sich wie ein bunter Teppich aus guten und schlechten Tagen, aus Rassismus-Erfahrungen und stärkenden Momenten im gemeinschaftlichen Aktivismus. Im Folgenden gehen wir näher darauf ein, wie Audre Lorde ihr Schreiben nutzte, um das vorherrschende Schweigen zu Krebs, Krankheit und Diskriminierung zu brechen, wie sie aus den Erfahrungen Kraft schöpfte und wie sie diese Kraft in Liebe und Gemeinschaft verwandelte.

Wir können lernen, zu arbeiten und zu reden, wenn wir in Angst sind, genauso wie wir es gelernt haben, zu arbeiten und zu reden, wenn wir müde sind. Man hat uns nämlich dazu erzogen, unsere Angst wichtiger zu nehmen als unsere eigenen Bedürfnisse nach Sprache und Klarheit und während wir schweigend auf den letzten Luxus eines angstfreien Zustands warten, werden wir an dem Gewicht dieses Schweigens ersticken.»

(Audre Lorde, 1994, S.27)

Audre Lorde’s Worte sind klar. Unser Schweigen ist oft in Angst begründet. Es ist die Angst vor Verachtung oder vor Zensur, vor Verurteilung oder davor, erkannt zu werden. Eine Person, die nicht den hegemonialen Vorstellungen entsprechend lebt, macht sich verletzlich. Diese Vulnerabilität führt zu Angst und bringt Menschen, insbesondere Frauen, aufgrund dieser Angst zum Schweigen. Zu sprechen, bedeutet, sich zu positionieren, sich sichtbar und damit angreifbar zu machen. Trotz all dieser Hindernisse entschied sich Lorde für das Schreiben und Sprechen und gegen das Schweigen. Was sie dabei feststellte: «Mein Schweigen hatte mich nicht geschützt. Euer Schweigen wird euch auch nicht schützen.» (Lorde 1994, 24) Sie will mit ihrer Arbeit andere Frauen dazu ermutigen, ihre Angst zu überwinden und ihr Schweigen zu brechen. Denn: “Unsere Arbeit ist jetzt wichtiger als unser Schweigen.” (Lorde 1994, 22)

Audre Lorde’s Arbeit besteht darin, als eine der ersten Frauen, offen über ihre Brustkrebs-Erkrankung und die damit einhergehenden Erlebnisse und Emotionen zu schreiben. Sie schrieb über ein Tabuthema und brach damit nicht nur das Schweigen, sondern thematisierte auch die vielen Stigmatisierungen, denen insbesondere Frauen ausgesetzt sind. Sie tat dies in Form von etwas Persönlichem und Privatem – einem Tagebuch – welches sie jedoch öffentlich zugänglich machte. Sie wählte dieses Genre bewusst und machte damit deutlich, dass das Private politisch ist.

Die von Lorde gewählten Genre und Schreibstil haben uns bewogen, auch unsere persönlichen Gedanken öffentlich zur Diskussion zu stellen. So ist das Tagebuch für uns selbst oft ein Mittel, uns auszudrücken und Gedanken in Worte zu fassen. Das Tagebuch bietet eine Möglichkeit der Selbst-Ent-Deckung und der Reflexion. Es wird sichtbar und lesbar, was vorher nicht greifbar war. Durch das Niederschreiben werden lose Gedanken zu einem definierten Text, durch den sich ein roter Faden zieht. Dabei ist für uns die Tatsache, dass im traditionellen Tagebuch das Geschriebene für andere unsichtbar bleibt, von grosser Wichtigkeit.

Audre Lorde nutzte eine Form des Schreibens, die nicht dafür gedacht ist, von anderen gelesen zu werden. Sie nutzte eine der intimsten Textsorten, um die Lesenden auf eine persönliche Reise mitzunehmen und sie nicht nur über sachliche Themen (wie beispielsweise Lorde’s Recherche zur alternativen Behandlung von Brustkrebs) zu informieren oder zu Aktivismus aufzufordern. Der Text ist auch voll von zutiefst emotionalen Passagen, welche die Lesenden in Audre Lordes Gefühlswelt entführen. Diese vielfältige Auseinandersetzung mit ihren Erfahrungen der Diskriminierung und jenen als Krebspatientin bringt den Lesenden das Thema umfassend und vielschichtig näher.

Porträt von Audre Lorde, 1980 in Austin, Texas, aufgenommen von K. Kendall, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons.

«Auf Leben und Tod» beschränkt sich jedoch nicht nur auf Tagebucheinträge. Die Publikation umfasst nebst ausgewählten Tagebucheinträgen auch aktivistische Reden und Essays, sowie Gedichte und widerspiegelt so die Vielschichtigkeit ihrer Erfahrungen. Audre Lorde zeigt, dass sie sich sehr wohl bewusst war, dass Sprache nicht gleich Sprache ist. Einen Essay zu schreiben, unterscheidet sich vom Verfassen eines Gedichts oder eines Texts in Prosa. Auch die Rezeption ist eine jeweils andere. Lorde reflektierte die Zugänglichkeit von Sprache und es war ihr ein Anliegen, mit den unterschiedlichen Genres die emotionale, sinnliche, politische und wissenschaftliche Vielseitigkeit ihrer Erfahrungen so inklusiv wie möglich zu kommunizieren. Erneut brach sie das Schweigen, das Schweigen über Unterschiede.

 Die Tatsache, dass wir hier zusammengekommen sind und dass ich jetzt diese Worte spreche, bedeutet, dass wir versuchen, das Schweigen zu brechen und einige der Unterschiede zwischen uns zu überbrücken, denn nicht die Unterschiede lähmen uns, sondern das Schweigen. Und es gibt Unmengen von Schweigen zu brechen.»

(Audre Lorde, 1994, S.27)

Lorde betonte, dass Unterschiede oft ein Mittel sind, um insbesondere Frauen gegeneinander auszuspielen. So werden Unterschiede zu einer Schwäche gemacht. Unterschiede müssten laut Audre Lorde zwar benannt werden, damit sie explizit anerkannt werden, aber sie sollten die Menschen nicht spalten. Denn laut Lorde sind es gerade diese Unterschiede, die uns stärken können und vielfältig machen. Wir müssten lernen, Kraft aus ihnen zu schöpfen.

Wenn wir nicht lernen, unsere Unterschiede konstruktiv zu nutzen, werden sie immer wieder gegen uns verwendet werden. Wir müssen das umdrehen, nicht, indem wir vorgeben, sie existierten nicht, sondern indem wir untersuchen, wie wir sie für uns nutzen können.»

(Audre Lorde in Die Tageszeitung (TAZ), 12.7.1984; aus dem Englischen übersetzt von Clara Stolze und Selina Suter [1])

Sie ermutigte Frauen, für sich selbst zu sprechen und sich selbst zu definieren. Nur so könnten sie sicherstellen, dass nicht nur über sie gesprochen wird. So ist die Verbindung über Unterschiede hinweg eben auch ein zentraler Bestandteil von Audre Lorde’s Arbeit. Das zeigt sich deutlich in ihrem Essay «Lichtflut», in dem sie ausführlich über die Verbindung zu anderen Frauengemeinschaften schreibt.

Dieser Wunsch nach Gemeinschaft war ein wichtiger Beweggrund für Audre Lorde, ihre öffentlichen Auftritte nicht nur in den USA und ihrem treuen Kreis zu halten, sondern auch in die Welt zu tragen. So kam sie nach Europa, wo sie gerade in den 80er-Jahren in Berlin einen wichtigen Beitrag leistete, die Gemeinschaft von Schwarzen Frauen zu bestärken. Dabei ging es ihr darum, sich international zu solidarisieren und so eine grosse Gemeinschaft in all ihrer Vielfalt zu schaffen und zu fördern. Durch diese Arbeit wurde Audre Lorde zu einer zentralen Figur der Afro-Deutschen Bewegung und des Schwarzen Feminismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Audre Lorde verstarb am 17. November 1992 im Alter von 58 Jahren in ihrem Haus in St. Croix an den Folgen von Leberkrebs. Ihren Kampf gegen den Krebs führte sie 14 Jahre lang selbstbestimmt und in ständiger Auseinandersetzung mit der Krankheit, dem Tod und all den dazugehörigen Ängsten. Nicht wie lange, sondern mit welcher Qualität sie das Leben führte, war für sie zentral. Das bedeutete für Audre Lorde, ganz bewusst zu leben und ihre Krankheit und den Tod als Teil dieses Lebens zu begreifen und miteinzubeziehen.

Sie blieb bis zum Schluss politisch und literarisch aktiv. Aber ihre Tagebucheinträge und Gedichte machen deutlich, in welcher Verzweiflung sich Audre Lorde zeitweilig wiederfand. Sie schaffte es, ihre Krankheit nicht schön zu reden und zu verharmlosen. Sie fühlte sich einsam, allein gelassen und verloren. Es fehlte ihr an Unterstützung von Seiten der Medizin und sie sehnte sich nach dem Austausch mit Personen, denen Ähnliches widerfahren war. So ist das Krebstagebuch unter anderem aus der Motivation entstanden, für andere Schwarze und/oder lesbische Frauen jenes Buch zu schreiben, das Audre Lorde selbst gern nach ihrer Brustkrebsdiagnose gelesen hätte.

Ich sehnte mich schmerzlich danach, mit anderen Frauen über die Erfahrung zu sprechen, die ich gerade hinter mir hatte, über das, was vielleicht noch auf mich zukommen könnte, und wie sie damit umgingen und damit fertig wurden. Aber ich brauchte Gespräche mit Frauen die wenigstens einige meiner wesentlichen Interessen, Überzeugungen und Visionen teilten und die wenigstens teilweise meine Sprache sprachen.»

(Audre Lorde, 1994, S.46)

Auf der Suche nach Vorbildern wurde sie selbst zu einem. Sie hatte den Wunsch, eine gemeinsame Sprache zu schaffen und vielen Frauen Mut zu machen, ihr Schweigen zu brechen. Oder, um mit Audre Lorde selbst zu schliessen:

Ich wünsche mir, dass diese Worte anderen Frauen als Ermutigung dienen, um aus der Erfahrung mit Krebs und anderen Todesdrohungen heraus zu sprechen und zu handeln, denn unser Schweigen hatte für uns selbst noch nie den mindesten Wert.»

(Audre Lorde, 1994, S.12)

*hegemonial – vorherrschend: Unter hegemonialen Vorstellungen verstehen wir die dominante Position bestimmter Normen und (Richt-)Werte in einer Gesellschaft, beispielsweise die von Audre Lorde kritisierte Vorstellung, dass nur Frauen mit zwei Brüsten «richtige» Frauen seien und Audre Lorde aufgrund dieser unhinterfragten Norm von Ärzt*innen sowie anderen Personen dazu aufgefordert wird, eine Prothese zu tragen.


Alle nicht im Text anderweitig vermerkten Zitate und Angaben stammen aus Audre Lorde: Auf Leben und Tod. Krebstagebuch. Erw. Neuaufl. Berlin: Orlando Frauenverlag, 1994.

[1] Das Interview ist dokumentiert in Lorde, A. und Rodríguez Castro, M.A., (Ed.): Audre Lorde : Dream of Europe : Selected Seminars and Interviews: 1984-1992. Chicago: Kenning Editions, 2020, S.119.




Bild: Porträt von Audre Lorde, 1980 in Austin, Texas, aufgenommen von K. Kendall, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons.