Sexualisierte Gewalt lesen

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Von Alexandra Lüthi


Mit wechselnden Epizentren erschüttern mediale Diskurse zu sexualisierter Gewalt die USA, Deutschland und zuletzt Frankreich. Die Literatur kennt das Phänomen nicht erst seit der #MeToo-Debatte. Aber wie genau ist sexualisierte Gewalt in der Literatur präsent? Und wie lesen wir sexualisierte Gewalt? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die von Cornelia Pierstorff kuratierte Wild Card 21 – und macht den Strauhof in Zürich für ein Wochenende zu einem wichtigen Resonanzraum abseits von den Skandalgeschichten, die in den Medien wieder und wieder erzählt werden.

Lieber Kunst machen statt Anzeige erstatten: Dieser Ratschlag einer Traumatherapeutin führt die Ohnmacht im Umgang mit sexualisierter Gewalt vor Augen (vgl. Leupi, Alphabet der sexualisierten Gewalt, S. 113). Er rückt aber auch die wichtige Stellung der Kunst in den Fokus. Den Phänomenen sexualisierter Gewalt nähert sich das Programm im Strauhof aus ästhetischer Perspektive. Es umfasst eine interaktive Installation von Jessica Jurassica, eine Lesung von Laura Leupi, Podiumsdiskussionen mit Personen aus Literaturwissenschaft und -kritik und einen Silent Reading Rave. Dementsprechend geht es nicht um die sexualisierte Gewalt, die in Statistiken erfasst wird und mit der sich Soziologie, Rechtsprechung und Politik auseinandersetzen, sondern vielmehr um ihre symbolische Aushandlung. Denn sexualisierte Gewalt ist schon lange vor dem Begriff allgegenwärtig in Kunst und Literatur – und aufs Engste mit ihrer Darstellung verknüpft.

Literarische Texte […] ambiguieren, sie entfremden, sie reflektieren den Schreibprozess, sie rahmen und sie stellen den Blick frei auf ein intertextuelles Verständnis.

Wenn im medialen Diskurs über sexualisierte Gewalt der Fokus wie im Krimi auf Täterschaft, Motivation und Beweisführung liegt, dann ist das vielleicht die lauteste, nicht aber die einzige Art, über sexualisierte Gewalt zu schreiben. Literarische Texte, so hat das Wochenende gezeigt, bleiben nicht bei der Thematisierung und sensationslustigen Inszenierung stehen. Sie ambiguieren, sie entfremden, sie reflektieren den Schreibprozess, sie rahmen und sie stellen den Blick frei auf ein intertextuelles Verständnis.

Was prägt unser Sprechen über sexualisierte Gewalt?

Das Schreiben von sexualisierter Gewalt ist nichts Neues. Es gibt ein intertextuelles Verständnis, ein Wissen, das wir uns über die Literatur aneignen und erlernen können. Das Prinzip der Vernetzung und Verbindung inszeniert Jurassica in ihrer Installation A Room of One’s Own, angelehnt an Virginia Woolfs gleichnamigen Roman von 1929. Materialreich und rätselhaft erlegt der Raum uns die Vernetzung als Aufgabe auf, die erst in der Interaktion hergestellt wird.

Wie hängt das Bett mit den ausgedruckten Zeitungsartikeln zusammen? Wie die angetrockneten Orangenschalen mit dem Schreibtisch, die Videos von Louise Bourgeois mit den aufgehängten Screenshots von Instagramstories – und was machen all die Bücher? Was schauen wir uns an, in welcher Reihenfolge, welche Bücher schlagen wir auf? In welches Rabbithole vergraben wir uns? Und was löst das in uns aus? Im Nebeneinander der Sensationslust der journalistischen Beiträge und Social Media sowie der doppelten ästhetischen Inszenierung (Literatur/Installation) stellt der Raum den Spagat aus, der den Umgang mit (der Darstellung von) sexualisierter Gewalt ausmacht.

Jessica Jurassica, A Room of One’s Own, Foto © die Autorin.

Was können wir von der Literatur lernen?

Die drei Podiumsdiskussionen vernetzen jeweils drei literarische Texte miteinander. Alle neun Texte beleuchten auf verschiedenen Ebenen Momente der Selbstermächtigung. Auf Handlungsebene legen sich die Figuren Listen an (Die schönste Version), legen Zeugnis ab (Alphabet) oder erkämpfen sich eigenen Handlungsspielraum, indem sie beispielsweise über ihre eigenen Körper verfügen (Geliebte Mutter). Oder die Protagonistinnen finden Vertraute, die ihnen Gehör, Glauben und Gemeinschaft schenken (Cat Person, Das Archiv der Träume).

Der Einblick in die Gedankenwelt der Protagonistin deckt die Auswirkungen der komplexen Gemengelage aus sozial geprägten Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern auf.

Die Erfolgserzählung Cat Person (2017) von Kristen Roupenian führt vor, wie der Rezeptionsakt zu etwas Selbstermächtigendem werden kann: Der Einblick in die Gedankenwelt der Protagonistin deckt die Auswirkungen der komplexen Gemengelage aus sozial geprägten Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern auf. Das selbstermächtigende Moment kann auch im Schreibakt liegen. Als Referenztext dafür wird immer wieder Annie Ernaux’ autobiografische Erzählung Erinnerung eines Mädchens (2016) genannt. Daran knüpft das Alphabet an, das sich kein Mitgefühl des Publikums wünscht, sondern es als stumme Zeug*innen ausstellt.

«Lassen Sie mich Ihr Bild zerstören: Ich scheiße auf Ihren Beschützer:inneninstinkt. Ich scheiße auch auf Ihr Mitleid. Ich scheiße sogar auf Ihre Empörung und Ihre Wut. Das Eingeständnis meiner Ohnmacht ist in Ihren Händen nicht sicher aufgehoben. Und doch: Sie hören mir zu.»
(Leupi, Alphabet, S. 82)

Die Literatur bietet keine Lösung, sie transformiert die Problemstellung. Sie hat die Macht, Themen sichtbar zu machen, die im medialen Diskurs weniger Aufmerksamkeit erhalten. Und sie eröffnet einen Zugang zur strukturellen Dimension der Gewalt, auf die der Blick naturgemäss verstellt ist. Nicht zuletzt bietet sie einen Weg aus der Isolation, was der Silent Reading Rave eindrücklich gezeigt hat. Gross und Klein lasen aktuelle Essaybände, Abenteuergeschichten oder feministische Klassiker, nahmen jedes Kissen, jeden Stuhl, alle Fensterbänke und Treppenstufen ein und machten den Strauhof zum stillen Resonanzraum – ganz getreu dem Motto, das an den Wänden hing: «Lesen ist die schönste Art, allein, aber nicht einsam zu sein».

Die Literatur […] eröffnet einen Zugang zur strukturellen Dimension der Gewalt, auf die der Blick naturgemäss verstellt ist.

Und jetzt?

Was die Literatur kann – und was im sensationslustigen medialen Diskurs oft verschwiegen (gemacht) wird –, ist das Offenlegen der historischen und gesellschaftlichen Strukturen, welche sexualisierte Gewalt begünstigen und hinnehmen. Es geht der Literatur «nicht um einzelne Taten oder Täter*innen, sondern um Strukturen der Gewalt – und um ihre solidarischen Alternativen» (Pierstoff, #MeToo-Literatur?). In ihrer Vielfalt wird sie der Pluralität und Komplexität von Phänomenen sexualisierter Gewalt überhaupt erst gerecht: Die diskutierten Texte erzählen von einer gewaltvollen lesbischen Beziehung, von Onlinedating, stechen durch ihre politische Dimension heraus, führen die Gewalt von Sprache vor oder markieren die Unmöglichkeit des Festschreibens von sexualisierter Gewalt.

Immer geht es den Texten dabei um eine Suche nach der geeigneten Form, nach einer Sprache, und jeder Text entfaltet eine eigene Welt, um sexualisierte Gewalt lesbar zu machen. Erst im Gespräch, erst in der Zeug*innenschaft, erst in der Gemeinschaft, zu der die Texte uns Lesende, Diskutierende und Zuhörende machen, wirken die Geschichten, fordern unsere Lesegewohnheiten heraus, zeigen strukturelle Probleme und Widersprüche auf – und stimmen uns hoffnungsvoll.


In den Podiumsdiskussionen besprochen

Akyol, Çiğdem: Geliebte Mutter. Göttingen 2024.

Cooper, Dennis: The Sluts. New York 2005.

Duve, Karen: Macht. Köln 2016.

Jelinek, Elfriede: «Über Tiere». In: Drei Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 7–52.

Leupi, Laura: Das Alphabet der sexualisierten Gewalt. Berlin 2024.

Machado, Carmen Maria: Das Archiv der Träume. Übers. von Anna-Nina Kroll. Stuttgart 2021.

Roupenian, Kristen: «Cat Person». In: Cat Person. Storys. Übers. von Nella Beljan und Friederike Schilbach. Berlin 2019, S. 100–126.

Sinno, Neige: Trauriger Tiger. Übers. von Michaela Meßner. München 2024.

Stefan, Verena: Häutungen. Frankfurt am Main 1994.

Thomas, Ruth-Maria: Die schönste Version. Hamburg 2024.

Literatur

Brügger, Nadia: Patriarchale Gewalt niederschreiben. Art of Interpretation, 25. Juni 2024.

Despentes, Virginie: King Kong Theorie. Übers. von Barbara Heber-Schärer und Claudia Steinitz. Köln 2018.

Emcke, Carolin: Ja heißt ja und …. Frankfurt am Main 2019.

Ernaux, Annie: Erinnerung eines Mädchens. Übers. von Sonja Finck. Berlin 2018.

Higgins, Lynn A. und Brenda R. Silver: «Rereading Rape». In: Rape and Representation. New York 1991, S. 1–11.

Michalski, Karin: Alphabet of Feeling Bad. Performance, Deutschland 2012.

Pierstorff, Cornelia: #MeToo-Literatur? Sexualisierte Gewalt und die Antworten der Literatur. Geschichte der Gegenwart, 10. September 2023.

Schutzbach, Franziska: Revolution der Verbundenheit. Wie weibliche Solidarität die Gesellschaft verändert. München 2024.

Sielke, Sabine: «What We Talk about When We Talk about Rape». In: Reading Rape. The Rhetoric of Sexual Violence in American Literature and Culture 1790–1990. Princeton/Oxford 2002, S. 1–11.

Suter, Miriam und Natalia Widla: Hast du Nein gesagt? Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt. Zürich 2023.

Suter, Miriam und Natalia Widla: Niemals aus Liebe. Männergewalt an Frauen. Zürich 2024.

Beitragsbild: Jessica Jurassica, A Room of One’s Own, Foto © die Autorin.