Sharing is Caring: Kay Matter – Muskeln aus Plastik

, ,

veröffentlicht am

Von Aline Vogt


Die Buch Basel-Lesung zu Kay Matters «Muskeln aus Plastik» findet im Rahmen einer Sofalesung in einer zwischengenutzten Wohnung statt. Der für eine Lesung etwas ungewöhnlichere Raum passt ganz gut. Wie die Moderatorin Anaïs Steiner im Gespräch feststellt, strukturieren nämlich unterschiedliche Orte Matters Buch.

«Auch du sehnst dich nach einem Ort, an dem alles perfekt ist – du inklusive. An dem sich nichts deiner Kontrolle entzieht. An dem du sicher bist» (Matter, S. 161). So sinniert die Ich-Person Kay im Kapitel «Kays Cave». Kay träumt von einem «Sickboy-Apartment», einem «Raum, der Bett und Bühne vereint, der Krankenzimmer und Atelier in einem ist, in dem du strippen und schlafen kannst, in dem du essen und facetimen kannst, in dem du weinen und ruhen kannst, in dem du leiden und rummackern kannst, in dem du hot und behindert sein kannst» (Matter, S. 167).

Hotness, Krankheit und Männlichkeit, um diese Stränge herum webt Matter ein Porträt von einer chronisch kranken trans Person, die sich nach einem nicht-kaputten Körper sehnt, einem Körper, der sich trainieren, lieben und jenseits einer naturalisierten Vorstellung von Geschlecht formen lässt – Muskeln aus Plastik eben.

[Ein Buch], das zwischen literarischen und essayistischen Schreibstilen oszilliert.

In dem Raum, den ich jetzt betrete, hängen glitzernde Plastik-Streifen von der Decke. Die Atmosphäre ist gemütlich und unaufgeregt. «Muskeln aus Plastik» ist Matters Debüt-Prosawerk, vorher hat dey Szenisches Schreiben, Literatur, Theater und Philosophie studiert und Theaterstücke verfasst. Diesen vielseitigen Hintergrund merken Lesende dem Buch an, das zwischen literarischen und essayistischen Schreibstilen oszilliert.

Ich bin ehrlich, beim Lesen spürte ich zunächst einen Widerstand gegen diese Art von Text. Die vielen Anglizismen, der moralische Unterton und die vielen komplizierten Begriffe und Fussnoten erinnern mich an intellektualisierende Trends in der Literatur, die ich zwar spannend finde, die mir manchmal aber auch einfach etwas zu viel vom gleichen Habitus sind. Vielleicht habe ich aber auch einen weniger essayistischen Text erwartet. Vielleicht sind mir auch die vielen medizinischen Begriffe – hypermobiles Ehlers-Danlos-Syndrom, Myalgische Enzephalomyelitis, Bellskala, Beighton-Score… – vor allem auf den ersten Seiten irgendwie suspekt. Sie erinnern mich an eine medizinische Sprache, die während der letzten zwei Jahrhunderte Menschen kategorisiert und teilweise pathologisiert hat, eine Geschichte, deren gesellschaftlichen Nachwirkungen in «Muskeln aus Plastik» ja gerade kritisiert werden.

Nachdem ich mich durch einige sperrige Passagen durchgekämpft habe, folgen allerdings auch literarisch anregende Kapitel, wie beispielsweise «Im Möbelhaus», eine traumähnliche Episode, in der sich Kay – hier in der dritten Person – in einer IKEA-Filiale verliert. Wie in anderen Kapiteln scheint der Raum Ikea auch hier als ein Gefäss zu fungieren, das sowohl Erinnerungen als auch Träume und Imaginationen einschliesst. Dass sich diese nicht immer unterscheiden lassen, gehört zu den Qualitäten des Buchs. Ausserdem muss ich zugeben, dass sich viel lernen lässt beim Lesen der eher essayistisch geschriebenen Abschnitte. Krankheiten wie das Post-Covid-Syndrom sind zwar äusserst präsent im gegenwärtigen Diskurs. Trotz der medizinischen Erforschung der Krankheit sind ihre Ursachen im Detail aber noch nicht geklärt. Ausserdem: Wer weiss denn schon, wie sich ein solcher Zustand anfühlt, welche Einschränkungen im Alltag sich dadurch ergeben und wie diese und andere Krankheiten mit diversen Achsen der Diskriminierung verknüpft sind, wenn mensch nicht selbst betroffen ist?

Ich lerne aber noch etwas anderes. Während ich nach der Lesung noch damit ringe, meine eigene kratzbürstige Lese-Erfahrung einzuordnen, begegne ich einem Sekundärtext zum Genre des trans Memoirs.[1] Ich lerne, dass Erzählungen von trans Personen in der Geschichte der westlichen Moderne eng verknüpft waren mit der Medizin. Im Europa und Nordamerika des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen Ärzte und Psychologen wenig Verständnis hatten für nicht-binäre Geschlechtsidentitäten, mussten sich trans Menschen an einer von Medizinern und einer bürgerlichen Öffentlichkeit eingeforderten Erzählung orientieren, um Zugang zu geschlechtsangleichender Medizin zu erhalten und gesellschaftliche Akzeptanz zu erfahren. Nach dieser Erzählung wurde trans Menschen im Moment der Operation oder der Hormonbehandlung zu einem eindeutigen – meistens weiblichen – Geschlecht verholfen, erst damit waren sie von ihrer angeblichen «Störung» «geheilt». Diese Erzählvorgabe entsprach den Ansprüchen von Öffentlichkeit und Wissenschaft nach einer eindeutigen, dualistischen Geschlechterordnung. Gleichzeitig feierten solche Erzählungen die moderne Medizin, die dabei half, die vermeintlich bedrohte Geschlechter-Ordnung wiederherzustellen.

Uneindeutige Geschlechtsidentitäten und brüchige Autobiographien hatten in diesen Narrativen […] wenig Platz […].

Uneindeutige Geschlechtsidentitäten und brüchige Autobiographien hatten in diesen Narrativen genauso wenig Platz wie eine Kritik der teilweise gewaltvollen Praktiken, die in den Kliniken der Zeit an trans und inter Personen durchgeführt wurden. Während sich einige Autor*innen das medizinische Fortschrittsnarrativ erfolgreich aneigneten und in Zusammenarbeit mit Mediziner*innen neue Selbstbezeichnungen entwickelten, kämpften andere mit den Vorgaben – vor allem wenn sie die Fantasien von Wissenschaft und Gesellschaft nicht bedienen oder wenn sie ausserhalb ihres trans-Seins als Autor*innen ernst genommen werden wollten.

Die Art und Weise wie Matter Theorie, Fiktion und Autobiographie miteinander verbindet und die Fähigkeit des Textes, sich mir, der cis Leserin, zu entziehen, passt folglich in die Tradition von trans Autor*innen, die seit den 1990er Jahren neue, kritische Strategien des Schreibens entwickelten. Dabei verknüpften sie ihre persönlichen Erfahrungen mit theoretischen Texten, um auf die strukturelle Dimension von Diskriminierung aufmerksam zu machen. Ausserdem versuchten sie vermehrt, Perspektiven von nicht-binären Menschen, aber auch von Menschen of Colour oder Menschen aus benachteiligten Schichten miteinzubeziehen. Letztere konnten die Erzählung der eindimensionalen «Vorher»-«Nachher»-Transition auch deshalb nicht für sich nutzen, weil ihnen medizinische Versorgung aus finanziellen und/oder rassistischen Gründen verwehrt war.

Die Frage, wer sich welche geschlechtsangleichenden Massnahmen leisten kann, welche Krankenkassen welche Leistungen übernehmen und wer die Energie hat beziehungsweise «able» genug ist, sich mit dem teilweise undurchsichtigen Gesundheits-System auseinanderzusetzen, spielt auch in «Muskeln aus Plastik» eine Rolle. Das Buch behandelt ein um einiges komplexer verworrenes Bündel aus historisch zerzausten Fäden und Traditionen, als ich es auf den ersten Blick wahrgenommen habe.

Wie gehen wir mit dem Leiden anderer um, vor allem dann, wenn es auf den ersten Blick nicht sichtbar ist? Welche Rolle spielt Sprache dabei und inwiefern kann Schmerz überhaupt geteilt werden?

Nicht immer findet der Text eine Antwort darauf, wie wir mit diesem Bündel umgehen sollen. Braucht es mehr Kategorien, mehr Wahrnehmung von und Sprache über Differenz, damit wir verstehen, welche spezifische Form von Care Menschen benötigen? Oder braucht es vielmehr eine Dekategorisierung in Verbindung mit einer Empathie, die über das Trennende unterschiedlicher Diagnosen und Perspektiven hinausgeht? Wie können wir überhaupt von «Krankheit» sprechen, ohne zu pathologisieren? Und wenn wir davon ausgehen, dass Körper und ihre Zustände fluide sind, wo ist dann die Grenze zwischen able und dis_able? Inwiefern ist diese Grenzziehung dann noch sinnvoll? Wie gehen wir mit dem Leiden anderer um, vor allem dann, wenn es auf den ersten Blick nicht sichtbar ist? Welche Rolle spielt Sprache dabei und inwiefern kann Schmerz überhaupt geteilt werden?

Die stärksten Momente des Buches sind für mich diejenigen, in denen Kay und Kays Freund*innen genau mit diesen Fragen ringen. Neben literarischen Beschreibungen dieser Momente nähert sich Matter ihnen über eine beeindruckende Vielzahl von theoretischen Texten an. Besonders überzeugt haben mich die Überlegungen der feministischen Autorin Sara Ahmed. Sie vermutet, dass wir dem Schmerz anderer häufig deshalb eine Art Widerstand oder Unglauben entgegenbringen, weil unser Unvermögen, uns in den Schmerz eines Gegenübers einzufühlen, uns an die Unteilbarkeit unseres eigenen Schmerzes erinnert (vgl. Matter, S. 118).

Es ist gut möglich, dass auch meine eigene Leseerfahrung von diesem Widerstreben geprägt war, zumal ich den Text zunächst allein las und erst in einem zweiten Schritt versucht habe, meine persönliche Lese-Erfahrungen mit anderen zu teilen. Auch das Lesen findet schliesslich immer im Rahmen einer spezifischen Positionierung statt, in der die Lesenden den Text auf eine bestimmte Art und Weise wahrnehmen. Der Schmerz selbst, aber auch das Erlesen und Beschreiben dieses Schmerzes, so viel macht «Muskeln aus Plastik» deutlich, kann wegen der eingeschränkten Teilbarkeit zu einer äusserst einsamen Angelegenheit werden. Kay sagt dazu:

«Diese unsharability, das Unvermögen, mich mitzuteilen, war für mich beinahe genauso unerträglich wie der primär empfundene Schmerz. Das Fehlen einer Sprache, um die ich auch jetzt noch ringe». (Matter, S. 102).

Das Ringen um Sprache ist zentral für einen Text, der sich ähnlich wie die erwähnten Trans Memoiren mit Erfahrungen beschäftigt, die nicht losgelöst von gesellschaftlichen Strukturen stattfinden, die aber gleichzeitig aus verschiedenen Gründen trotzdem nicht leicht zu teilen sind, zumal nicht kontrolliert werden kann, wie die Zuhörenden oder Lesenden mit dem Geteilten umgehen. Gleichzeitig, so scheint es, ist eine vollständige Teilbarkeit von Schmerz wegen seiner spezifischen Verortung in spezifischen Körpern ohnehin nie ganz möglich. Eine abschliessende Antwort darauf, wie wir untereinander mit einer Vielfalt von Schmerz- und Marginalisierungserfahrungen umgehen können, gibt es also erst einmal nicht. Am Anfang steht vielleicht eher eine Frage, nämlich diejenige, die Kays Halbschwester Abby stellt, nachdem sie von Kays schwierigen Coming-out-Erfahrungen erfährt:

«shit bro i’m sorry. wanna share?» (Matter, S. 180).


Fussnoten

[1] Jacques, Juliet, 2017, S. 357–370. Vgl. auch Vicente, Marta V., 2021, S. 392–416.

Literatur

Matter, Kay: Muskeln aus Plastik. Hanser: Berlin, 2024.

Jacques, Juliet: «Forms of Resistance: Uses of Memoir, Theory, and Fiction in Trans Life Writing», in: Life Writing 14 (3), 2017, S. 357–370.

Vicente, Marta V.: «Medicalization of the Transsexual: Patient-Physician Narratives in the First Half of the Twentieth Century», in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 76 (4), 2021, S. 392–416.

Bild: Kay Matter im Gespräch mit Anaïs Steiner an der Sofalesung während der Buch Basel 2024. Foto © Katharina Schillinger.