Von Hannah Pfurtscheller. Dieser Beitrag ist Teil der Serie «Paula Rego: Geschlecht und Gewalt».
Es ist der zweite Abend einer wegweisenden Kooperation zwischen art of intervention und dem Kunstmuseum Basel, bei dem neue, tragfähige Beziehungen entstehen dürfen. Im Fokus stehen alternative Formen der Wissensproduktion, in denen Relationalität und Verschiedenheit zentrale Rollen einnehmen. Verschiedene Kräfte sind vereint: Hier geht es um Intervention, um Veränderung.
Der Saal ist gefüllt, auf den Stühlen liegen Zettel mit Fragen ans Publikum: Wer sind die Held*innen Ihrer Kindheit? Welche Bücher haben Sie in den letzten Monaten gelesen? Die Antworten sind hier im Beitrag ganz unten mit aufgelistet.
«Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?» Diese Frage hallt seit Disneys «Snow White» (1937) durch unsere Kinderzimmer und prägt bis heute das kollektive Verständnis von Märchenfiguren. In ihrer eindringlichen Lecture Performance zeigt die Musikerin und Performancekünstlerin Brandy Butler, wie diese Prägung, tief verwurzelt im Kolonialismus, Verzerrungen und Hierarchien re_produziert. Die zentrale Botschaft der meisten Prinzessinnen-Märchen bleibt dabei unverändert: Mit Schönheit erlangst du Glück bis ans Lebensende.
Märchen als Spiegel gesellschaftlicher Normen
Ein Filmausschnitt aus Disneys Schneewittchen liefert den Beweis für diese problematische Tradition: Eine weisse, able-bodied Prinzessin wird von einem ebenso weissen, able-bodied Prinzen wachgeküsst. Die ganze Welt scheint sich darüber zu freuen. Die Szene kulminiert in einem bezeichnenden Moment: Als die Prinzessin sich von den Zwergen verabschiedet, küsst sie jeden auf die Stirn. Als einer der Zwerge einen Kuss auf den Mund verlangt, verweigert sie sich. Diese Verweigerung kann laut Butler beispielsweise als Ausgangspunkt für ein kritisches Gespräch dienen: die Deutung, dass die Prinzessin hiermit eine Grenze setzt und somit für sich einsteht, ist eine mögliche Lesart und regt zu weiteren Hinterfragungen an.
Was wäre, wenn Schneewittchen nicht fügsam für sieben kleine Männer schuften würde? Nicht wie Eva in den giftigen Apfel beissen würde? Nicht wie ein totgeglaubtes Ding an den Prinzen weitergereicht würde? Diese Fragen treffen den Kern einer grösseren Debatte: Wie können wir Geschichten erzählen, die nicht auf weissen Schönheitsnormen, Klassenstatus und dinghafter Weiblichkeit basieren?
Die Antwort liegt für Butler in der Lebendigkeit von Geschichten: «Lasst sie uns lebendig gestalten! Werte wie Schönheit, Mut, Würde, Güte und Freiheit existieren in allen Kulturen.» Die Herausforderung besteht darin, diese Universalität in unseren Erzählungen abzubilden. «Alle Kinder sollen sich identifizieren können und verstehen: Sie gehören in diese Geschichten, alle können Held:innen sein und haben ein glückliches Ende verdient.»
Strukturelle Barrieren in Bildung und Literatur
Im anschliessenden Gespräch mit der Autorin und langjährigen Aktivistin Rahel El-Maawi, moderiert von Dominique Grisard, wird die Dringlichkeit des Handlungsbedarfs deutlich. El-Maawi verweist auf die demografische Realität: Allein in Zürich haben 50% der Kinder migrantischen Hintergrund. Dennoch finden wir in Kinderbüchern kaum Mädchen als Heldinnen, geschweige denn Mädchen of Color oder queere Charaktere.
Die strukturellen Probleme reichen tief: Eine aktuelle, von der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) 2023 in Auftrag gegebene Analyse der Schweizer Lehrmittel, offenbart erschreckende Ergebnisse. In jedem Lehrbuch finden sich rassistische Passagen, Abbildungen und Begriffe. Gleichzeitig kommt Rassismus im Lehrplan nicht vor. Dies hat zur Folge, dass Rassismus in Weiterbildungen, Schulungen, etc. nicht auf dem Programm steht. Im Unterricht wird Rassismus ausschliesslich als Phänomen der Vergangenheit behandelt. Besonders problematisch ist das geografische Othering: Ein homogen und stereotyp dargestelltes «Anderswo» wird einem komplexen «Hier» gegenübergestellt. Es herrscht ein immenser Mangel an Mehrperspektivität im Schweizer Geschichtsunterricht.
Der Fall Pippi Langstrumpf
Am Beispiel von Pippi Langstrumpf demonstrieren El-Maawi und Butler ihre Herangehensweise an klassische Erzählungen. Die Geschichte ist für viele ein feministisches Vorbild: Ein starkes, unabhängiges Mädchen, das sich Autoritäten widersetzt. Doch sie enthält auch koloniale Verstrickungen, die transparent gemacht werden müssen. Wie kommt der Affe nach Schweden? Woher stammt das Gold? Diese Fragen öffnen den Blick für Machtverhältnisse und Asymmetrien, die in der Welt bestehen.
Die Referentinnen plädieren dabei nicht für ein Verbot solcher Geschichten. «Es geht darum, kritische Diskussionen zu führen, die Geschichten zu kontextualisieren», betont El-Maawi. «Pippi Langstrumpf ist ein gutes Buch, um genau diese Gespräche zu führen.»

Praktische Interventionen und neue Wege
Initiativen wie Butlers «Free Thinkers Academy» am Theater Neumarkt oder El-Maawis Projekt «Vor.Bilder.Bücher» zeigen, wie Veränderung konkret aussehen kann. «Kinder sind mit gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert, aber niemand spricht mit ihnen», erklärt Butler. «Dabei haben gerade sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.»
El-Maawi unterstreicht die Bedeutung von Kinderrechten: «Erklärt Kindern ihre Rechte. Viele Kinder kennen ihre Rechte nicht. Kinder dürfen und sollen eine Meinung haben.» Ermächtigende Erlebnisse, wie die Unterstützung der eigenen Meinungsbildung, sind Schlüsselmomente in der Persönlichkeitsentwicklung, insbesondere wenn es dabei um eine Auseinandersetzung mit der Diskriminierung marginalisierter Gruppen geht. Bei der Analyse von Geschichten empfiehlt sie drei zentrale Fragen: Wird Rassismus kritisch behandelt? Wird queere Identität thematisiert? Kommt Disability vor?
Neue feministische Kinderbücher zeigen bereits, wie es anders gehen kann. Sie stellen Mut und Entscheidungsfreiheit ins Zentrum, feiern Differenzen, statt sie zu negieren. Die Vielfalt an Erzählungen und Vorbildern wächst, nicht zuletzt dank des langjährigen, wegweisenden Engagements von Aktivist*innen wie Butler und El-Maawi.
Der Weg nach vorn
Die Ausstellungen «kolonial. Globale Verflechtungen der Schweiz» im Landesmuseum Zürich und «Widerstände. Vom Umgang mit Rassismus in Bern» im Historischen Museum Bern zeigen, dass die kritische Auseinandersetzung mit unserem kolonialen Erbe zunehmend Raum findet. Doch was treibt diese Arbeit an? «Es ist der Motor für soziale Gerechtigkeit», sagt El-Maawi, «die bestärkende Kraft der Gemeinschaft, der Wille zur Veränderung.»
Die Botschaft ans Publikum ist klar: Vernetzt euch, werdet aktiv. Geht in die Buchläden und verlangt nach den Büchern. Entwickelt Beweglichkeit im Geist. Sprecht mit Kindern über die Inhalte der Geschichten, über die Vorurteile, die darin enthalten sind. Denn Märchen sind keine starren Gebilde – sie sind Werkzeuge der Transformation. Und Kinder dürfen anders sein, als es die Eltern oder die gesellschaftliche Norm wollen.
Hannah Pfurtscheller ist Dramaturgin und lebt mit ihren Familien in Basel.
Ergebnisse der Publikumsumfrage
Die Umfrage fand während der Veranstaltung «Schnee von gestern? Weisse Schönheit in Snow White und andere Märchen» am 13. November im Kunstmuseum Basel statt. Insgesamt wurden 28 Zettel eingesammelt und ausgewertet. Pro Fragen konnte mehrfach geantwortet werden. Die Fragen wurden von Rahel El-Maawi und Dominique Grisard ausgearbeitet.
Die sechs meistgenannten Held*innen der Kindheit
- Pippi Langstrumpf: 12x
- Ronja Räubertochter: 5x
- Die rote Zora: 4x
- Bibi Blocksberg: 3x
- Die wilden Kerle: 3x*
- Igraine Ohnefurcht: 2x
Special mention: dreimal wurden Lehrerinnen genannt, zweimal Tanten.
* Einmal wurde spezifisch Vanessa von den wilden Kerlen genannt.
Hier nicht aufgeführt sind Namen oder Personen, die nicht mehr als einmal genannt wurden.
Die drei meistgenannten Bücher
- «Antichristie» von Mithu Sanyal: 3x
- «Das Ereignis» von Annie Ernaux: 2x
- «Die Wut, die bleibt» von Mareike Fallwickl: 2x
Alle weiteren Titel wurden nicht mehr als einmal genannt.

Bild: art of intervention: Schnee von gestern?, Kunstmuseum Basel | Neubau, 13.11.2024, Foto: Damaris Thalmann.