Statement zu sexualisierter Gewalt an Hochschulen

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Von Andrea Zimmermann.

Im Rahmen der Literaturstudie «Gender Equality in Higher Academia»,[1] die ich gemeinsam mit Deborah Oliveira und Lea Dora Illmer im Auftrag der Gleichstellungskommission des SNF am Zentrum Gender Studies der Universität Basel durchgeführt habe, haben wir auch das Thema der sexuellen Belästigung bzw. der sexualisierten Gewalt an Hochschulen in den Blick genommen. Wie wir im Laufe der Arbeit festgestellt haben, ist dies ein äusserst dringliches Thema, dessen Tragweite erst nach und nach erkannt wird. Denn zu lange wurden Fälle von sexualisierter Gewalt als Einzelfälle und nicht als Teil eines strukturellen Phänomens verhandelt. Erste vorliegende Zahlen, auf die wir in unserer Literaturrecherche gestossen sind, lassen das Ausmass an Übergriffen erahnen, mit dem wir es im Kontext der Hochschulen zu tun haben: Laut einer US-amerikanischen Studie (2020),[2] die über 800 Publikationen zu diesem Thema ausgewertet hat, hat ein Viertel der befragten Studentinnen bereits sexuelle Belästigung erlebt.

Dass dieser höchst alarmierende Befund bislang nicht ausreichend Beachtung fand, hat auch damit zu tun, dass nur ein Bruchteil der Fälle sichtbar wird: 2012 wurde geschätzt,[3] dass nur 5-30% aller Fälle von sexueller Belästigung überhaupt gemeldet werden und nur 1% zu einem gerichtlichen Verfahren führen – neuere Zahlen fehlen. Die Dunkelziffer scheint überaus grösser zu sein als die Anzahl bekannter Fälle. Dies ist nicht zuletzt darin begründet, dass Betroffene sowohl persönliche Konsequenzen als auch Schaden für ihre Karriere befürchten. Zu oft kann beobachtet werden, dass Fälle intransparent verhandelt werden und klare Konsequenzen für die Täter ausbleiben, bzw. es bei Abmahnungen und internen Verhandlungen bleibt. Zu oft scheinen die Hochschulen damit beschäftigt, ihren Ruf zu schützen und Imageverlust abzuwenden, anstatt den Betroffenen mit aller Entschiedenheit zur Seite zu stehen, wie zahlreiche Studien nahelegen.[4]

Daraus ergeben sich meiner Meinung nach zwei zentrale Herausforderungen für die Forschung:

Zum einen benötigen wir mehr Daten, um Ursachen, Konsequenzen und Zusammenhänge besser zu verstehen: quantitativ und qualitativ. Das trifft auch für den Schweizer Hochschulkontext zu. Die Erhebung von Daten auf nationaler Ebene ist dringend notwendig. Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei dem Zusammenhang zwischen diskriminierten Bevölkerungsgruppen und sexualisierter Gewalt gelten. Erste Studien dazu lassen vermuten, dass Menschen, die bspw. von Rassismus betroffen sind, sexuelle Belästigung weit häufiger erleiden als andere. Zudem lassen erste Untersuchungen vermuten, dass auch auf der Seite der Tatpersonen der Zusammenhang zwischen Privilegierung und übergriffigem Verhalten präziser in den Blick genommen werden muss.[5] Weitere Forschung hierzu wäre sehr wichtig und könnte als Grundlage für Präventionsarbeit dienen.[6]

Zum anderen lässt sich sexualisierte Gewalt nur reduzieren, wenn Ursachen und strukturelle Bedingungen analysiert werden. Wie für den US-amerikanischen Kontext festgestellt wurde, ist der Hochschulkontext nach dem Militär der am zweitstärksten betroffene Sektor – auch im Vergleich mit Privatwirtschaft und Politik.[7] Zu den Gründen kann ich aufgrund der Ergebnisse der internationalen Literaturstudie einige Thesen aufstellen, die jedoch für den Schweizer Kontext überprüft und präzisiert werden müssen:

Erstens sind Hochschulen Institutionen mit einem ausgeprägten hierarchischen Gefüge. Menschen in Machtpositionen geniessen strukturell starken Rückhalt und sind gut geschützt vor Kritik. Denn schon in der historischen Entstehung sind Hochschulen eng verwoben mit patriarchalen Strukturen, die auch heute noch gut sichtbar sind: denken wir nur an den Einfluss des «Doktorvaters» auf die eigene Karriere.[8]

Zweitens sind Hochschulen nach wie vor männlich dominierte Arbeitsplätze. Wie die bisherige Forschung nahelegt, ist jedoch ein Arbeitsumfeld, in dem Macht und Führungsverantwortung zwischen den Geschlechtern geteilt wird, weniger anfällig für Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt. Oder anders formuliert: in einem Arbeitsumfeld, in dem Gleichstellung, Diversität und Inklusion gefördert werden, reduziert sich das Risiko für sexualisierte Gewalt.[9]

Drittens führt die für eine erfolgreiche akademische Karriere geforderte internationale Mobilität immer wieder zu Verlust stabiler Netzwerke und sozialer Zusammenhänge, so dass gerade Nachwuchswissenschaftler*innen oftmals ohne sozialen Rückhalt am Ort ihrer Forschung sind.[10] Der starke Wettbewerb zwischen Nachwuchswissenschaftler*innen und prekäre befristete Anstellungsverhältnisse tragen zudem zu einer erhöhten Verletzbarkeit bei: Menschen in einer solchen Position fällt es schwerer, die eigenen Grenzen klar wahrzunehmen und zu artikulieren.[11] Ein Umfeld, in dem Grenzüberschreitungen zum Alltag gehören und dadurch normalisiert werden, lässt kaum Raum für Widerspruch oder gar Widerstand durch die Betroffenen.

Neben kontextspezifischer Forschung sind auch konkrete Massnahmen erforderlich, deren Wirksamkeit bereits erprobt wurde. Hier erste zentrale Ansatzpunkte:[12]

  • Die Führungsebene von Hochschulen ist gefordert, eine klare Haltung zu Sexismus und sexuellen Übergriffen einzunehmen. Eine Haltung, die klar macht, das sexuelle Belästigung in keiner Form toleriert und entsprechend geahndet wird. Dazu ist ein aktives Führungsverständnis vonnöten: Trainings zu Leadership können hier ein hilfreiches Instrument sein.
  • Gesicherte und transparente Abläufe in der Untersuchung von Fällen sexueller Belästigung sind entscheidend: dies umfasst prominent platzierte Policies, sichtbare Anlaufstellen sowie klar strukturierte Prozesse. Sichtbare Konsequenzen und Sanktionen für Täter*innen ermutigen Betroffene, Übergriffe zu melden, und dienen der Abschreckung. Neben der Implementierung dieser strukturellen Instrumente können zudem bystander trainings dabei unterstützen, die Kultur an einer Hochschule hin zu einer diskriminierungssensiblen Kultur zu transformieren.

Grundsätzlich gilt, und das stellt für die Hochschulen angesichts ihrer jetzigen Struktur sicherlich eine Herausforderung dar: erst der Abbau von Hierarchien führt dazu, dass Machtverhältnisse (selbst-)kritisch analysiert und reflektiert werden können. Dazu gehört die Etablierung sicherer Anstellungsbedingungen: das Risiko von Ausbeutung liesse sich auf diese Weise wirkungsvoll senken.[13] Zudem sollten Nachwuchsforschende auch in der Forschungsförderung unabhängiger von ihren Betreuungspersonen und Vorgesetzten sein: Im Fall von Übergriffen muss ein Betreuungs- und/ oder Ortswechsel möglich gemacht werden, in dem die eingeworbenen Fördergelder mitgenommen werden können zu einer neuen Position. Klar vorgegebene institutionelle Prozesse sind für solche Fälle nötig. Zudem gibt es kaum Institutionen in der Forschungsförderung, die sexualisierte Gewalt thematisieren und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Dabei wäre dies durchaus ein effektives Mittel: So verpflichtet der National Institue of Health (US) geförderte Institutionen dazu, Fälle von sexueller Belästigung unmittelbar transparent zu machen und knüpft die Fortführung der Förderung an klare Kriterien und Prozesse.

Um es nochmals zusammenzufassen: Wir benötigen mehr Wissen zu den Zusammenhängen sowie ein entschiedeneres Vorgehen v.a. auf den Leitungseben der Institutionen: Dazu gehören die kritische Reflexion von Machtverhältnissen, klare Sanktionen für Tatpersonen, transparente Prozesse und uneingeschränkter Schutz und Unterstützung für Opfer.


Andrea Zimmermann ist forscht am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung (IZFG) der Universität Bern zu den Geschlechterverhältnissen im Schweizer Kulturbetrieb. 2021/22 führte sie gemeinsam mit Deborah Oliveira und Lea Dora Illmer im Auftrag der Gleichstellungskommission des SNF die Literaturstudie „Gender Equality in Higher Academia“ durch. Sie engagiert sich seit geraumer Zeit in verschiedenen Kontexten für differenzsensiblere Lehre und mehr Geschlechtergerechtigkeit an Hochschulen. Zusammen mit Dominique Grisard ist sie zudem Leiterin von art of intervention.


Weiterführende Ressourcen

Die Webseite der Initiative Universities Against Harassment und das in diesem Rahmen publizierte Video von Andrea Zimmermann.

Das deutsche CEWS (Center of Excellence Women and Science) bietet eine Sammlung von Instrumenten und Ressourcen wie z. B. Leitfäden zur Verhinderung von sexueller Belästigung im Hochschulbereich.

Dieser Text wird zum Anlass der zurzeit stattfindenden Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» publiziert. Die 16 Aktionstage beginnen stets am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, Abschluss ist am Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember. Mit diesen Daten soll deutlich gemacht werden, dass Frauenrechte Menschenrechte sind. Geschlechtsspezifische Gewalt ist immer auch eine Menschenrechtsverletzung.


[1] Zimmermann, Andrea et al. 2021. Gender Equality Measures in Academia. GECo und SNF.

[2] Bondestam, Fredrik, and Maja Lundqvist. 2020. ‘Sexual Harassment in Higher Education – a Systematic Review’. European Journal of Higher Education 10 (4): 397–419.

[3] McDonald, Paula. 2012. ‘Workplace Sexual Harassment 30 Years on: A Review of the Literature’. International Journal of Management Reviews 14 (1): 1–17.

[4] Bspw. Whitley, Leila, and Tiffany Page. 2015. ‘Sexism At The Centre: Locating The Problem Of Sexual Harassment’. New Formations 86 (86): 34–53.

[5] Dugan, Lisa. 2018. The Full Catastrophe. Bully Bloggers.

[6] Vgl. Bondestam and Lundqvist 2020: 8 (Fussnote 2).

[7] Ilies, Remus et al. 2003. ‘Reported Incidence Rates of Work-Related Sexual Harassment in the United States: Using Meta-Analysis to Explain Reported Rate Disparities’. Personnel Psychology 56 (3): 607–31.

[8] NASEM et al. 2018. Sexual Harassment of Women: Climate, Culture, and Consequences in Academic Sciences, Engineering, and Medicine. Edited by Frazier F. Benya et al. The National Academies Collection: Reports Funded by National Institutes of Health. Washington (DC): National Academies Press (US).

[9] Ebd., S. 176.

[10] ERAC SWGGRI. 2020. Sexual Harassment in the Research and Higher Education Sector: National Policies and Measures in EU Member States and Associated Countries. ERAC 1205/1/20. Brussels.

[11] Ebd.

[12] Vgl. zu diesen Ansatzpunkten NASEM et al. (Fussnote 8).

[13] Vgl. Bondestam and Lundqvist 2020: 14 (Fussnote 2).


Bild: Foto der Lancierungsaktion der «16 Tage gegen Gewalt an Frauen», 25.11.2023. Foto: Nathalie Jufer.