(Un)Sichtbarkeit von Frauen im Literaturbetrieb: Mehr Kritiker* schreiben über mehr Autoren* mit mehr Wörtern

, , ,

veröffentlicht am

Von Andrea Zimmermann.

An welchen Kriterien lässt sich ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis im Literaturbetrieb festmachen? Ein wichtiger Anhaltspunkt ist sicherlich die Sichtbarkeit von Autoren* und Autorinnen* und ihrer Texte in Rezensionen und Literaturkritiken. Denn, wer besprochen wird, erhält Aufmerksamkeit. Neben der Nominierung für Auszeichnungen und Preise ist mediale Präsenz für Autor*innen ein wichtiger Faktor, um sich auf dem Literaturmarkt zu behaupten. Und – so lässt sich eine Brücke zu unserer Reihe der wieder zu lesenden Autorinnen schlagen – diese Sichtbarkeit sorgt auch dafür, dass bestimmte Autor*innen und Bücher länger erinnert werden als andere. Analysen, welche Publikationen auf welche Weise besprochen werden, ermöglichen folglich Rückschlüsse zur Frage, ob Autorinnen* und Autoren* der gleiche Spielraum zugestanden wird. Und vielleicht findet sich hier auch eine erste Antwort, warum das Schreiben von Frauen* immer wieder neu ‚entdeckt‘ werden muss.

Weshalb und wie wird in diesem Text das Asterisk bzw. der Gender-Stern (*) verwendet? Hier klicken um mehr zu erfahren.

Im Folgenden möchte ich auf Studien hinweisen, die sich genau dieser Frage angenommen haben: Welche Bücher werden wie ausführlich und von wem besprochen in Print-Medien, im Hörfunk oder in Fernsehformaten? Wer wird eingeladen in den Literaturclub oder wessen Buch wird zum Thema im literarischen Quartett?

Im Kontext des Innsbrucker Zeitungsarchivs zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur (IZA) erschien 2018 in der Reihe „Literaturkritik in Zahlen“ die Sondernummer „Geschlechterverhältnisse in der Literaturkritik“:

Insgesamt wurden durch das Forschungsteam 12 überregionale Tageszeitungen, Wochenzeitungen und Magazine aus Deutschland, Österreich und der Schweiz mit insgesamt 3420 Rezensionen ausgewertet, die im Jahr 2016 zum Genre Belletristik veröffentlicht wurden. Die Schweiz ist in dieser Analyse vertreten mit der Neuen Zürcher Zeitung und dem Tages-Anzeiger. Und das sind übrigens auch die einzigen Angaben, die sich bislang spezifisch für die Schweiz finden lassen.

Die zweite Studie, die ich hier erwähnen möchte, ist „Zur Sichtbarkeit von Frauen in Medien und Literaturbetrieb“. Eine Studie aus Deutschland, die ein erstes Ergebnis des Forschungsprojekts #FrauenZählen der AG Diversität ist und in Kooperation mit dem Institut für Medienforschung der Universität Rostock konzipiert und durchgeführt wurde:

Im Rahmen dieser Studie konnten 2036 Rezensionen und Literaturkritiken berücksichtigt werden, die alle im März 2018 (also in unmittelbarer Nähe zur Leipziger Buchmesse) in 69 deutschen Medienformaten erschienen sind (Print, Hörfunk, TV). Eine der Leitfragen dieser Studie lautete: „Lassen sich Unterschiede in der medialen Präsenz, in Häufigkeit und im Umfang von Autorinnen im Vergleich zu Autoren ausmachen?“ (Ebd.)

Das Ergebnis beider Studien ist trotz unterschiedlicher Samples so einfach wie ernüchternd: Zwei Drittel der besprochenen Werke sind von Männern* verfasst worden.
So konstatiert die Studie der IZA, dass im Jahr 2016 belletristische Werke von 2399 Autoren* und 1079 Autorinnen* in deutschsprachigen Zeitungen und Magazinen besprochen wurden. Damit stammen 62% der rezensierten Belletristik aus männlicher* Hand, wohingegen nur 31% der besprochenen Werke von Frauen* stammen.

IZA (2018): Literaturkritik in Zahlen
Sondernr.: Geschlechterverhältnisse in der Literaturkritik
von Mag. Dr. Veronika Schuchter, S.6

Blicken wir auf die beiden Schweizer Zeitungen der analysierten Auswahl zeigt sich folgendes Bild: Liegt die NZZ genau im Durchschnitt und bespricht 31% Bücher von Autorinnen*, so teilt sich Der Tages-Anzeiger hingegen mit der Welt aus Deutschland mit 27% besprochener Autorinnen* den unrühmlichen letzten Platz.

IZA (2018): Literaturkritik in Zahlen
Sondernr.: Geschlechterverhältnisse in der Literaturkritik
von Mag. Dr. Veronika Schuchter, S.10

Die zweite Studie (#FrauenZählen), die alle Publikationen in allen Genres berücksichtigt, die im März 2018 in Deutschland besprochen wurden, zeichnet ein ganz ähnliches Bild: Hier stehen 64% Autoren* 33% Autorinnen* gegenüber, die in Printmedien, Hörfunk oder TV Beachtung fanden.

www.frauenzählen.de – Pilotstudie zur Sichtbarkeit von
Frauen in Medien und im Literaturbetrieb, Institut für Medienforschung der Universität Rostock,
Grafik 1, S.8

Kurz: Dieser Befund lässt vermuten, dass schreibende Männer* doppelt so viel (!) Aufmerksamkeit erhalten als schreibende Frauen*.

Nun stellt sich natürlich die Frage: Wieviele Bücher wurden denn im Vergleichszeitraum von wem publiziert? Leider liegen entsprechende Daten zum gesamten Publikationsvorkommen nach Geschlecht und Genre für den untersuchten Zeitraum nicht vor. Wir wissen jedoch, dass 2014 mehr Autorinnen* (nämlich 1.675) als Autoren* (1.531) als Schriftsteller*in und Dichter*in Mitglied der Künstlersozialversicherung in Deutschland waren. Das Geschlechterverhältnis hat sich in den letzten 20 Jahren nämlich stark verändert. Immer mehr schreibende Frauen* melden sich zu Wort. Doch eine entsprechende Wahrnehmung der Autorinnen* durch die Literaturkritik scheint noch auf sich warten zu lassen.

Dies führt zur nächsten Frage: Wer schreibt denn diese Rezensionen? Wer wählt aus, über wen geschrieben wird?

Auch hier zeigt sich in beiden Studien ein deutliches Missverhältnis:

Wie die erste Studie der IZA feststellt, wurden 68% der Belletristik von Kritikern* besprochen. Nur 31% Kritikerinnen* zeichneten in den ausgewählten Zeitungen für Rezensionen verantwortlich. Für die Schweiz lassen sich 39% Kritikerinnen* bei der NZZ und 16% Rezensentinnen* beim Tages-Anzeiger feststellen:

IZA (2018): Literaturkritik in Zahlen
Sondernr.: Geschlechterverhältnisse in der Literaturkritik
von Mag. Dr. Veronika Schuchter, S.9

Die zweite Studie (#FrauenZählen) zeigt, dass sich dieses Missverhältnis auch bei der Berücksichtigung aller Genres zeigt: Kritiken werden überwiegend von Männern* verfasst. Hier wurde das Verhältnis mit 4:3 zusammengefasst.

Ein weiterer Zusammenhang, der nun nicht mehr überraschen dürfte, sticht ins Auge: Kritiker* besprechen überwiegend Werke von Autoren*.

Beide Studien kommen zum Schluss: Nur jedes vierte Buch, das von einem Kritiker* rezensiert wird, stammt von einer Autorin*. Bei den Kritikerinnen* hingegen ist dieses Missverhältnis nicht ganz so ausgeprägt. (Mehr Frauen* in den Literaturredaktionen könnten hier also Abhilfe schaffen!)

Und schliesslich ein letzter wichtiger Aspekt, der in beiden Studien deutlich zu Tage tritt: Es schreiben nicht nur mehr Männer* über mehr Männer*, sondern sie erhalten dafür auch deutlich mehr Raum.

So zeigt die Studie zur Belletristik im deutschsprachigen Raum (IZA), dass Kritiker* im Durchschnitt 100 Wörter mehr zur Verfügung haben als ihre Kolleg*innen, um ihre Rezensionen zu formulieren. Im Hinblick auf alle Genres (#FrauenZählen) wird festgehalten, dass Kritiker* im Durchschnitt 4.610 Zeichen nutzen, während Kritikerinnen* mit 3.240 Zeichen auskommen müssen. Das ist ein beachtlicher Unterschied.

Kommen wir zu einem eindeutigen Fazit: Aus den bisher vorhandenen Daten lässt sich zumindest als Tendenz ableiten, dass erstens überwiegend Männer* Rezensionen verfassen, zweitens dabei vor allem Autoren* berücksichtigen und dabei drittens auch noch deutlich mehr Raum beanspruchen können als ihre Kolleginnen*.

Um diesem sich hier abzeichnenden strukturellen Problem entgegenzutreten, wäre es wünschenswert, in absehbarer Zeit vergleichbare Daten explizit für die Schweiz zu erheben: Wieviele Autor*innen publizieren wieviel in welchen Genres? Und wird dies in den Medien entsprechend abgebildet? Vermutlich würde sich ein ähnliches Missverhältnis zeigen, wie wir es in den beiden hier vorgestellten Studien beobachten können. Das Sichtbarmachen einer strukturellen Benachteiligung von Autorinnen* im Kontext der Literaturkritik und das Ergreifen entsprechender Massnahmen wären wichtige Schritte hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit im Schweizer Literaturbetrieb.

Erläuterung zur Verwendung des Gender-Sterns:

Mit der Verwendung des Gender-Sterns hinter vergeschlechtlichten Identitätskategorien möchte ich auf die vielfältigen Positionierungen hinweisen, welche zu Geschlecht möglich sind. Damit wird auf die soziale und historische Konstruiertheit dieser Kategorien aufmerksam gemacht. In diesem Text soll auf diese Weise zudem darauf hingewiesen werden, dass der Literaturbetrieb bisher von binären Geschlechtskategorien geprägt ist und es auch den angeführten Untersuchungen nicht gelingt, schreibende Menschen zwischen und jenseits von weiblich* und männlich* sichtbar zu machen.


Bild von Free-Photos auf Pixabay.