Von Sophie Bürgi. «The Revolution Will Not Be Televised; It Will Be Live-Streamed»: Performance und Autorinnengespräch mit Koleka Putuma an der BuchBasel 2023.
«Collective Amnesia» ist der Titel von Koleka Putumas Lyrik-Debüt von 2017 – ein beeindruckender Erfolg, sowohl in ihrer Heimat Südafrika wie auch darüber hinaus. Die queere Lyrikerin wurde 1993 in Port Elizabeth geboren, lebt heute in Kapstadt und schreibt über persönliche und kollektive Erinnerungen, historische Traumata wie die Sklaverei und die Apartheid in Südafrika, und über die widerständige Kraft, eigene Narrative und Archive zu schaffen. 2020 erschien ihr Gedichtband auf Deutsch beim Verlag Das Wunderhorn, woraufhin «Kollektive Amnesie» auch im deutschsprachigen Literaturbetrieb breit und sehr gut besprochen wurde.[1] An der BuchBasel 2023 zeigt Putuma nun eine Perfomance, gefolgt von einem Autorinnengespräch, das von Senam Okudzeto moderiert wird.
Die manipulative Macht der Sprache
Vier lange, aufgespannte Tücher leuchten mir hell entgegen, als ich die Reithalle der Kaserne Basel betrete. Vor den weissen Flächen, gewissermassen als Teil der Leinwand und doch davon abgehoben, steht eine Person hoch und erhaben in einem weissen Kleid auf einem Podest. Sie trägt eine runde Maske vor dem Gesicht. Projektionsfläche und Akteurin in dieser Performance ist Koleka Putuma selbst: Während Videomaterial auf die Tücher und ihr Kleid projiziert wird, begleitet sie das Screening mit Gesten. Mal hebt sie mahnend den Zeigefinger, mal schweifen die Arme leicht umher, zum Schluss platziert sie die Maske auf dem Kopf – so wirkt sie wie ein Heiligenschein für die würdevolle Gestalt, die höher als alle im Raum steht.

Die Performerin wirkt prophetisch auf ihrem Podest. Prophetisches zeigen auch die projizierten Videos – sie handeln von Gott und der Bibel, von scheinheiligen Autoritäten, von digitaler Kommunikation und Unterhaltung, von Zensur und Überwachung. Wir sehen Ausschnitte aus unterhaltsamen Shows wie SpongeBob, vermischt mit News aus verschiedenen Teilen der Welt, Bilder von Orten und Menschen in Afrika, den USA, Europa, und eine Stimme aus dem Off dazu. «Sorry (not sorry)» heisst ein Teil der Performance, in der europäische politische Würdenträger:innen sich für koloniale Gewalt entschuldigen. Angesichts der Tatsache, dass der Abbitte nur selten Taten folgen und neokoloniale Strukturen bis heute fortbestehen, bleibt die Bedeutung dieser Entschuldigungen über den Sprechakt hinaus fragwürdig. Ein Gebet wird gesprochen, «forgive us»; immer wieder sind darin Wörter zensiert, die wir nur erahnen können.
When the product is free, you are the product»
Die Performance kritisiert nicht nur die europäische (Aussen- und Erinnerungs-)Politik, sondern auch die ständige Verwertung von Daten im Kapitalismus. Deutlich wird dies in Sätzen wie «Nothing is given freely, even when it’s free» oder «When the product is free, you are the product». Putuma analysiert die Kontrolle, die über uns in der digitalen wie auch der analogen Welt ausgeübt wird und dabei als illusorische Freiheit der ständigen Zugänglichkeit von Informationen für alle aufscheint.
Die Performance leuchtet die manipulative Macht von Sprache aus, derer sie sich gleichzeitig selbst bedient. Putuma konfrontiert uns mit Realitäten, die bei mir sowohl emotionale Reaktionen auslösen wie mich auch zum Nachdenken anregen: Ich fühle Irritation über die scheinheiligen Entschuldigungen der Mächtigen und Mitgefühl für marginalisierte Menschen, deren Widerstand in der Performance zu Wort kommt. Vor allem aber wächst mein Bewusstsein dafür, wie machtförmige digitale Medien unser Bewusstsein prägen, wie sie unsere Aufnahmefähigkeit strapazieren und uns zum Zweck des Datensammelns mit Informationen, die einen sehr unterschiedlichen Wahrheitsgehalt aufweisen, überhäufen.
So berichtet Putuma im anschliessenden Gespräch, wie herausfordernd es für sie ist, die lange Aufmerksamkeitsspanne für das Lesen eines Buches aufzubringen, da sie durch soziale Medien kürzere Informationen mit mehr Stimulation gewöhnt ist. «A call to coming back to the body» möchte Putuma anstossen, wie sie erklärt – mehr Präsenz im eigenen Körper und der eigenen Identität, um nicht von gesellschaftlich-kapitalistischen Ablenkungen und Manipulationen vereinnahmt zu werden.
«To look at and with me»
Die Körperlichkeit von Literatur ist bei Putuma zentral; mit «embodying the way we speak with each other» beschreibt sie ein Ziel, einen Wunsch ihres Schaffens.
Literatur versteht Putuma grundsätzlich als eine «embodied experience», eine körperliche Erfahrung, wie sie sagt. Ihr Einstieg in die Lyrik waren Poetry Slams, eine Kunstform, die das Schreiben von Texten mit dem physischen Aufführen derselben auf der Bühne verbindet. Dabei war die Kirche für sie prägend in der Art, wie Texte performt und erlebt werden können. Die Bibel war der erste Text, dessen Performance sie bewegt und beeindruckt hat. Sie sei sozusagen in der Kirche aufgewachsen, ihr Vater und ihr Grossvater waren beide Priester. Eine «banging performance» waren die Gottesdienste, die sie miterlebte – Figuren und Geschichten wurden ihrer Gemeinde zum Leben erweckt.
Die Inszenierung […] gibt ihr Schutz, während sie dazu einlädt, mit ihr zu schauen, zu fühlen und zu erfahren.
Bei ihrer eigenen Performance in der Kaserne werden das Digitale und der Körper vermischt – der Körper ist einerseits Teil der Projektionsfläche, andererseits gestaltet er durch Gesten den Deutungshorizont des digital Projizierten aktiv mit. Erst zum Schluss der Performance erkenne ich, dass die Maske eine mit dünnem Stoff bespannte Öffnung hat, aus der Putumas Augen uns die ganze Zeit anblickten. Ihr eigener Blick ist zunächst nicht offensichtlich – dennoch wirkt er auf uns, denn sie zeigt uns ihre Sicht in der Performance. Putuma spielt so mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit und lädt uns ein, kritisch über die dargestellten medialen Perspektiven nachzudenken.
Im Gespräch sagt die Künstlerin, sie möchte die Leute dazu einladen, «to look at and with me». Sie möchte angeschaut werden und ihre Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen mitteilen – sie exponiert sich damit bewusst. Die Inszenierung – die Maske, das Podest, die Verkleidung sowie der sorgfältige Umgang mit Sprache – gibt ihr Schutz, während sie dazu einlädt, mit ihr zu schauen, zu fühlen und zu erfahren. Was wird uns gezeigt, und wer hat diese Inhalte gestaltet? Zu welchem Zweck werden sie uns gezeigt, und wie positionieren wir uns zu ihnen, um unsere eigene Rolle in Macht- und Herrschaftsverhältnissen kritisch zu gestalten? Diese wichtigen Fragen ruft Putumas Inszenierung auf.

Den Kanon kritisieren und Erinnerungen neu arrangieren
Putuma erzählt, wie sie für «Kollektive Amnesie» ihre eigenen Erinnerungen von Fremdzuschreibungen befreite – zum Beispiel ihre Kindheit, die von bescheidenen materiellen Verhältnissen und kollektiver Care-Arbeit geprägt war und deshalb als verarmt und mangelhaft bewertet wurde. Dieser internalisierten Bewertung hat sich Putuma entgegengestellt in ihrer Erinnerungsarbeit und für sich erkannt, wie freudvoll ihre Kindheit war. Sie musste diese Erinnerungen für sich neu einordnen, sich neu aneignen. Das Gedicht, in dem sie dies verarbeitet, heisst konsequenterweise «Black Joy». «A single mattress spread on the floor was enough for all of us», schreibt sie, und weiter: «We were home and whole». Sie fragt kritisch:
But
isn’t it funny?
That when they ask about black childhood
all they are interested in is our pain,
as if the joy-parts were accidental.
Durch die direkten Bezüge zu Politik und Geschichte, die Putumas Arbeit kontinuierlich herstellt, macht sie deutlich, dass auch die intimen Aspekte ihres Werkes immer in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext stehen. Wie Okudzeto im Gespräch bemerkt, konfrontiert Putuma in ihrer Arbeit rassistische Stereotype über Afrika, ohne Klischees zu reproduzieren. In «Collective Amnesia» werden weisse Perspektiven auf Südafrika kritisiert, wenn sie in ihrem Gedicht «1994: A Love Poem» schreibt:
I want someone who is going to look at me
and love me
the way that white people look at
and love
Mandela.
Wieder sind hier die Blicke zentral: das angeschaut werden, objektiviert werden – eine Kritik an weisser Erinnerungskultur, in der nur einige auserwählte Schwarze Figuren einen umstritteneren Platz erhalten.[2]
Gegen die Amnesie anschreiben
Amnesie, die Auslöschung von Schwarzer Geschichte und Erinnerung, ist Teil der Kolonialgeschichte, wie im Gespräch von Putuma und Okudzeto analysiert wird: Kolonialismus, Sklaverei und Apartheid haben Erinnerungen Schwarzer Menschen gelöscht und fragmentiert. Die Geschichte über Südafrika, die Putuma in ihrer Schulzeit vermittelt wurde, musste sie für sich selbst revidieren, ergänzen, überarbeiten. Sie betont im Gespräch, wie viel Zeit und Energie es braucht, sich widerständig zu erinnern, gegen die herrschende Anforderung, historische Verbrechen und den immer noch vorherrschenden Rassismus zu vergessen und zu vergeben. Sie fragte sich in dieser täglichen, rigorosen, präzisen Erinnerungsarbeit: «What have I been asked to forget in South Africa?».
Putuma durchleuchtet einerseits Archive, die Art wie Erinnerungen gesammelt und bearbeitet werden, und schafft gleichzeitig eigene Narrative. Im Gedicht «Lifeline» schreibt sich Putuma eine Genealogie Schwarzer feministischer Vorkämpferinnen, in «Teachings» entwirft sie widerständige Definitionen von Begriffen:
archiving (v): a FUCK YOU to the canon.
«Creating the tools in poetry to review the existing archives» ist ihr Ziel, wie sie im Gespräch erklärt. Putumas Arbeit stellt diese Werkzeuge her – durch die Körperlichkeit und Intimität ihrer Texte und Performance, durch die immer wieder aufgezeigte Verbindung von Persönlichem und Politischen und durch ihren kritischen Umgang mit Erinnerung und Sprache in ihrer Verflechtung mit Macht und Herrschaft. Sie durchbricht mittels der Publikation ihrer Texte das ihr auferlegte Schweigen, wie sie in «Teachings» wütend und kraftvoll schreibt:
publishing (v): a middle finger to the erasure and silencing of womxn like me.
Sophie Bürgi ist als Schulbesucherin von ABQ (https://www.abq.ch/) unterwegs, um mehr Wissen zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in die Schweizer Schulzimmer zu bringen. Sie hat Geschlechterforschung und Deutsche Literaturwissenschaft an der Uni Basel studiert und arbeitet hauptberuflich in der Kommunikation.
[1] Z.B. im SRF Literaturclub oder bei Deutschlandrundfunk Kultur.
[2] weiss und Schwarz werden so geschrieben, um einen rassismuskritischen Sprachgebrauch voranzutreiben, wie ihn Rahel El-Maawi, Mani Owzar und Tilo Bur in ihrem Buch und Glossar «No to Racism» vorschlagen. Wie die drei Autor:innen erklären, hebt diese Schreibweise hervor, dass es sich bei den Begriffen weiss und Schwarz nicht um Hautfarben, sondern um Positionen in einem rassistischen System handelt.
Performance von Koleka Putuma. ©BuchBasel 2023, Sophie Tichonenko.