Von Aline Vogt. Queere Denkanstösse zu Selbstverortung und Gemeinschaft am Luststreifen-Festival.


Wer bin ich und wie passt dieses «Ich» in die Welt? Zu welchen Gemeinschaften und Netzwerken darf, will oder soll mein Selbst gehören? Mit diesen Fragen beschäftigen sich gleich mehrere Filme, die am diesjährigen queerfeministischen Luststreifen-Filmfestival gezeigt wurden. So sieht sich der junge Feña aus dem Film Mutt mit der Frage konfrontiert, welche Beziehungen er nach seiner Transition noch zu seinem Ex-Freund, seiner Schwester oder seinem Vater führen kann und will; der Lieferant Bambino muss sich in All the Colours of the World Are Between Black and White entscheiden, was er als schwuler Mann in einer konservativen Umgebung zu riskieren bereit ist; und im Film Orlando, ma biographie politique erzählen trans und nonbinäre Menschen Lebensgeschichten zwischen literarischer Imagination und realer Selbstverortung. In all diesen Filmen knüpfen die «Ichs» auf der Leinwand auf vielfältige Art und Weise Netzwerke – zu sich selbst, zu anderen Menschen auf der Leinwand und auch zu mir, der Zuschauerin.

Es ist Freitagabend, das Stadtkino ist gut gefüllt. Ich stehe in einer Gruppe von Menschen, einige davon kenne ich gut, andere sehe ich zum ersten Mal. Jemand kümmert sich darum, dass eine Person, die zu spät dran ist, auch noch nachträglich in den Kinosaal gelassen wird. Wir setzen uns an den Rand, damit sie später zu uns stossen kann. Einige Popcorntüten rascheln bereits leise, als die Stimme des Regisseurs und Philosophen Paul B. Preciado einsetzt. Während wir Preciado auf der Leinwand zusehen, wie er ein Plakat an eine Mauer befestigt, auf dem nach «Orlando» gesucht wird, erzählt er, dass er einmal gefragt wurde, weshalb er nicht seine Biographie aufschreibe. Seine Antwort: «Parce-que fucking Virginia Woolf l’a écrit à ma place en 1928.»


Die Orlandos in uns

Preciado spielt auf einen Roman von Virginia Woolf an, in dem der englische Adlige Orlando mehrere Zeitalter der Geschichte durchlebt, beginnend mit dem 16. Jahrhundert. Während eines mehrtägigen Schlafes wird Orlando vom Mann zur Frau. Diese literarische Transition bietet Anknüpfungspunkte nicht nur für Preciados eigene Biographie, sondern auch für diejenige vieler weiterer trans und non-binärer Menschen der Gegenwart. Statt also seine eigene Biographie zu schreiben, castet Preciado eben diese Menschen, um die Geschichte Orlandos nachzuerzählen und für unsere eigene Zeit fruchtbar zu machen.

Die 25 gecasteten Darsteller*innen verknüpfen Fragmente aus ihrer eigenen Biographie mit literarischen Textstellen und kreieren so einen regelrechten Flickenteppich aus „Orlandos“, bei denen die Zuschauer*innen nie genau wissen, welche nacherzählten Passagen Fiktion und welche Dokumentation sind. In einer äusserst gelungenen Passage erzählt beispielsweise eine junge trans Person zuerst, wie sie eine andere trans Person auf einer Demonstration kennengelernt hat, um dann bedauernd festzustellen, dass sie selbst ja schon einer „Lady“ aus dem elisabethanischen England versprochen sei. Ein Schmunzeln geht durch den Saal. Es ist bemerkenswert, wie mühelos sich die Geschichten verknüpfen lassen. So mühelos, dass mir die Brüche zwischen Preciado, Woolf und der erzählenden Person manchmal erst im Nachhinein bewusstwerden, manchmal auch unbemerkt bleiben.

Die sanften Übergänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Dokumentation und Fiktion spiegeln die fluiden Übergänge der queeren Geschlechter, die die dokumentierten Menschen ablegen, annehmen, weiterentwickeln und wieder neu entwerfen. Gleichgültig wie unterschiedlich die Selbstbezeichnung, die Herkunft oder das Alter der Protagonist*innen sein mag, alle finden in der einen oder anderen Textpassage bei Woolf einen Anknüpfungspunkt, weil Orlando bereits in der literarischen Vorlage den modernen Drang, ihn in eine einzige Kategorie einzuordnen, verweigert. Orlando ist eben Orlando.

Das Anliegen des Films, eine eindimensionale Festschreibung von Geschlecht kritisch zu hinterfragen und abzulehnen, wird auch am Finale deutlich: Die Schriftstellerin Virginie Despentes verleiht in der Schlussszene allen Orlandos die planetarische und nicht-binäre Staatsbürger*innenschaft. Nachdem mehrmals von den Herausforderungen der Transitionen erzählt wurde – die Einordnungswut der modernen Psychiatrie, die bürokratischen Demütigungen, Momente der Unsicherheit und der Angst – endet der Film in dieser Schlussszene hoffnungsvoll. In der anschliessenden Diskussion mit einigen anwesenden schauspielenden Personen aus dem Film wird Identität zum Thema. Eine der schauspielenden Personen gibt zu bedenken, dass auch die Fluidität von Geschlecht selbst als Identität begriffen werden könne – ein nur scheinbares Oxymoron, denn das Selbst ist nie etwas Festes oder Natürliches, sondern wird von uns allen immer wieder neu ausgehandelt und hergestellt. Der Film schlägt vor, dass wir das Selbst als in ständiger Transition begriffen verstehen und immer wieder neu erzählen müssen. Um die vielen Orlandos zu sein, die in einem Selbst wohnen, braucht es aber die Anerkennung einer Gemeinschaft. Es braucht die Vernetzung mit anderen Menschen, um gleichsam eine Vogelperspektive auf den Flickenteppich von vergangenen und gegenwärtigen „Ichs“ zu gewinnen und zu verstehen, dass „wir alle etwas von Orlando in uns haben“, wie eine Person im Film es formuliert.

Orlando, ma biographie politique (2023)


Alte Beziehungen auf neuen Fundamenten

Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich am nächsten Tag zum Kult Kino spaziere, um mir Mutt anzusehen. Der Kinosaal ist jetzt leerer, der Vorhang zum Saaleingang schluckt die letzten Sonnenstrahlen eines eigentlich viel zu warmen Oktobertages. Mutt erzählt auf feinfühlige, aber auch unterhaltsame Art und Weise von einem Tag im Leben des jungen New Yorker trans Mannes Feña. Gleich von Beginn an spüren wir seine Anspannung, als er mit seinem Vater telefoniert, den Feña am nächsten Tag vom Flughafen abholen soll. Zerrissen zwischen Pflichtbewusstsein, Genervtheit und Wut – der Vater nennt Feña bei seinem Deadname – taucht Feña ins New Yorker Nachtleben ein. Dabei begegnet er seinem Exfreund. Zwischen den Zeilen des kurzen Dialoges ist eine Atmosphäre vergangener Verletzungen deutlich spürbar. Trotzdem nähern sich die beiden an und schlafen miteinander. Es folgt ein chaotischer Tag, an dem Feña die Pille danach organisieren, ein Auto für die Abholung seines Vaters auftreiben und seine Schwester betreuen muss, die plötzlich auch noch auftaucht.

Während des ganzen Tages wird Feña damit konfrontiert, dass sein neues Leben nicht einfach zu trennen ist von den Menschen, die ihn in seinem alten begleitet haben. Während für die Zuschauenden deutlich wird, dass eine Beziehung zur transfeindlichen und mutmasslich missbräuchlichen Mutter unmöglich ist, sind andere Figuren für Feña, und damit auch für uns, komplizierter. Will der Exfreund nicht mehr mit Feña zusammen sein, weil er sich nicht eingestehen kann, einen trans Mann zu lieben, wie Feña ihm an einer Stelle vorwirft? Oder ist die durch Verletzungen gezeichnete Beziehung zwischen den beiden nicht doch komplizierter? Kann Feña ungestört sein neues Leben leben und gleichzeitig die Beziehung zu seiner jüngeren Schwester wieder aufbauen, die als junge Teenagerin ebenfalls Probleme hat und sich von Feña allein gelassen fühlt? Und wie umgehen mit dem transfeindlichen, aber zuweilen auch liebevollen Vater, der betont, dass er nicht so sein wolle wie Feñas Mutter?

Der Film zeichnet die Komplexität von menschlichen Beziehungen nach, eine Komplexität, die vor dem queeren Hintergrund der Hauptfigur besonders deutlich wird. Gleichzeitig zeigt der Film, dass Feña trotz des Chaos immer wieder zu sich selbst findet und besser für sein «Ich» einstehen kann, als dies vor der Transition der Fall war. Dabei ist er nie ganz allein: Ein neuer Liebhaber, der ihm die Schlüssel zu seiner Wohnung und seinem Auto anvertraut, die Freund*innen, die ihm bei seinem Gefühlschaos gegenüber seinem Exfreund beiseite stehen und die Mitbewohnerin, die seinen Vater mit offenen Armen in der WG willkommen heisst. Schliesslich wird deutlich, dass einige seiner früheren Beziehungen nicht abgebrochen, sondern vielmehr auf ein neues Fundament gestellt werden müssen. Der Vater entschuldigt sich dafür, dass er im entscheidenden Moment nicht für Feña da war und erzählt vom Regen, den sie gemeinsam beobachtet haben, als Feña noch klein war. Derselbe Regen, der an einer früheren Stelle des Films stürmisch und chaotisch in die Erzählung bricht, prasselt am Ende sanft gegen das Fenster und kündigt einen neuen Tag mit neuen Chancen an. Feña blickt auf die leicht verwischte Handynummer, die ihm seine Schwester auf den Arm geschrieben hat, und entlässt die Zuschauer*innen mit einem fast behaglichen Gefühl aus dem Kinosaal.

Mutt (2023)


Liebe, die nicht benannt werden darf

Etwas weniger tröstlich ist der letzte Film, den ich mir anschaue: All the Colours of the World Are Between Black and White. Der Regisseur Babatunde Apalowo hatte den Film ursprünglich als Liebeserklärung an die nigerianische Stadt Lagos konzipiert. In poetischen Bildern zeichnet er die Strassen und Parks der Stadt nach, untermalt von einer fast kitschigen Musik. Die Orte werden von den beiden Protagonisten, dem Lieferant Bambino und dem Fotografen Bawa, auf ihren Streifzügen durch Lagos neu entdeckt. Wie Apalowo in einem Interview erklärt, sei ihm aber aufgrund eines erschreckenden Mordes an einem Freund bewusst geworden, wie feindselig die Stadt sein könne – insbesondere gegenüber queeren Menschen. Nur schon der Verdacht, queer zu sein, könne eine Lynch-Justiz in Gang setzen. Dieser traurige Umstand führt dazu, dass sich Menschen nicht frei auf ihre Gefühle und Beziehungen einlassen können, sondern sich zunächst mit dem Klima der Gewalt und Angst auseinandersetzen müssen, in dem sie sich ständig bewegen. Dieses Klima wird im Film zuweilen subtil, zuweilen sehr deutlich dargestellt.

Vor diesem Hintergrund erleben die Zuschauenden einen ständigen Kampf von Ablehnung und Annäherung zwischen den beiden Protagonisten. Insbesondere Bambino stösst Bawa immer wieder von sich. Letzterer bewegt sich zwar immer wieder auf ihn zu, aber auch Bawa scheinen die Worte zu fehlen, um tatsächlich sagen zu können, was nicht sagbar ist: „You know what I mean“, sagt er an mehreren Stellen im Film. In ihrer hoffnungslosen Situation finden sich nicht nur die beiden Männer in einem Strom von Zweifel und Gewalt wieder, auch Bambinos Freundin Ifeyinwa nimmt eine wichtige Rolle in der Geschichte ein. Ifeyinwa ist eine interessante Figur, der vom Film zwar eine eigene Handlungsmacht zugestanden wird, die aber ihrerseits ständig vom Damoklesschwert der patriarchalen Heteronormativität bedroht ist. Dies zeigt sich in einer eindrücklichen Szene, in der Ifeyinwa trotz ihren peinlich berührten Verwandten durchsetzt, dass sie sich nur verloben wird, wenn sie die Schule abschliessen darf.

Der Einsatz, den man in den Verhandlungen über das eigene Ich aufs Spiel setzt, darf nicht zu hoch sein, so viel wird im Film klar. Obwohl Bambino sich am Schluss verletzlich zeigt und sein Ich zumindest in der letzten Szene seinem Freund offenbart, zeichnet der Film insgesamt ein düsteres Bild und lässt auch mich als Zuschauerin nachdenklich zurück. Wird in Orlando darüber spekuliert, ob es überhaupt noch eine Identität braucht, wird in All the Colours deutlich, dass sich die Frage nach einer Affirmation des eigenen Ichs in anderen Fällen gar nicht erst stellen darf.

All the Colours of the World Are Between Black and White (2023)


Gemeinschaft und Verantwortung: Was wir zu gewinnen haben

Mit seinem Programm trifft das Luststreifen-Festival einen Nerv, der uns alle etwas angeht, ob wir queer sind oder nicht. Gerade die Rollen von Ifeyinwa sowie Feñas Schwester und Vater – ja selbst seine Mutter! – zeigen, dass wir alle an Beziehungen und den Selbstentwürfen, die sie ermöglichen, beteiligt sind. Die Zuschauenden können sich denn auch immer wieder an ihre eigenen Versuche und ihr eigenes Scheitern erinnert fühlen, wenn sie den Figuren dabei zuschauen, wie sie sich einander annähern oder sich voneinander entfernen. Dabei können sie sich die Frage stellen, zu welchen Gemeinschaften sie eigentlich selbst gehören (wollen) und welche Verantwortung sie in diesen zu übernehmen bereit sind.

Denn obwohl wir alle vor der Herausforderung stehen, unser Ich und unsere Beziehungen in einer patriarchalen Gesellschaft frei zu gestalten, ist es genauso wahr, dass ich als cis-hetero Frau dabei andere Bedingungen antreffe als dies für queere Menschen der Fall ist. Anders als die Orlandos habe ich noch nie einem Psychiater meine Geschlechts- oder sexuelle Identität erklären müssen. Anders als Feña musste ich meinem Vater noch nie darlegen, dass meine Sexualität und meine Geschlechtsidentität nicht zwangsläufig miteinander korrelieren. Und ganz bestimmt war noch nie mein Leben bedroht, weil jemand mich in der Öffentlichkeit als hetero bezeichnet hat. Das Netz, das im Kinosaal zwischen Zuschauenden und den Figuren auf der Leinwand geknüpft wird, zeigt daher nicht nur unsere Verbundenheit, sondern macht auch unsere unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen und Privilegien sichtbar. Gleichzeitig lassen sowohl die hoffnungsvollen als auch die traurigen Geschichten der Filme erahnen, was wir zu gewinnen haben, wenn wir uns alle für die Anerkennung und den Schutz vielfältiger Lebensentwürfe einsetzen.

Die Begegnungen mit den Menschen auf der Leinwand begleiten mich auch nach dem Verlassen des Kinosaals weiter, in den Gesprächen mit meinen queeren und nicht queeren Freund*innen über die Filme, auf der Tanzfläche des Humbugs, beim Schreiben dieses Textes. Die Entscheidung darüber, wer wir sind und zu wem wir gehören ist nicht für alle gleich frei. Umso mehr sollten wir die Gelegenheit nutzen, darüber nachzudenken – und sei es nur für einen kurzen Moment im Kinosaal. Das Luststreifen-Festival bietet dafür einen Anfang.



Aline Vogt ist Historikerin und freie Autorin. Zur Zeit schliesst sie ihre Dissertation zu Mensch-Tier- und Geschlechterverhältnissen in der französischen Aufklärung an der Universität Basel ab. Daneben lehrt sie an der Universität, beteiligt sich am Verein Frauenstadtrundgang Basel und freut sich darüber, immer wieder neue Textformate austesten zu dürfen.


Bild: All the Colours of the World Are Between Black and White (2023).