Von Emma Wagener
Inhaltlicher Hinweis: In diesem Beitrag geht es um sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt. Achte gut auf dich während dem Lesen. Wenn es dir oder jemandem in deinem Umfeld nicht gut geht, findest du hier weiterführende Ressourcen.
Auf der Bühne steht ein grünes Sofa aus Samt. Vage erinnert es an das Sofa aus Paula Regos Reihe «Possession». Doch die Künstlerin wird an diesem Abend nicht im Fokus stehen. Es handelt sich um den letzten Abend der dreiteiligen Veranstaltungsreihe zur Ausstellung «Paula Rego: Machtspiele», welche die Plattform Art of Intervention in Kooperation mit dem Kunstmuseum Basel organisiert hat. Dieser dritte Abend mit dem Titel «Und dann frass er mein Herz» am 4. Dezember 2024 ist dem Thema der sexualisierten Gewalt gewidmet.
Vicky Brandford eröffnet ihn mit zwei Monologen aus dem Stück «Und dann frass er mein Herz», welches derzeit vom Theater Niemandsland erarbeitet wird. Grundlage des Stücks ist Brandfords persönliche Geschichte: sie ist Überlebende einer Vergewaltigung. Die Monologe sind ein Aufruf an das Publikum, hinzuhören und auszuhalten. «Es ist meine Geschichte. Aber es ist eure Aufgabe zuzuschauen» erklärt Brandford zu Beginn.
Agota Lavoyer schreibt in ihrem Buch «Jede_Frau» (2024) wie uns oftmals die Sprache fehlt, um über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Brandford zeigt mit ihrer Aufforderung, dass es viel früher anfängt: Wir müssen zuhören und hinsehen. Barfuss und in schwarz gekleidet läuft sie durch den Mittelgang auf die Bühne. Sie setzt sich mittig auf das grüne Sofa. Sie sitzt zusammengefaltet, ist bei sich. Dann blickt sie zum Publikum. «Ich bin ein Opfer». In ihrem ersten Monolog widmet sie sich der Tat, dem Danach und dem, was kein «danach» mehr ist, sondern ein Moment, in welchem sie nur noch als lebende Tote existiert.
Wir müssen zuhören und hinsehen.
Brandford verhandelt die fremde Macht eines Mannes über ihren Körper und ihre eigene Machtlosigkeit in diesem Moment. Fast bewegungslos steht sie auf der Bühne und umso stärker wirken ihre einzelnen klaren Bewegungen, als sie ihre Bitten an den Täter Revue passieren lässt. Bitten, die auf der Bühne das Geschehene nicht mehr verändern können, aber die gehört werden.
«Ich bin ein Opfer». Doch die Identifikation als Opfer genügt Brandford nicht. Weil sich im «Sein» ein letzter Rest an Aktivität verbirgt? Sie erstickt alles Aktive und erklärt: «Ich wurde geopfert». Oder offenbart sie an dieser Stelle doch eher die Schuld, die vollumfänglich und allein beim Täter liegt? Ihr Blick schweift zu einer imaginären Deckenlampe. «Ich bin nicht weggegangen. Ich wurde genommen». Sie verlässt die Bühne.
Zweiter Monolog. Ein Mann kommt auf die Bühne. Cowboyhut. Sonnenbrille. Breitbeinig setzt er sich hin und erstarrt. Brandford kommt hinzu und holt sich die Macht über sich selbst zurück. Unmissverständlich weist sie die Opferrolle von sich. Weist darauf hin, dass diese Rolle ausser den Göttern nur einer Person Macht verleiht, nämlich dem Täter. Brandford ist Opfer Überlebende. Und diese Überlebende lässt nicht zu, dass der Täter auch nur die geringste Macht über sie hat.
Sie macht deutlich, dass sie schon vor der Tat stark gewesen sei und dass sie durch die Vergewaltigung keineswegs an Stärke gewonnen habe. Damit positioniert sich Brandford auch gegen die Aussage «What doesn’t kill you makes you stronger» (auf Deutsch: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker). Platz für eine Opferrolle – für Ohnmacht – gibt es in diesem Monolog nur noch für den Täter vor Gericht, der sich mit scheinheiligen Erklärungen seiner Schuld entledigen möchte. Aber Brandford nimmt ihm durch ihr Spiel Stück für Stück seine Macht. Sie bewegt den regungslosen Mann wie es ihr passt. Lässt ihn in den Positionen ausharren. Schneidet ihm die umgebundene Krawatte ab. Dabei wirkt keine dieser Handlungen wie ein Racheakt. Brandford nimmt sich lediglich das zurück, was ihr genommen wurde.
Brandford nimmt sich lediglich das zurück, was ihr genommen wurde.
Vicky Brandford erzählt ihre persönliche Geschichte des Überlebens von sexualisierter Gewalt. Aber es ist unmissverständlich, dass es dabei nicht nur um sie geht. Es geht um all jene, die diese Erfahrung mit ihr teilen, die ebenfalls sexualisierte Gewalt überlebt haben. Geschichten, die zu selten den Weg an die Öffentlichkeit finden, die zu selten geglaubt werden und die noch seltener Gerechtigkeit erleben. «Wir Evas, wir sind viele. Wir sind Überlebende» spricht Brandford diese Verbundenheit auf der Bühne aus und durchbricht damit den «Mythos vom Einzelfall» (Lavoyer 2024, S.33).
Brandfords Geschichte ist kein Einzelfall, aber auch in ihrem Leben war dieser eine Akt sexualisierter Gewalt, wie bei so vielen FINTA-Personen, kein Einzelfall. Sie bringt diese «Nicht-Einzelfälle» in einer (leider gar nicht so absurden) Snackautomat-Metapher auf die Bühne. Sie verdeutlicht, wie ihre Vergewaltigung «der Höhepunkt ihrer Snackautomaten-Karriere» gewesen sei, und wie sie bereits davor eine Unzahl sexualisierter Übergriffe erlebt hat. «Ich überlebe jedes Mal».
Brandfords Monologe zeigen sexualisierte Gewalt aus der Perspektive einer Überlebenden, aber sie zeigen auch, dass Strukturen dahinterstecken, die sexualisierte Gewalt ermöglichen und stillschweigend akzeptieren. Agota Lavoyer beschreibt diese Strukturen unserer Gesellschaft in ihrem Buch als Rape Culture. Damit meint sie, dass wir in einer Gesellschaft leben, die es ermöglicht, dass sexualisierte Gewalt systematisch geschieht. In ihrer Einleitung «Keine Einzelfälle» (S. 17–18) schreibt sie, dass jede Frau in ihre Leben sexualisierte Gewalt erfährt. Was Brandford mit der Snackautomat-Metapher beschreibt, bezeichnet Lavoyer als «Kontinuum sexualisierter Gewalt» (S. 22). Zu diesem Kontinuum gehören etwa Catcalling ebenso wie Vergewaltigung, denn in beiden Fällen wird Anspruch auf einen Körper erhoben, der nicht der eigene ist. Dahinter steckt ein patriarchales System, dass es Männern ermöglicht, Macht über andere Körper auszuüben. Diese Macht und die damit einhergehende sexualisierte Gewalt wird in einer Rape Culture verharmlost, toleriert, normalisiert und romantisiert.
Statt Überlebenden zu glauben, halten wir als Gesellschaft den Tätern gegenüber gerne an der Unschuldsvermutung fest. Und das, obwohl der Konsens besteht, dass sexualisierte Gewalt nicht rechtens ist. Paradoxerweise scheint es dabei viel mehr Überlebende als Täter zu geben. An diesen Diskurs knüpft auf eine Art auch Brandfords Aussage an, dass sie geopfert wurde. Während die (Selbst-)Identifikation als Opfer den Fokus auf die Überlebende setzt, fehlt in diesem Zusammenhang der direkte Bezug auf einen Täter. Auch bei der passiven Aussage, dass sie geopfert wurde, nennt Brandford nicht direkt einen Täter. Aber durch diese Worte wird deutlich, dass ein aktives Subjekt für die Tat notwendig ist, dass ihr etwas angetan wurde. Brandfords Aussage wirft damit die Frage auf: Wer hat sie geopfert? Wenn mensch diese Frage ernsthaft beantworten möchte, müssen wir uns der Frage stellen, ob es sich dabei nur um den Täter handelt, oder um eine ganze Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt strukturell in Kauf nimmt.
Indem Brandford das Wort Opfer durch die Identifikation als Überlebende austauscht, beharrt sie auf der eigenen Handlungsfähigkeit.
In medialen Debatten zum Thema sexualisierter Gewalt lässt sich ein paradoxer Umgang mit Aktivität/Passivität und Handlungsfähigkeit beobachten. Der Fokus liegt dabei zwar oft auf den Überlebenden, aber nicht zu deren Schutz, sondern viel mehr, um eine Tat verurteilen zu können, ohne Schuldige benennen zu müssen. Die tatsächlich aktiv Handelnden, die Täter, fehlen in diesen Geschichten. Auch den Überlebenden wird durch die Zuschreibung der Opferrolle ein Stück weit die Handlungsfähigkeit abgesprochen. Indem Brandford das Wort Opfer durch die Identifikation als Überlebende austauscht, beharrt sie auf der eigenen Handlungsfähigkeit. Dabei geht es nicht darum, zu fragen, was ein Opfer gegen die Tat hätte tun können oder sollen, sondern darum, zu betonen, dass sie aktiv eine Vergewaltigung überlebt haben und dass es sich bei dem Übergriff um einen Angriff auf ein eigenmächtiges Subjekt gehandelt hat.
Brandfords Monologe sind eine Kampfansage an jegliche Toleranz gegenüber sexualisierter Gewalt. Sie schont ihr Publikum nicht, lässt es nicht weghören und macht damit deutlich, dass wir alle eine Verantwortung tragen. Denn wie Agota Lavoyer betont, es gibt bei sexualisierter Gewalt «keine neutrale Position» (S. 15).
Aus diesem Grund hoffe ich, dass möglichst viele Menschen das Stück «Und dann frass er mein Herz» zu sehen bekommen werden, wenn es für die Vorführung bereit ist. Und dass dadurch Brandfords Wünsche für die Wirkmacht des Stücks in Erfüllung gehen: Dass mehr Überlebende den Mut finden, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Dass bei potenziellen Tätern Überlegungen losgetreten werden. Und dass die tabuisierende Mentalität, die rund um das Thema sexualisierter Gewalt weiterhin herrscht, ein Stück mehr gebrochen werden kann. Eine erste Rückmeldung aus dem Publikum kam bereits am Ende des Abends: «Danke Vicky. Auch ich bin eine Eva».
Weiterführende Ressourcen:
Informationen und Unterstützung bieten unter anderem…
… die Opferhilfe Beider Basel.
… die Opferhilfe Schweiz.
… das Männerbüro der Region Basel.
… das Telefon gegen Gewalt.
… die Dargebotene Hand.
… die Notrufnummer für Kinder und Jugendliche.
Literatur
Lavoyer, Agota: Jede_Frau: Über eine Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt verharmlost und normalisiert. Yes Publishing, 2024.
Beitragsbild: Podiumsdiskussion mit (v.l.n.r.): Diana Baumgarten, Markus Theunert, Agota Lavoyer, Vicky Brandford und Andrea Zimmermann. art of intervention: Und dann frass er mein Herz, Kunstmuseum Basel | Neubau, 04.12.2024, Foto: Damaris Thalmann.