Der Körper als Archiv im Blutbuch und der Vermengung, Teil 2. Ein Essay ind drei Teilen von Lea Dora Illmer & Luzia Knobel.
Keine separierten Räume mehr, alles zusammentun, leben, schreiben, lieben, auch schreien, sage ich, und schaue zu Z., die unter dem Tisch sitzt und den Tisch anschreit. Wir sammeln alles ein, was wir finden, sage ich und gehe zu Z. unter den Tisch.
Julia Weber 2022, S. 283
Wir kommen etwas zu spät zur Lesung von Julia Weber, schleichen uns durch den gefüllten Raum und nehmen ganz hinten in der Ecke auf einer Bank Platz. Ich halte deine Hand und während ich sie streichle, vergesse ich manchmal, welche die deine und welche die meine ist. Berühre ich mich oder berühre ich dich?
«Für mich hast du das Prinzip Vermengung benannt», sagt die Moderatorin Naomi Gregoris zu Julia Weber. «Es ist eine Art Rezept». Einerseits für das Formale, aber auch für die Inhalte. Es gäbe bei Weber kein Jonglieren, keine jonglierenden Entitäten, sondern alles sei alles. Und alles gehöre zusammen. Julia antwortet, dass Die Vermengung bei ihr aus einer Notwendigkeit heraus entstanden sei. Die Alternative zur Vermengung wäre ein Identitätsverlust gewesen; die Ansprüche an ihre unterschiedlichen Rollen zu widersprüchlich. Sie gehen eigentlich nicht zusammen. Und formal? Es gibt verschiedene Ebenen in der Vermengung. Da wäre Julia, da wären die Briefe und die fiktiven Figuren Ruth und Linda. Alle führen sie ein Eigenleben, aber alle fliessen sie zusammen. «Ruth ist fantastisch», sagt Julia über die Romanfigur, «aber auch ein bisschen anstrengend.»
«Ich habe mich in A. verliebt», erzählst du Julia Weber, während sie dein Buch signiert. Sie freut sich darüber, das habe sie bisher noch nie zu hören bekommen.
Von Autofiktion zu Critical Fabulation
Die Autorin las eine Stelle, an der die Protagonistin sagt, die Übereinstimmung von Autorin und Figur in einem durchschnittlichen Roman, die liege bei genau 62.3 Prozent.
Julia Weber 2022, S. 92
Julia Weber erzählt, dass sie sich in der Vermengung an einem anderen Schreiben versucht habe. Aber eigentlich sei Schreiben immer Autofiktion irgendwie, denn «wir schöpfen aus dem, was wir fassen können». Dieses Schreiben, das vermengte Schreiben, sei ein viel ruhigerer Prozess gewesen. Viel näher an ihr selbst dran. Als Schriftstellerin hat sie nicht immer die nötige Empathie für das schöpferische Schreiben, diese Hexerei, Zauberei. Gewisserweise, führt Julia aus, seien erfundene Welten intimer. Weil sie Dinge beschreiben, die wir zwar auch sind, indem wir sie gerne wären, oder aber gar nicht wissen, dass wir sie sind.
Kim de l’Horizon hat viele Worte für das eigene Schreiben: Spekulieren, (Auto-) Fabulieren – ja, auch Julias Bezug zum Hexen gefällt Kim bestimmt. Ich staune an der Lesung, wie Kim über das Blutbuch spricht – und von Metaebene zu Metaebene springt, mühelos. Mit Begrifflichkeiten wie Critical Fabulation und Speculative Fabulation identifiziert sich Kim. Das bedeutet, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, alles zu recherchieren, was möglich ist und dann die Lücken zu fabulieren. Das geschehe folglich nicht im luftleeren Raum, sondern gleiche eher einem «Weiterschreiben». Oder, wie Kim sagt, «dem literarisch Raum geben, was war und sein musste, aber nicht gewusst werden kann».
Körper oder Leib?
In den meisten europäischen Sprachen wird zwischen einem Wesen und seinem Körper unterschieden. Man spricht davon, einen schönen, dünnen, kleinen, dicken, hässlichen Körper zu haben – nicht davon, ein Körper zu sein, die alte griechisch-römisch-christliche Vorstellung mens sana in corpore sano.
Kim de l’Horizon 2022, S. 325
Die feministische Phänomenologie bietet uns eine Hilfestellung, um vergeschlechtlichte Körpererfahrungen genauer fassen zu können: die (analytische) Unterscheidung zwischen Körper und Leib (vgl. dazu etwa Lindemann 2017). Wir können unseren Körper in zweifacher Weise erleben: als objektivierbaren, messbaren Körper und als meinen Leib, den ich bin, als Medium der Orientierung in der Welt (vgl. Spahn 2022, S. 99). Damit soll deutlich gemacht werden, dass der Körper nicht bloss «Gegenstand von Wahrnehmungen ist, sondern Wahrnehmungen selbst körperliche Erfahrungen sind» (ebd., S. 100). Demnach ist auch das Bewusstsein «eine sinnliche, körperliche Erfahrung: eine Struktur von Empfindungen» (Crossley 2017, S. 316). Mit der Leiblichkeit rücken spezifische Erfahrungen in den Blick, nämlich «Erlebnisse eines Ich, das den Körper ‹bewohnt›, ihn spürt, sich von ihm betreffen lässt, in gewisser Weise ihm auch ausgeliefert ist» (Gahlings 2016, S. 96).
Der Leib bildet also, philosophisch gesprochen, den «Ausgangspunkt des ‹In-der-Welt-seins›» (Spahn 2022, S. 101) und gleichzeitig die Öffnung hin zur Welt. Der Leib ist unser Erlebnis- und Wahrnehmungsraum, hier begegnet uns die Welt, hier wird sie spürbar. Wir glauben, dass diese Konzeption des Leibes hilfreich ist, um die Körpererfahrungen unserer Autor*innen zu analysieren. Denn wie de l’Horizons Erzählfigur eingangs in Bezug auf den objektivierbaren Körper zu formulieren beginnt, war «dieser Körper-Geist-Dualismus immer schmerzlich wahr», obwohl Kim nie daran geglaubt habe, «[i]ch war nie mein Körper. Er war zu sehr dieses oder jenes, aber niemals ‹ich›» (de l’Horizon 2022, S. 325).

Vom Aufbrechen und Zerfliessen
I think of feminism as poetry; we hear histories in words; we reassemble histories by putting them into words.
schreibt Sara Ahmed (2017, S. 12). Geschichten sind nicht nur der Geschichte verwandt, sie bestehen auch aus Schichten. (Ge-)Schichten, die wir zusammensetzen.
Als die Erzählfigur, Julia, zu Beginn der Vermengung erfährt, dass sie erneut schwanger ist, beschreibt sie ihre Reaktion wie folgt:
Ich breche auf an diesem Tisch in dieser Küche einer Genossenschaftswohnung, an diesem alten dunkelbraunen Tisch sitzend, dem der Schubladenknopf abgefallen ist, draußen liegt der Hof, darin die Blutbuche und dieser Embryo in meinem Bauch.
Julia Weber 2022, S. 22
Die Erzählfigur weiss, dass sie, weil sie schwanger ist, «wieder weich werde, meine Weichheit sichtbar werden wird» (ebd., S. 17). Damit geht einher, dass sie «elastisch sein» und «nachgeben» wird (ebd.), einerseits ihre Haut, aber auch «die Gefühle, sie werden hinausgehen, es werden welche hereinkommen, wie die Blaumeisen, die in das Häuschen fliegen, das befestigt wurde am Baum vor meinem Küchenfenster» (ebd.). Sie äussert ihre Angst davor, die Weichheit nicht kontrollieren zu können. Sie muss die ganze Zeit daran denken, dass sie «ein Brotteig sein [wird], es wird ein Leben in mir entstehen» (ebd.). Die Angst vor der Weichheit rührt daher, dass Julia weiss, «wie wenig es erlaubt ist, in dieser Welt weich zu sein» (ebd.) und «wie wenig sie gilt, die Weichheit» (ebd., S. 18). Sie habe ihre Kunst in der Vergangenheit um sich gebunden, «um den Teig herum, da liegt mein Schreiben, wie die Schale einer Nuss, um mein Inneres zu schützen», aber nun sei sie schwanger und «die Schale wird weg sein» (ebd.) Das Gefühl, keine Haut, keine Schale mehr zu haben, begleitet die Protagonistin im Laufe des Buches. Sie beschreibt es auch in Bezug auf Empfindungen, etwa diejenigen der Wärme und Kälte: «Es ist, als käme die Kälte des Bodens auf direktem Weg in mich hinein, als hätte ich keine Haut mehr, die mich schützt» (ebd., S. 42).
hast du julia webers neuen roman gelesen? ich bin gerade dran und liebe ihn sehr
schreibt mir Y. und so nehmen wir die Fäden wieder auf, die wir einige Monate zuvor losgelassen haben. «Ja, schau», schreibe ich zurück und schicke Y. die Danksagung meiner Masterarbeit, die ich für dich geschrieben habe:
Lea Dora Illmer 2022, Einband
Während ich diese Arbeit schreibe, lese ich die Vermengung von Julia Weber. Oder genauer gesagt: Meine Freundin Luzia und ich lesen uns das Buch gegenseitig vor: Auf der Insel Agistri, in Athen, am Flughafen, in Zügen, im Horburgpark, im Paul Klee Zentrum in Bern, in Uri, am Rheinufer, in Schaffhausen, auf meinem Bett liegend. […] Die Art und Weise, wie das Buch geschrieben, wie darin über das Schreiben und dessen Weltbezug nachgedacht, und wie die Inhalte verwoben und vermengt werden, hat mein Schreiben beeinflusst. Ich glaube, dass wir als Wissenschaftler*innen viel von der Vermengung lernen können.
De l’Horzion beschreibt ähnliche Körpererfahrungen aus der Kindheit der Erzählfigur: «Was das Kind umgab, war nie ausserhalb von ihm, es hatte keine Haut; die Welt ging in ihm aus und ein» (2022, S. 28). Kim erinnert etwa, wie «Grossmeers Hände in mich hineinfassten» (ebd., S. 20). Während bei Weber die Weichheit im Zentrum steht, ist es bei de l’Horizon das Flüssige, Fluide. Diese Durchlässigkeit des Körpers geht für de l’Horizon so weit, dass der Körper sich ganz aufzulösen scheint in der Erinnerung: «Ich erinnere mich kaum an den Körper des Kindes», sagt Kim. Und weiter:
Viel eher als an einen Körper erinnere ich mich daran, eine Wahrnehmung zu sein, eine Feinheit unter den dräuenden Bäuchen, zwischen den Beinen der Erwachsenen wie zwischen Stämmen eines Urwalds umherirrend, eine Zartheit auf den rauen Dingen, dem Asphalt, Grossmeers Haut.
Kim de l’Horizon 2022, S. 23
Kim weiss noch, wie es sich anfühlte, diesen Körper zu bewohnen. Erinnert sich an das Gefühl, dass der Körper nicht Kim gehört(e), dass sein Zweck nicht derjenige war, selbst darin zu sein, sondern dass er, dieser Körper, für andere und anderes da war: «Ich war immer so ein Möbel, ein Kommödli für Ausrangiertes». Ein Behältnis, in das andere, namentlich «die Erwachsenen», ihre «Dinge, Themen, Probleme» deponiert haben, «das Fühlen, das unerwünscht war, die Ängste, das Mannsein, das Frausein, die Wunden» (ebd., S. 49).
Diese Durchlässigkeit der Körpergrenzen bleibt im Laufe des Blutbuchs bestehen. Kim beschreibt, was damit einhergeht, den Körper auch heute nicht richtig zu spüren: «[…] ich stosse mich andauernd, an Tischkanten und -beinen, offenen Türen und Schranktüren, ich werde angerempelt und remple an» (ebd., S. 30). Was dieses Körperempfinden und die Sprache, die de l’Horizon dafür findet, verbindet, ist genau dieses Fliessende, Wellenartige. Kim stellt fest, dass auch «das Element der Sprache das Flüssige ist» (ebd., S. 57). Für Kim ist es notwendig, den Körper in Worte zu fassen, «[w]eil ich immer ein Wasser war, mein Körper immer spürte, wie sehr er ein Fliessen ist, ein In-Bewegung-Sein» (ebd., S. 57). Und wie sonst soll mensch den Körper festhalten, dieses etwas, das «immer nachgibt, verschwimmt, zerfliesst?» (ebd., S. 31). Die Schwierigkeit, in dieser Welt weich zu sein, ähnelt vielleicht der Schwierigkeit, flüssig zu sein. In den Briefen an die Grossmutter führt de l’Horizon aus:
Me, I have always felt this waterness of my existence. I am a fluidity, my body resonates, I am in constant, deep resonation with you, with the past, with the ghosts you didn’t bury, with the feelings you didn’t live.
Kim de l’Horizon 2022, S. 287
Hier klingt bereits an, was wir im Folgenden ausführen möchten, eine weitere Gemeinsamkeit der beiden autofiktionalen Romane: Die Eigenschaft des Körpers, ein Archiv zu sein. Nicht nur für die eigenen Erinnerungen und Empfindungen, sondern auch für diejenigen der anderen, der (erweiterten) Verwandtschaft, der Ahn*innen, der Genealogie. Sie ergibt sich durch die Durchlässigkeit der Körper, denn in weiche und flüssige Körper lassen sich Dinge einschreiben.

Weiter geht es in Teil 3: «Von Truckli & Brotteig: Vermeerungen» (wird demnächst veröffentlicht).
Lea Dora Illmer ist Geschlechterforscherin, freie Autorin und Lektorin. Ihre Masterarbeit hat sie zur sogenannten Frauengesundheitsbewegung in der Schweiz geschrieben. Sie ist Mitbegründerin des Vereins FKK (Feministische Kulturkritik).
Luzia Knobel ist Geschlechterforscherin und Historikerin. Sie arbeitet zu Themen der Geschlechtergeschichte und ist Co-Koordinatorin des Vereins Frauenstadtrundgang Basel. In ihrer Masterarbeit beschäftigt sie sich mit dem Publizieren als politische Praxis am Beispiel der Zeitschrift Lesbenfront. Sie ist Mitbegründerin von FKK (Feministische Kulturkritik).
Literatur
Ahmed, Sara: Living a feminist life. Durham, NC: Duke University Press 2017.
———: Feministisch leben! Münster: Unrast Verlag 2018 [2017].
Crossley, Nick: «Phänomenologie». In: Gugutzer, Robert et al. (Hg.) Handbuch Körpersoziologie. Band 1. Wiesbaden: Springer VS 2017, 315-333.
de L’Horizon, Kim: Blutbuch. Köln: DuMont 2022.
Gahlings, Ute: Phänomenologie weiblicher Leiberfahrungen. In: Landweer, Hilge & Isabelle Marcinski (Hg.) Dem Erleben auf der Spur. Feminismus und die Philosophie des Leibes. Bielefeld: transcript 2016 [2006].
Gay, Roxane: Hunger. New York: Harper 2017.
Illmer, Lea Dora: «Wir stellten fest, eines Tages, dass wir Expertinnen waren». Praktiken der Wissensproduktion und Weitergabe – Eine Geschichte der Frauengesundheitsbewegung in Basel. Masterarbeit. Universität Basel 2022.
Kaur, Rupi: Home Body. Kansas City, Missouri: Andrews McMeel Publishing 2020.
Lindemann, Gerda: «Leiblichkeit und Körper». In: Gugutzer, Robert et al. (Hg.) Handbuch Körpersoziologie. Band 1. Wiesbaden: Springer VS 2017, 57-66.
Rosa & Louise: A Feminist Manifest in Dialogue. 2013 – ongoing.
Spahn, Lea: Biography Matters – Feministisch-phänomenologische Perspektiven auf Altern in Bewegung. Bielefeld Transcript Verlag 2022.
Weber, Julia: Die Vermengung. Zürich: Limmat Verlag 2022.
Beitragsbild: Zeichnung von Julia Weber, 2019-2021 ©Die Künstlerin (Ausschnitt).