Der Körper als Archiv im Blutbuch und der Vermengung, Teil 1. Ein Essay in drei Teilen von Lea Dora Illmer & Luzia Knobel.


Es ist BuchBasel. Beat Jans hält eine Rede, in der er von «vielgeschlechtlichen Menschen» spricht und ich esse rote Gummibärchen, während ich mich frage, was Jans damit meint. Er sagt, dass das neue Gleichstellungsgesetz – wenn auch sachte – an den binären Geschlechtergrenzen rüttle. Das löse bei den Menschen Angst aus. Vielleicht, fragt er in den Raum, wisse Kim de l’Horizon, wie mit dieser Angst umzugehen sei. Vielleicht, frage ich mich derweil, hat Kim aber Besseres zu tun, als diese immergleichen Fragen zu beantworten. 

Die Lesung von Kim de l’Horizon ist im grossen Saal. Das «Buch der Stunde», nennt es die Moderatorin Christine Lötscher, «etwas ist mit diesem Buch». Gerade sehr junge Menschen hätten bis zum Blutbuch nicht gewusst, dass Literatur so berühren könne. Und dann diese nonbinäre, genderfluide Erzählperspektive und der Pflanzenbezug, die Beziehungen zur nicht-menschlichen Natur, welche so gut in das Anthropozän passten. Kim ergänzt, dass Bäume nicht so zentralistisch und geradlinig seien, wie vielleicht angenommen. Höchstens an der Oberfläche, über der Erde, aber darunter ist das ganze verwobene Wurzelgeflecht. 

Die Pilze seien im Untergrund miteinander verbunden, sagt A. Sie seien ein großes zusammenhängendes System. Ein zusammenhängender Organismus, sagt sie.

Julia Weber 2022, S. 27

Da hängt alles zusammen, denke ich, ist alles vermengt und verwoben. Wie im Blutbuch selbst. Und wie in der Vermengung von Julia Weber. Erinnerst du dich daran, frage ich dich, dass es auch in der Vermengung eine Blutbuche gab?

«Ich sitze in der Küche, sehe geradeaus durch das Fenster in den Hof, und weil die Tauben in den Blutbuchen gurren, schreibe ich von gurrenden Tauben», beginnt Julia Weber das erste Kapitel ihres Buches Die Vermengung (2022, S. 9). An einer anderen Stelle schreibt sie: 

Wir gehen langsam durch das Treppenhaus, draußen vor dem Fenster sehe ich die Blutbuche, die Elefantenhaut ihres Stammes und die roten Blätter, die sich im Regen bewegen.

Julia Weber 2022, S. 101

Die Blutbuche kommt insgesamt neun Mal vor in der Vermengung. Das mag daran liegen, dass sie im Hof der Protagonistin steht und diese sich durch eine sorgfältige Beobachtungsgabe auszeichnet. Sie (be)schreibt, was sie sieht, was sie fühlt, was sie berührt, was sie erfährt, wenn sie aus dem Fenster schaut. Fast zehn Mal erwähnt Julia Weber diesen Baum, der «im Hof [rot] leuchtet» (ebd., S. 323). Das scheint zwar viel, ist aber immer noch 150-mal weniger als im Blutbuch (2022) von Kim de l’Horizon.

Dieser geheimnisvolle Baum ist jedoch nicht die einzige Gemeinsamkeit, die die beiden Bücher aufweisen. Beide Autor*innen verflechten verschiedene Erzählstränge in einem Buch. Beide bedienen sich stilistisch unterschiedlicher Formen und beide beschreiben, wie sich alles verwebt: die Kunst mit der Mutterschaft, die Grossmeer mit der Meer und der Körper mit den Worten.

Beide Bücher verhandeln Körpererfahrungen ihrer Protagonist*innen. Beide erzählen von den «Dingen, die nur noch mein Körper weiss» (de l’Horizon 2022, S. 67). Sie suchen und finden Worte dafür, messen ihnen Legitimität und Wichtigkeit bei. Mit Sara Ahmed gesprochen gelingt es diesen beiden Autor*innen, «Körper in Worte zu fassen» – eine phänomenologische Methode. Ahmed entwickelt im Kapitel «Sensations» ihres Buchs Living a Feminist Life (2017) eine Phänomenologie, die zu einem feministischen Bewusstsein beiträgt. Ein wichtiger Aspekt davon ist, Worte zu finden – für den Körper, für Körpererinnerungen und -erfahrungen, für «das in den Körpern getragene Wissen» (de l’Horizon 2022, S. 262), damit dies sagbar und sammelbar wird. So entstehen feministische Archive, die Strukturen belegen und uns aus der Vereinzelung herauslösen. In einem nächsten Schritt können wir das Erlebte vielleicht anders einordnen und unsere Körper, unsere Welt neu zusammensetzen. Ahmed spricht davon, den Körper neu zu bewohnen (vgl. 2017, S. 30). Aber eines nach dem anderen. Denn am Anfang steht die sensation.

Nothing can replace
how the women in my life
make me feel.

Hast du als Widmung für mich in Die Vermengung geschrieben. Es ist ein Gedicht von Rupi Kaur aus Home Body (2020, S. 68). 

Bern, 19. Juni 2022
Für Lea Dora
mein Buch am Frauenstreik
und gelesen, laut von euch,
eine Freude,
Julia

Steht auf einer anderen Seite, seit Julia Weber mein Buch am «Symposium für Frauen im Literaturbetrieb» signiert hat. 

Wir gehen in diesem Essay wie folgt vor: Wir vermengen unsere eigenen sensations, unsere Empfindungen und Erfahrungen, mit Theorie und Literatur. Wir ziehen Sara Ahmed hinzu und lassen drei Bücher aufeinander und auf uns treffen. Vor dem Hintergrund der feministischen Phänomenologie denken wir darüber nach, wie Kim de l’Horizon und Julia Weber (ihre) Körper in Worte fassen: Welche Gemeinsamkeiten bestehen in der Art und Weise, wie diese über verkörperte Erfahrungen berichten? Was unterscheidet sie? Was lernen wir von ihnen über Körpererinnerungen, über Körper als Archive? Und inwiefern tragen sie damit zu einem queer-feministischen Bewusstsein bei? Wir betrachten dazu einerseits, wie Körper als etwas Durchlässiges beschrieben werden und andererseits, welche Rolle ihnen als Archive voller «Körperwissen, das für Generationen wichtig war, die lange, zittrige Linie» (de l’Horizon 2022, S. 262) zukommt.

why do i let my mind
get under my skin
i am so sensitive

lautet ein anderes Gedicht von Rupi Kaur (2020, S. 8). «Sensitive» kann übersetzt empfindlich, sensibel, empfindsam, feinfühlig bedeuten. Das deutsche, bildungssprachliche Wort «sensitiv» meint laut dem Duden «von übersteigerter Feinfühligkeit; überempfindlich». Warum schwingt hier mit, dass das etwas Schlechtes ist?

Embrace your shyness!
Cry in public!
Have big big feelings!
Be a mess!

prangt ein Auszug aus dem «A Feminist Manifesto in Dialogues» in der Ausstellung «Fun Feminism» im Kunstmuseum|Gegenwart. Ich möchte hinzufügen: «Be sensitive!»

Zeichnung von Julia Weber, 2019-2021 ©Die Künstlerin.


«Feminism is sensational»

Sara Ahmed schafft mit ihrem Manifest für Spassverderber*innen eine Werkzeugkiste, einen Baukasten, ein Nachlagewerk und radikale feministische Theorie in einem. Sie stellt nebenbei den Theoriebegriff selbst in Frage, indem sie Feministische Theorie als etwas, «was wir zuhause tun» (2018, S. 18) begreift. Als das, was wir tun, wenn wir feministisch leben. Ahmed gewinnt ihre Theorie aus der Praxis, denn «das Persönliche ist theoretisch» (ebd., S. 22). Feminismus ist für Ahmed eine Hausaufgabe, weil er eine Aufgabe an und in unserem Zuhause darstellt. Somit ist feministische Arbeit auch eine selbstgestellte Aufgabe, «gerade, weil wir in einer Welt nicht zu Hause sind» (ebd., S. 17). 

Im Kapitel «Sensations» widmet sich Ahmed ihrer Vergangenheit. Sie schult unsere Wahrnehmung, indem sie den Blick auf Sensations lenkt, auf Empfindungen. Denn sie vertritt die Annahme, dass Feminismus mit Empfinden anfängt: 

Feminism is sensible because of the world we are in.

Sarah Ahmed 2017, S. 21

Es kann also sein, dass sich etwas falsch anfühlt, «things don’t seem right» (ebd., S. 22). Dann ist Feminismus eine «sensible reaction to the injustices of the world, which we might register at first through our own experiences» (ebd.). Das tut Ahmed im Folgenden. Genau wie Julia Weber und Kim de l’Horizon. Sie teilen Erfahrungen mit uns, die sie zum Feminismus gebracht haben. Und diese sind sowohl vergeschlechtlicht als auch verkörpert.

«Every body has a story and a history», schreibt Roxane Gay in Hunger (2017, S. 10). Auf deutsch ist das Wort sogar ein und dasselbe: Jeder Körper hat eine Geschichte. 

Eine Sensation – zu Deutsch eine Empfindung, ein Gefühl, eine Wahrnehmung oder ein Sinneseindruck – «is often felt by the skin» (Ahmed 2017, S. 22). Ahmed weist auf die Doppeldeutigkeit des englischen Begriffs hin, der einerseits die Fähigkeit, zu empfinden beschreibt und andererseits eine starke Neugierde, ein Interesse, eine Aufregung. Eine Sensation ist keine organisierte, geordnete oder intentionale Antwort auf etwas. Vielmehr stellt sie ein Empfinden dar, das nicht klar oder eindeutig ist, sondern umfasst, wie ein Körper mit der Welt in Beziehung steht (vgl. ebd.). Und das ist abhängig von gemachten Erfahrungen, eingebettet in die eigene Geschichte.

«Ich spürte die Dinge, ohne sie zu verstehen.», stellt die Erzählfigur im Blutbuch fest. Und weiter: «Ich spürte, dass die Truckli [Schatullen] innere Räume der Grossmeer waren, die sie ausgelagert hatte.» (de l’Horizon 2022, S. 23)

Das Empfinden kann sehr intensiv sein. Mit der Zeit, mit der Erfahrung, entsteht vielleicht ein Gefühl des Unrechts. Ahmed betont: «You might not have used that word for it; you might not have the words for it» (2017, S. 22). In diesem Sinn beginnt ein feministisches Bewusstsein mit einem Körper. Einem Körper, der in Berührung steht mit der Welt, «a body that is not at ease in a world; a body that fidgets and moves around» (ebd.). 

Ahmeds phänomenologische Methode ist es, diesen Empfindungen Aufmerksamkeit zu schenken. Sie arbeitet viel mit Metaphern. So taucht sie einen Schwamm in die Vergangenheit, um sich zu erinnern. Weil «[f]eminist work is often memory work» (ebd.). Sie erinnert etwa ihre Biography of Violence. Die Erinnerungen sind verkörpert, «the body is memory: to share a memory is to put a body into words» (ebd., S. 23). Ahmed beschreibt, wie ihr Körpergedächtnis sich in Bezug auf Gewalterfahrungen anfühlt: «Experiences like this: they seem to accumulate over time, gathering like things in a bag, but the bag is your body, so that you feel like you are carrying more and more weight» (ebd.). Die Vergangenheit fühlt sich schwer an, sie wird schwer. 

Ich lese dir die Stelle aus der Vermengung vor, in der es um das erste Mal der Erzählfigur geht. Ich fühle mich unwohl, es erinnert mich zu sehr an [   ], die Empfindung ist zu intensiv. 

Ahmed vertritt die Ansicht, dass Wörter uns erlauben, näher an unsere Erfahrungen heranzukommen (vgl. ebd., S. 32). Sie können uns dabei helfen, zu verstehen, was wir erlebt haben – nachdem wir es erlebt haben. Sie ermöglichen einen anderen, neuen Zugang zu unseren Erfahrungen und Erinnerungen. Dabei helfen sie, das Erlebte einzuordnen, ihm Sinn zu geben. Das hat auch eine politische Dimension. Indem das persönliche Sprechen und Benennen konkrete Machtverhältnisse in den Blick nimmt, macht es sie kritisierbar. Anders gesagt: «We have to make sense of what does not make sense» (ebd., S. 21). Und das mache einen Unterschied, «[h]aving names for problems can make a difference» (ebd.). Ahmed begreift Worte als Werkzeuge, wenn sie schreibt: «With these words as tools, we revisit our own histories; we hammer away the past» (ebd.). Etwas sagbar zu machen erlaube es, etwas greifbar zu machen. Eine diffuse Sensation kann dadurch zuerst für einen selbst und anschliessend für andere kommunizierbar werden (vgl. ebd., S. 36). Der Prozess der Sprachfindung gehört zum Erlangen eines feministischen und antirassistischen Bewusstseins dazu: 

Feminist and antiracist consciousness involves not just finding the words, but through the words, how they point, realizing how violence is directed: violence is directed toward some bodies more than others.

Sarah Ahmed 2017, S. 34
Zeichnung von Julia Weber, 2019-2021 ©Die Künstlerin.

Weiter geht es in Teil 2: «Von Truckli & Brotteig: Die Vermengung als Rezept».

Lea Dora Illmer ist Geschlechterforscherin, freie Autorin und Lektorin. Ihre Masterarbeit hat sie zur sogenannten Frauengesundheitsbewegung in der Schweiz geschrieben. Sie ist Mitbegründerin des Vereins FKK (Feministische Kulturkritik).

Luzia Knobel ist Geschlechterforscherin und Historikerin. Sie arbeitet zu Themen der Geschlechtergeschichte und ist Co-Koordinatorin des Vereins Frauenstadtrundgang Basel. In ihrer Masterarbeit beschäftigt sie sich mit dem Publizieren als politische Praxis am Beispiel der Zeitschrift Lesbenfront. Sie ist Mitbegründerin von FKK (Feministische Kulturkritik).


Literatur

Ahmed, Sara: Living a feminist life. Durham, NC: Duke University Press 2017.

———: Feministisch leben! Münster: Unrast Verlag 2018 [2017].

Crossley, Nick: «Phänomenologie». In: Gugutzer, Robert et al. (Hg.) Handbuch Körpersoziologie. Band 1. Wiesbaden: Springer VS 2017, 315-333. 

de L’Horizon, Kim: Blutbuch. Köln: DuMont 2022.

Gahlings, Ute: Phänomenologie weiblicher Leiberfahrungen. In: Landweer, Hilge & Isabelle Marcinski (Hg.) Dem Erleben auf der SpurFeminismus und die Philosophie des Leibes. Bielefeld: transcript 2016 [2006].

Gay, Roxane: Hunger. New York: Harper 2017.

Illmer, Lea Dora: «Wir stellten fest, eines Tages, dass wir Expertinnen waren». Praktiken der Wissensproduktion und Weitergabe – Eine Geschichte der Frauengesundheitsbewegung in Basel. Masterarbeit. Universität Basel 2022.

Kaur, Rupi: Home Body. Kansas City, Missouri: Andrews McMeel Publishing 2020.

Lindemann, Gerda: «Leiblichkeit und Körper». In: Gugutzer, Robert et al. (Hg.) Handbuch Körpersoziologie. Band 1. Wiesbaden: Springer VS 2017, 57-66. 

Rosa & Louise: A Feminist Manifest in Dialogue. 2013 – ongoing.

Spahn, Lea: Biography Matters – Feministisch-phänomenologische Perspektiven auf Altern in Bewegung. Bielefeld Transcript Verlag 2022.

Weber, Julia: Die Vermengung. Zürich: Limmat Verlag 2022.


Beitragsbild: Zeichnung von Julia Weber, 2019-2021 ©Die Künstlerin (Ausschnitt).