Der Körper als Archiv im Blutbuch und der Vermengung, Teil 3. Ein Essay in drei Teilen von Lea Dora Illmer & Luzia Knobel.
‹Eines Tages wirst du alles erben›, sagte sie, und das war stets eine Drohung.
Kim de l’Horizon 2022, S. 23
Kim schafft im Schreiben eine Distanz zur Grossmeer. Schreibt über sie, als sei diese eine Romanfigur, «[a]ls wärst du nicht unentwegt in mir» (ebd., S. 23). Aber viel mehr als an den eigenen Körper erinnert sich Kim an die Körperteile der Grossmeer – und findet mannigfache Metaphern dafür. Der Mund, der Lippenstift darauf, wie «ein Meer bei Ebbe» (ebd., S. 25), ihre Zähne, «gross und weiss, wie die Berge» (ebd., S. 26) oder der Nagelfalz, «eine Welle aus Vergangenheit […], die sich in einer Bucht bricht» (ebd., S. 22). Die Erinnerung an die Grossmeer ist lebendig (vgl. ebd., S. 29). Kims Körper ist ein Archiv, in das die Grossmeer ihre «unverarbeitete Geschichte» abgeladen hat. Kim schreibt deswegen an die Grossmeer, weil «es mich nur durch deinen Körper gibt, weil ich deine Fortsetzung bin und weil ich gewisse Dinge nicht mehr fortsetzen will» (ebd., S. 32).
Diese Stellen erinnern daran, wie auch Julia in der Vermengung spürt, während das Kind sich in ihr bewegt, wie sich «bereits jetzt […] meine Geschichte in dieses Kind einschreibe» (Weber 2022, S. 75). Sie wisse auch, sagt Julia an dieser Stelle zu A., «dass sich die Geschichte meiner Mutter in mich eingeschrieben hätte, und nun würde diese Geschichte auch in das Kind eingeschrieben und immer so weiter und weiter» (ebd.). Julia fährt damit fort, dass diese materielle Vorstellung von (Ver-)Erben auch schön sei, «weil Menschen so nicht verloren gehen würden, sie würden so weitergegeben» (ebd., S. 76). Sodass sie ihre Grossmutter und ihre Urgrossmutter dann auch in ihrer Tochter finden würde (vgl. ebd.). Gleichzeitig wendet sie aber ein, dass es ihr auch Angst mache. Nämlich immer dann, wenn sie an ihre eigene «namenlose Trauer» denke. Dann müsse sie unweigerlich an die Traurigkeit ihrer Mutter denken (vgl. ebd.). Diese habe, da sei sie sich sicher, diese Traurigkeit auch.

«Einen Körper in Worte fassen» und feministisches Bewusstsein
Think of this: how we learn about worlds when they do not accommodate us. Think of the kinds of experiences you have when you are not expected to be here. These experiences are a resource to generate knowledge.
Sarah Ahmed 2017, S. 10
Ganz im Sinne dieses Zitats schlagen wir vor, die zwei autofiktionalen Romane Blutbuch und Die Vermengung als Ressourcen zu nutzen, um Wissen zu generieren. Wissen darüber, wie es sich anfühlt, von einer Welt nicht beherbergt zu werden. Weil unsere Körper zu weich oder zu flüssig sind und keine Schale (mehr) haben. Dazu soll dieser Essay einen Ausgangspunkt bieten.
Ich habe in der Vermengung gesucht und gefunden, wo es um die Weichheit geht und darum, dass die Schale weg ist, wie bei einer Nuss oder Auster (nachdem ich sie mit etwas Zwiebelkonfit herunterschlürfe)»,
schreibe ich dir von der Atlantikküste. Dazu zeichne ich «die Auster vorher, mit Schale».
Weber beschreibt in der Vermengung, wie eine Schwangerschaft, das Heranwachsen eines Menschen in ihr, in ihrem Leib, nicht nur die gängige Konzeption eines autonomen Selbst in Frage stellt, sondern auch Vorstellungen von künstlerischem Schaffen. Die Kunst, einst als Schale um sich gebunden, «um den Teig herum», (Weber 2022, S. 18) fällt plötzlich weg. Die Erzählfigur fürchtet, «dass ich nicht mehr leben können werde» (ebd., S. 22). Ihre Kraft reicht nicht. «Sie reicht nicht einmal dafür, die gesellschaftliche Meinung abzuwehren darüber, dass ich besser nicht Mutter und Künstlerin sein soll» (ebd., S. 21). Aber in der Vermengung gelingt es ihr schliesslich:
In jener Nacht verstand ich, dass sich alles vermengt, dass ich die Kunst bin, die ich mache, und die Kunst ist ich. Ich bin die Mutter dieses Kindes, und das Kind hat mich als Mutter. Wir werden ineinander und auseinander herauswachsen, und die Kunst wird neben uns her wachsen und auch in uns hinein.
Julia Weber 2022, S. 117
Es gelingt ihr, indem sie – mit den Worten der Romanfigur A. – fordert: «Die Weichheit solle Königin werden» (ebd., S. 221). «[E]s gehe um das Stärken der Weichheit in der Kunst und um das langsame Abtragen des Bildes des Genies» (ebd., S. 220), führt A. die Forderung aus.
Kim de l’Horizon formuliert im Blutbuch, wie es ist, ein flüssiger, fluider Körper zu sein (statt zu haben), was heisst, «Wasser zu sein, fünfundsiebzig Prozent, aber es ist auch eine ständige Übung» (de l’Horizon 2022, S. 325). Gegen Ende des Blutbuchs beschreibt die Erzählfigur, wie ihr diese Übung nach und nach gelingt:
Während ich dies schreibe, bin ich in Resonanz mit meinen Sprachen, unseren Körpern, und all den Vorfahren, die sowohl Körper als auch Sprachen geschaffen haben. Und natürlich meine ich ‹Vorfahren› nicht im biologischen Sinne. Virginia Woolf ist genauso meine Mutter wie du, die hypersea.
Kim de l’Horizon 2022, S. 325
Beiden Körperkonzeptionen – der flüssigen wie auch der weichen – ist gemein, dass die Grenzen zwischen sich und anderen nicht klar sind, sondern fliessend. Dieses Empfinden, diese Vorstellung hat nichts mit dem objektivierbaren, messbaren Körper zu tun, sondern vielmehr mit dem, was wir als Leibesempfinden eingeführt haben. Webers und de l’Horizons Art und Weise, den Leib «in Worte zu fassen», umfasst ein geschlechtsspezifisches Bewusstsein. Während es bei Weber die Einsicht ist, dass nicht alle Körper gleich behandelt, nicht an alle Körper die gleichen Ansprüche und Anforderungen gestellt werden, finden wir bei de l’Horizon ein Bewusstsein für die Gerichtetheit von Gewalt – auch in Form von Sprache. De l’Horizon beschreibt etwa, wie die Meersprache bloss zwei Möglichkeiten bietet, ein Körper zu sein, ein Mann oder eine Frau, eine «Kindergartenzweierreihe» (ebd., S. 17). Das Blutbuch und die Vermengung handeln beide davon, ein queer-feministisches Bewusstsein zu erlangen und schliessen damit an das Vorhaben von Sara Ahmed an:
I discuss the process of becoming a feminist, and how consciousness of gender is a world consciousness that allows you to revisit the places you have been, to become estranged from gender and heteronorms as to become estranged from the shape of your life.
Sarah Ahmed 2017, S. 18
Ahmed, Weber und de l’Horizon beginnen dazu bei ihren eigenen Erfahrungen. Sie untersuchen, wie diese individuellen Erlebnisse Wege sind, «of (affectively, willfully) being inserted into a collective feminist history» (ebd.). Indem sie ihre Körper in Worte fassen, schreiben sie kollektive, feministische Geschichte(n).

Dies ist der dritte von drei Beiträgen der Serie «Von Truckli & Brotteig». Hier geht es zu Teil eins und zwei.
Lea Dora Illmer ist Geschlechterforscherin, freie Autorin und Lektorin. Ihre Masterarbeit hat sie zur sogenannten Frauengesundheitsbewegung in der Schweiz geschrieben. Sie ist Mitbegründerin des Vereins FKK (Feministische Kulturkritik).
Luzia Knobel ist Geschlechterforscherin und Historikerin. Sie arbeitet zu Themen der Geschlechtergeschichte und ist Co-Koordinatorin des Vereins Frauenstadtrundgang Basel. In ihrer Masterarbeit beschäftigt sie sich mit dem Publizieren als politische Praxis am Beispiel der Zeitschrift Lesbenfront. Sie ist Mitbegründerin von FKK (Feministische Kulturkritik).
Literatur
Ahmed, Sara: Living a feminist life. Durham, NC: Duke University Press 2017.
———: Feministisch leben! Münster: Unrast Verlag 2018 [2017].
Crossley, Nick: «Phänomenologie». In: Gugutzer, Robert et al. (Hg.) Handbuch Körpersoziologie. Band 1. Wiesbaden: Springer VS 2017, 315-333.
de L’Horizon, Kim: Blutbuch. Köln: DuMont 2022.
Gahlings, Ute: Phänomenologie weiblicher Leiberfahrungen. In: Landweer, Hilge & Isabelle Marcinski (Hg.) Dem Erleben auf der Spur. Feminismus und die Philosophie des Leibes. Bielefeld: transcript 2016 [2006].
Gay, Roxane: Hunger. New York: Harper 2017.
Illmer, Lea Dora: «Wir stellten fest, eines Tages, dass wir Expertinnen waren». Praktiken der Wissensproduktion und Weitergabe – Eine Geschichte der Frauengesundheitsbewegung in Basel. Masterarbeit. Universität Basel 2022.
Kaur, Rupi: Home Body. Kansas City, Missouri: Andrews McMeel Publishing 2020.
Lindemann, Gerda: «Leiblichkeit und Körper». In: Gugutzer, Robert et al. (Hg.) Handbuch Körpersoziologie. Band 1. Wiesbaden: Springer VS 2017, 57-66.
Rosa & Louise: A Feminist Manifest in Dialogue. 2013 – ongoing.
Spahn, Lea: Biography Matters – Feministisch-phänomenologische Perspektiven auf Altern in Bewegung. Bielefeld Transcript Verlag 2022.
Weber, Julia: Die Vermengung. Zürich: Limmat Verlag 2022.
Beitragsbild: Zeichnung von Julia Weber, 2019-2021 ©Die Künstlerin (Ausschnitt).