Von Christina Zinsstag, basierend auf einem Gespräch zwischen Ana Sobral und Fatima Moumouni über Toni Morrison. Dieser Text ist Teil des Schwerpunktes «Schreibweisen, Genres und die Verhältnisse der Geschlechter» von Art of Intervention.
«Wiedergelesen» ist ein Gesprächsformat im Literaturhaus Basel. Bei dem Format geht es, wie der Name bereits verrät, darum, Ausschnitte aus dem Werk ein*er Autor*in wieder zu lesen und sich darüber auszutauschen. Dabei entsteht ein gemeinsamer Raum des Erinnerns und Nachdenkens über zentrale Aussagen dieser Ausschnitte und ihrer Bedeutung. Aus feministischer und antirassistischer Perspektive können solche Re-Lektüren einerseits zur Inspiration dienen für die Auseinandersetzung mit heutiger Theoriebildung und Gegenwart. Andererseits dienen sie auch dem Sichtbarmachen und -halten von Genealogien des in-Worte-fassens und Nachdenkens über strukturelle Gewalt, die Verantwortung des Wiederstandes und Möglichkeiten der Intervention.
Am vierten März sprachen in diesem Rahmen Fatima Moumouni und Ana Sobral über Toni Morrison (1931-2019) und einen jüngst erschienen Sammelband mit dem Titel Selbstachtung. Das Buch versammelt diverse Essays, Reden und Vorträge von Morrison und überspannt dabei ein halbes Jahrhundert. Basierend auf vier gewählten Ausschnitten aus dem Buch diskutieren Moumouni und Sobral Morrisons Werk und die Rolle von Literatur und Sprache in Bezug auf Rassismus. Dieser Essay bietet einen kleinen Einblick in dieses spannende Gespräch.
Ana Sobral ist Assistenzprofessorin für ‹Global Literatures in English› an der Universität Zürich. Daneben bietet sie Workshops und Kurse zu den Themen Antirassismus, kulturelle Diversität und Kolonialgeschichte an und arbeitet mit kulturellen Institutionen zusammen, um postkoloniale Künstler*innen und Aktivist*innen sowie Arbeiten zu fördern, die sich mit diesen Themen beschäftigen. Zurzeit arbeitet sie an einem Buch über die Globalisierung von Rap Musik. Hier geht es zu ihrer website postcolonial spectacles.
Toni Morrison ist, so erklärt Sobral am Anfang des Gesprächs, für sie eine wichtige Schriftstellerin und politische Aktivistin. Sie nutzt ihre Bücher, um über Themen wie Sklavenhandel und Rassismus – und die Perspektiven von Frauen* darauf, zu unterrichten. Weiter denkt sie bei Morrison oft an das für die Autorin zentrale Thema der Macht von Sprache.
Fatima Moumouni ist eine Spoken-Word-Poetin, Kolumnistin (zum Beispiel für das Strassenmagazin SURPRISE) und Moderatorin. Zudem studiert sie im Master Sozialanthropologie in Bern. Sie bietet Schreibworkshops an und Workshops, welche im Spezifischen Rassismus und Sprache in den Fokus nehmen. Zusammen mit Laurin Buser gewann sie 2019 den Teamwettbewerb der Schweizer Meisterschaften im Poetry Slam sowie die internationalen deutschsprachigen Meisterschaften. Hier geht es zu ihrer website.
Zu Beginn des Gesprächs hob Moumouni die besonderen Bilder hervor, die Morrison wählt, um antirassitische Theorie zu vermitteln. Bei Morrison ist eine ständige Suche nach dem richtigen Wort, der richtigen Formulierung zu spüren – eine Suche, die Moumouni von sich selbst kennt und bei welcher Morrison Inspiration bietet. Ein solches Beispiel ist etwa das folgende Zitat von Morrison, aus dem Jahr 1975:
«It’s important, therefore, to know […] the very serious function of racism, which is distraction. It keeps you from doing your work. It keeps you explaining over and over again, your reason for being. Somebody says you have no language and so you spend 20 years proving that you do. Somebody says your head isn’t shaped properly so you have scientists working on the fact that it is. Somebody says that you have no art so you dredge that up. Somebody says that you have no kingdoms and so you dredge that up. None of that is necessary»
Hier geht es zu Morrisons vollständiger Rede
So setzen Moumouni und Sobral bereits in der Vorstellungsrunde gekonnt den Ton dieses Gesprächs: Es wird ein nachdenkliches und offenes Gespräch zwischen zwei erfahrenen Kämpferinnen gegen Rassismus über die Wichtigkeit von Sprache in ihrer Arbeit; von Sprache als Gewalt und Sprache als Voraussetzung für und Mittel des Widerstandes; vom Ringen um Worte und von Sprachlosigkeit; und von Trost und Inspiration, die frühere Generationen von Autor*innen dabei spenden können – nicht nur inhaltlich, sondern auch taktisch. Morrison etwa gelingt es, auch dies wird schon früh im Gespräch thematisiert, die Lesenden beim Lesen zu begleiten. Sie schreibt einen Gedanken auf und erläutert dann den Denkprozess dahinter. Damit liefert sie immer eine Herleitung zu ihren Antworten.
Die alte, blinde Frau und der Vogel
Ein Zitat von Morrison, welches Moumouni und Sobral besprechen, stammt aus einer Rede von Morrison, welche sie anlässlich ihrer Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreises 1993 hielt, den sie als erste afroamerikanische Frau entgegennehmen konnte.
In dieser Rede schildert Morrison eine Szene, die als Parabel für Morrisons Beziehung zu Sprache gedeutet werden kann. Die Protagonistin dieser Szene – von welcher hier der Anfang verkürzt und mit Hilfe von google translate wiedergegeben wird (hier geht es zur vollständigen Rede von Morrison) – ist eine alte, blinde, Schwarze Frau, eine Tochter von ehemals Versklavten, welche ausserhalb einer kleinen Stadt wohnt. Sie gilt als weise und wird für ihren Rat und ihr Wissen geschätzt. In ihrer Gemeinschaft symbolisiert sie das Gesetz und Zugleich dessen Überwindung. Eines Tages wird die alte Frau von einigen Jungen aus der Stadt besucht. Sie mokieren sich über ihre Blindheit und fragen sie, «Wenn du so weise und wissend bist, wie du behauptest, kannst du mir sagen, ob der Vogel, den ich in Händen halte, tot oder lebendig ist?» Nach längerem Schweigen antwortet die Frau: «Ich weiss es nicht, ich weiss nicht ob der Vogel, den du hältst, tot oder lebendig ist, aber ich weiss, dass du ihn in Händen hältst, du hast es in der Hand: Wenn er am Leben bleiben soll, hast du es in der Hand».
Der alten Frau gelingen damit eine Verschiebung und Umkehrung der Situation, so Morrison. Die jungen Besucher*innen werden gerügt, weil sie die alte Frau für ihre Macht und Hilflosigkeit vorgeführt haben. Sie sind nicht nur für den Spott verantwortlich, sondern auch für das kleine Bündel Leben, das geopfert wurde, um ihre Ziele zu erreichen. Die blinde Frau lenkt die Aufmerksamkeit von Machtbehauptungen weg auf das Instrument, durch das diese Macht ausgeübt wird.
Morrison deutet den Vogel als Symbol für Sprache und die alte Frau als versierte Autorin. Sie ist besorgt darüber, wie die Sprache, mit der sie aufwuchs und in der sie träumt, behandelt, in Dienst gestellt und ihr sogar vorenthalten wird. Als Schriftstellerin betrachtet sie Sprache teilweise als System, teilweise als Lebewesen, über das man die Kontrolle hat, aber meistens als «Agency» – als Handlung mit Konsequenzen.
Im Gespräch diskutierten Sobral und Moumouni, wie Morrisons Parabel zur Wirkmächtigkeit und gleichzeitigen Verletzlichkeit von Sprache in Bezug auf Rassismus gedeutet werden könne. Mit diesem eben zitierten Bild des Vogels gelinge es Morrison, das Thema Verantwortung in den Mittelpunkt zu stellen. Eine Verantwortung, die nicht nur bei jenen liege, die sprechen oder schreiben, sondern auch bei jenen, die rezipieren: Jene, die verstehen und sich solidarisch zeigen wollten, müssten die Verantwortung dafür übernehmen, wie sie sprechen, «Das habe ich nicht so gemeint», sei eine infantile Aussage, welche die Verantwortung verschleiere, die jede*r hat, für das, was er*sie aussagen möchte. «Ich habe es nicht so gemeint» reicht irgendwann nicht mehr aus. Die Parabel über die alte Frau sei ein schönes Bild für das Zurückgeben von Verantwortung, bzw. zeigt auf, wo diese Verantwortung beginnt: nämlich in der Verwendung von Sprache an sich. Denn gleichzeitig, so Moumouni, wird Morrison selbst das Gefühl der Verantwortung für Sprache nicht los.
Sobral erinnert daraufhin an James Baldwin und was er als «the burden of representation» bezeichnete. Die Gefahr als obsolet oder «keiner von uns» eingestuft zu werden, setzte Baldwin stark unter Druck. Ein Druck, den viele erfolgreiche Schwarze Autor*innen und Kunstschaffende kennen (hier geht es zu einem eindrücklichen Porträt von Baldwin). Eine Gruppe von Menschen zu repräsentieren, ist nie vollständig möglich und daher zwangsläufig mit einem Gefühl des Scheiterns verbunden. Gleichzeitig ist es oft keine selbstgewählte Rolle, sondern eine, die einem zugewiesen wird, verbunden mit der Hoffnung, dass so mehr Sichtbarkeit generiert und Veränderung herbeigeführt werden kann. Sprache ist dabei von besonderer Wichtigkeit: Sie ist ein zentrales Werkzeug für das Sichtbarmachen und Aushandeln eines Anliegens in der Öffentlichkeit. Aus diesen Gründen ist Sprache nicht nur ein Mittel des Widerstandes und der Intervention, sondern eine Voraussetzung dafür.
Sprache ist jedoch nicht in Stein gemeisselt, sondern ist etwas Fragiles, etwas Wachsendes und sich ständig neu Bildendes, das am Leben gehalten aber auch getötet werden kann – etwa, indem wir keine unterschiedlichen Perspektiven zulassen, anderen den Zugang zur Öffentlichkeit verwehren oder ihre Anliegen als nichtig erklären.
Nach wie vor müssen als nicht weiss gelesene Menschen wiederholt Stellung dazu nehmen, ob sie denn Rassismus tatsächlich erlebt haben und wie sich dies anfühle. Nach wie vor werden auf diese Weise Rassismus-Erfahrungen als ‹Problem› einer spezifischen Gruppe von Menschen betrachtet und nicht als gesamtgesellschaftliches Problem, das bestimmte Menschen gewaltsam zum Schweigen bringt, ihr Leben gefährdet und es ihnen erschwert, am öffentlichen Leben teilzuhaben, während sie anderen das Gefühl gibt, diesen Platz einnehmen und ihren Perspektiven noch mehr Raum geben zu dürfen – ja dies sogar verdient zu haben. Dieser strukturelle Rassismus führt zu einer Verzerrung des öffentlichen Raumes, zu einer Verzerrung geteilter Erfahrungen und einer Verzerrung der Geschichtsschreibung. Dabei lenken Debatten, wie jene über Kleidervorschriften in der Verfassung, immer wieder davon ab, dass die Schweiz von rassistischen Strukturen sowohl in der Vergangenheit wie auch heute enorm profitiert und dies als rechtmässig betrachtet. Ein Beispiel von vielen: Ohne Schweizer Intervention hätte die Apartheid in Südafrika sehr viel früher enden können, ausserdem wurde damals, durch den Verkauf von Öl aus Südafrika, die Gründung von Glencore finanziert – eine der heute weltweit grössten Unternehmensgruppen im Rohstoffhandel und bekannt für ihre Missachtung von Menschenrechten und Umweltschutz.
Strukturelle Diskriminierung ermöglicht immer auch Privilegien und hat daher einen binären Effekt von Inklusion und Exklusion: Die eine Seite wird unterdrückt, die andere zur Norm erklärt. Daher prägt Rassismus die Lebensweise aller und ist besonders für jene gefährlich, die sich nicht betroffen fühlen.
«If you only can be tall, because someone is on their knees, then you have a serious problem. And my feeling is, white people have a very, very serious problem. And they should start thinking about what they can do about it. Take me out of it», so Toni Morrison im folgenden kurzen Interview-Ausschnitt. Charlie Rose, der sie interviewt, bittet daraufhin um «some free advice», woraufhin Morrison gekonnt antwortet: «They are all in my books».