Von Joëlle Anna Käser. Dieser Beitrag ist Teil der Reihe «Gendered Spaces».
Pff was zur Höu sött e Gender-Gap si?!
2013, erstes Lehrjahr. Meine erste Konfrontation mit dieser Schreibweise lag in Form einer Textkorrektur auf meinem Schreibtisch. Die Kundin begründete ihren Entscheid ungefähr damit, dass sie auf soziale Ungleichheit verweisen und alle Geschlechter einbeziehen möchte. So ganz verstehen konnte – oder wollte – ich trotzdem nicht.
Aso i weiss nid was s Problem isch!? Besser wird’s emu nid, wenn sie das no so müse betone!
Erinnerungen wie diese machen mehr als deutlich, dass ich nicht immer die Ansichten vertrat, die ich hier und jetzt vertrete. Nicht selten erfüllen sie mich mit Scham und Wut auf mich selbst: Sind es doch genau solche Aussagen und Denkweisen, die mich heute zur Weissglut treiben. Mit einer Distanz von über zehn Jahren und aus einer privilegierteren Perspektive betrachtet, sind diese Erinnerungen aber vielleicht auch eine Chance zu erkennen, welche strukturellen Bedingungen dazu beitragen, etwas Neues lernen zu wollen. Und darüber hinaus: Etwas bereits Gelerntes in Frage stellen zu können.
Welche Ressourcen werden dafür vorausgesetzt? Und wem stehen sie zur Verfügung?

Heute sitze ich in einer Vorlesung zu «Gendered Spaces» und darf mir Credits dafür anrechnen lassen, dass ich mich zu diesem Thema bilde. Meinen Stundenplan habe ich nach meinen Bedürfnissen zusammengestellt. Generell erhalte ich Anerkennung dafür, dass ich studiere. Jobs werden mir beinahe nachgeworfen: Mir werden Fähigkeiten zugesprochen, weil ich Teil dieses (höheren) Bildungssystems bin, selbst wenn diese Fähigkeiten absolut nichts mit dem zu tun haben, was ich studiere.
Anders gesagt: Ich darf den Raum, in dem ich mich bewege, weitgehend selbst bestimmen.
In meinem Fall brauchte es einen Lockdown, um zu erfahren, wie es sich anfühlt, meine Umgebung meinen Bedürfnissen anzupassen, und nicht umgekehrt. 2‘800 Franken Kurzarbeitsentschädigung machten es möglich: Auf einmal durfte ich so frei über meine Zeit verfügen, wie nie zuvor – und hatte gleichzeitig die Sicherheit, weiterhin meinen Lebensunterhalt selbst tragen zu können.
Im Stundenlohn angestellt, war diese Sicherheit eine Illusion, bei einer Festanstellung im Detailhandel hätte ich für denselben Betrag 80% arbeiten müssen. Diesem Druck einen Moment lang nicht ausgesetzt zu sein, ermöglichte mir im Endeffekt den Zugang zur Universität: Mit der Ergänzungsprüfung Passerelle konnte ich 2022 (nach vielen Monaten Selbststudium) meine gymnasiale Maturität erwerben. Neun Jahre später als ursprünglich geplant.
Soziale Ausschlüsse, intime Fragen und unangebrachte Kommentare (aufgrund meiner sichtbaren Behinderung) haben mir seit meiner Kindheit vermittelt, dass Räume nicht nur durch Wände begrenzt sind. Und, dass die Türschwelle zu meinem persönlichen Space gerne mal ungefragt übertreten wird. Dazu wurde ich als weiblich sozialisierte Person auch nicht mit dem Selbstverständnis ausgestattet, unaufgefordert Raum einzunehmen oder Grenzen zu setzen. Das wäre ja frech!
Den Voraussetzungen von sozialen (und daher vergeschlechtlichten und behindernden) Räumen auf verschiedenen Ebenen nicht zu entsprechen, hat mich zwangsweise zu einer sehr aufmerksamen Beobachterin gemacht: Unter welchen Bedingungen darf ich einen Raum betreten? Wie darf ich mich darin bewegen? Welche Regeln gelten, welche Hierarchien? Aber vor allem: Wie muss ich mein Verhalten und mein Erscheinungsbild anpassen, damit ich Raum einnehmen darf?
Hindernisse zu umgehen war meine persönliche Überlebensstrategie. Vorstellungen der weiblichen Geschlechterrolle zu erfüllen, so gut es eben ging, war ein grosser Teil davon. Möglichst angenehm, nett, hübsch geschminkt, frisiert und ja nicht zu laut sein. Nicht widersprechen, dankbar sein. Am besten keine Bedürfnisse haben. Hauptsache nicht irritieren – aber bitte trotzdem anders als alle anderen (cis Frauen) sein.
Hätte ich das so benennen können, wäre es vielleicht möglich gewesen, die Strukturen zu hinterfragen. Rückblickend waren sie jedoch eine vermeintliche Sicherheit. Und ich hatte nicht vor diese aufzugeben – all die investierte Beobachtungs- und Anpassungsarbeit wäre ja umsonst gewesen! Und überhaupt, wenn ich mir Raum so hart verdienen muss, warum soll ihn dann irgendwer (mit ähnlichen Voraussetzungen) einfach so erhalten?
Es war mitunter ein gendered (and ableist) Space, der mich 2011 aus dem Gymnasium spülte. In unserem männlich geprägten (wenn nicht gar misogynen) Gesundheitssystem hat sich die vergeschlechtlichte Sozialisierung erst in den letzten Jahren als relevanter Faktor in der Diagnostik von Neurodivergenzen etabliert. Weiblich sozialisierte Personen zeigen andere Symptome als männlich sozialisierte. Diese fehlende Unterscheidung hat 2010 eine Diagnose verhindert, die ich erst 12 Jahre später erhielt.
Meine Bildungs- und Berufsperspektiven wurden also in direkter Konsequenz daraus erheblich eingeschränkt. Dazu ohne tatsächliche (gesundheitliche) Unterstützung einfach weiterfunktionieren zu müssen und gleichzeitig auf Lohn angewiesen zu sein, war eine denkbar schlechte Voraussetzung für den Start ins Berufsleben. Langfristig öffnete sich ein Teufelskreis: Ohne weitere Ausbildung, keine besseren Arbeitsbedingungen; ohne bessere Arbeitsbedingungen, keine bessere Bezahlung; ohne bessere Bezahlung, keine weitere Ausbildung.
Im digitalen Raum waren die Voraussetzungen anders. Hier war ich nicht dem belastenden Umstand ausgesetzt, das Haus verlassen zu müssen, Erwartungen nicht zu erfüllen, über Hindernisse zu stolpern oder an Raumgrenzen abzuprallen – und dabei auch noch angestarrt zu werden. Hier konnte ich mich aufhalten und in Ruhe die Ein- und Ausschlussmechanismen beobachten, ohne selbst dabei wahrgenommen zu werden.
Als ausgebildete Grafikerin und Visagistin war ich zudem schon mit den nötigen Werkzeugen ausgestattet, um erwünschte Eigenschaften hervorzuheben und unerwünschte zu verstecken. Aber auch um unangenehme Eigenschaften oder Themen in einer akzeptablen Ästhetik zu verpacken und mir so Gehör zu verschaffen – ohne die Gefahr einer direkten (physischen) Konsequenz. Der Energieaufwand für eine Teilhabe war also eher gering, der Energieertrag dagegen hoch.
Es war wieder der Lockdown, der mir Raum zum Kreieren, Nachdenken, Schreiben, Posten, Interagieren, Austauschen, Zuhören, Meinungen ändern und Up-to-Date-Bleiben zur Verfügung stellte. Und ich hatte eine Community, die mir ein Gefühl von Sicherheit garantierte. Zumindest im digitalen Raum. Zumindest so lange die unbezahlte (Aufklärungs-)Arbeit durch die Kurzarbeit querfinanziert war.
2024, drittes Semester. Unsichtbare Hindernisse sichtbar zu machen, sei es mit Worten oder anderen Ausdrucksweisen, hatte für mich immer eine Dringlichkeit, weil ich mit den daraus resultierenden Konsequenzen klarkommen musste. Nun Teil eines akademischen Raumes zu sein, der sich wissenschaftlich mit strukturellen Diskriminierungsformen auseinandersetzt, erfüllt mich manchmal mit Unbehagen und Ambivalenz. Denn Teil davon zu sein, setzt Privilegien voraus. Welche Perspektiven werden in diesem Kontext also vermittelt?
Heute verstehe ich, dass von meinem individuellen Kampf nur diejenigen profitierten, die den Voraussetzungen eines sozialen Raumes sowieso schon entsprechen; diejenigen, für die die Barrieren gar nicht sichtbar sind. All die Erfahrungen, Begegnungen, die nötig waren, um das jetzt so sehen, benennen und einordnen zu können – vor allem aber der Raum, die Zeit, die Energie, um Neues zu lernen, verschwinden je länger, je mehr hinter einer Kombination aus angehäuftem Wissen und persönlichen Erfahrungen.
Und ich glaube auch zu verstehen, dass diese Ressourcen sichtbar bleiben müssen. Darin, zumindest ein paar davon festzuhalten, steckt Hoffnung: Dass alle dazulernen können – und dürfen.
Joëlle Anna Käser studiert Musik- und Theaterwissenschaft im Bachelor an der Universität Bern.
Beitragsbild: Decke im Hauptgebäude der Universität Bern. Foto: ©Joëlle Anna Käser.