«Wie kann ich nur?» Scham als unsichtbare Gewalt

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Von Zayane Heitz


Scham. Eine so passive und zugleich mächtige Emotion. Sie kriecht mir den Rücken hoch und flüstert mir ins Ohr: «Schäm dich!» Ich werde ganz klein, winzig, winzig klein. Beinahe unsichtbar. Ich kenne diese Stimme seit ich denken kann. Die Emotion ist meine, das ist Fakt. Die Stimme, sie ist fremd. 
Es spricht in mir, manchmal ganz leise, nur ich höre es: «Schäm’ dich!»
Manchmal ganz laut, nur andere hören es: «Wie kann sie nur?»

Scham ist mehr als eine Emotion. Sie ist ein Machtinstrument unserer Gesellschaft und des Patriarchats. Menschen wird von klein auf beigebracht, sich zu schämen. Wir wachsen mit der Vorstellung auf, dass wir genügen müssen, dass es Erwartungen zu erfüllen gibt, eine «richtige» Art des Seins. Scham hat das Ziel, uns für ein Abweichen von der sozialen Norm zu bestrafen. Sie dient als Waffe, um uns in Schach zu halten, zu formen und zu biegen. So, dass wir in die kleinen vorgefertigten Boxen eines Rollenbildes hineinpassen (wollen).

Rollenbilder sind wie kleine Bausteine im grossen Gebilde des Patriarchats. Jeder dieser Steine repräsentiert die perfekte Verkörperung der patriarchalen Ideale, die zu dessen Aufrechterhaltung beitragen. Die meisten Menschen verspüren den Druck, diesen Idealen zu entsprechen. Abhängig davon, welches binäre Geschlecht das Patriarchat einer Person zuteilt, gibt es dabei Unterschiede – von machohaften Männlichkeitsvorstellungen bis hin zu den limitierten Identitäten, die eine Frau zu verkörpern hat. Der Leistungsdruck, der mit toxischer Männlichkeit Hand in Hand kommt, die Schönheitsideale, welche die Selbstwahrnehmung verzerren, und die Bereitschaft zur unbezahlter Care-Arbeit, die als weibliche Fürsorglichkeit getarnt wird, erfüllen Funktionen: Sie tragen dazu bei, den kapitalistischen und patriarchalen Status Quo zu erhalten.

Dieses starre und gewaltvolle binäre Geschlechterkonstrukt kann als Struktur begriffen werden, die zur Erhaltung dieses Status Quo beiträgt und gleichzeitig dadurch reproduziert wird. Wenn die Vielfalt der Geschlechter gesellschaftlich anerkannt und zugleich weniger entscheidend für die persönliche Identität wäre, würden die Rollenbilder idealer Weiblichkeit und Männlichkeit an Bedeutung verlieren. Aber schliesslich ist es gar nicht das Ziel dieser Strukturen, dass diese Ideale effektiv erfüllt werden. Sie sind vielmehr darauf ausgelegt, unerreichbar zu sein. Ihre Funktion basiert lediglich auf den Leistungen, die beim Versuch, den Idealen zu entsprechen, entstehen. Die Scham, die beim unweigerlichen Scheitern aufkommt, ist der Knüppel, der uns dazu anhält, es dennoch weiter zu versuchen.

Durch die gesellschaftliche Zuschreibung auf vergeschlechtlichte Rollenbilder geschieht eine Vereinfachung, die den Menschen jegliche Dimensionen nimmt. Reduziert auf makellose Ideale, an deren Erfüllung wir zwangsläufig scheitern. Ein Rollenbild, ein Geschlecht, eine Identität, nicht mehr und nicht weniger. Die Vielschichtigkeit und Tiefe eines Subjektes ersetzt durch die an ein Objekt gestellten Anforderungen: Nützlichkeit, Gefallen, Fügsamkeit.

Ich bin eine Frau. Ich bin Opfer von Scham.
Ich bin eine Frau. Bin ich Täterin von Scham?

Ich muss gehorchen, denn auf Missachtung der Norm folgt Scham. Und Scham ist Gewalt. Die Art von Gewalt, die mich einengt, unsichtbar macht und mir jegliche Komplexität abspricht. Ich bin laut, fehlerhaft, spontan, egoistisch und voller Widersprüche. Doch ich als Frau? Ich werde zu dem, was von mir erwartet wird. Jeder Schritt in die Richtung gesetzt, die mich der Bestätigung eines Mannes näherbringt. Doch diese idealisierte Frau existiert nicht bloss in meinen Unsicherheiten, sie begegnet mir überall. In der Werbung, auf dem Plakat, im Buch, im Film. Lächelnd erfüllt sie die Erwartungen. Lächelnd erhält sie die Bestätigung. Sie ist perfekt und zugleich ist alles, wofür sie steht, unerreichbarer als Scham mich je treiben könnte. Von Bestätigung verführt, zum Scheitern verurteilt und zur Scham verdammt.

Ich bin glücklich, denn ich bin schön.
Ich bin glücklich, denn ich bin die Norm.

Mit der Erkenntnis, dem gesellschaftlichen Ideal einer Frau nie zu entsprechen, begann in mir der Drang nach Widerstand zu blühen. Ich lese nun Bücher, Artikel und schaue Filme von Personen, die das alles bekämpfen. In den Kursen, die ich belege, in meinen Beziehungen und im Beruf bringe ich jegliche Ausdauer auf, um patriarchalen und kolonialen Strukturen entgegenzuwirken und ihre Prägung zu verlernen. An manchen Tagen marschiere ich laut bei feministischen Demonstrationen mit. An anderen Tagen protestiere ich leise mit einem Kuss. Denn wenn ich von Widerstand spreche, meine ich die Art von Feminismus, die mich als queere arabisch-stämmige Person sieht und anerkennt. Die Art von Inklusion und Intersektionalität, die für uns alle sichere Räume schafft. Denn genau so vielfältig, wie die Realitäten meiner Kamerad*innen und mir sind, so divers ist auch die erlebte Gewalt.

Wir bemühen uns, gemeinsam inklusive Räume zu gestalten, in denen wir einfach sein können. Die gemeinsame Betroffenheit von struktureller Gewalt schweisst uns zusammen. Wir sprechen uns aus, sind füreinander da und führen die Kämpfe unserer Kamerad*innen. Rollenbilder werden zerbrochen und Erwartungen perlen an uns ab. Wir sind radikal, laut, kreativ, ambitioniert, stark, intelligent, sanft und komplex. Wir schaffen uns unsere eigenen Identitäten. Und wir schämen uns nicht, denn wir sind Feminist*innen… perfekte Feminist*innen. 

Einst beschämt, dem patriarchalen Ideal einer «perfekten Frau» nicht zu entsprechen, hinterlässt dies in mir nun Stolz. Ich verkörpere das, was meine Unterdrücker*innen fürchten: Eine Feministin. Wo ich einst um Zugehörigkeit gekämpft habe, fand ich nun meine eigene Mehrheit. Ich mag vielleicht nicht zur Norm gehören, aber das muss ich auch nicht mehr. Ich gehöre zu ihnen. Grautöne verfliessen zu Schwarz und weiss. Die Seiten werden gewählt. Ich sehe nur noch die Hand, die mich schlägt und die Arme, die mich tragen.

Ich spreche mit Freund*innen über Scham, wir alle wissen, wie es sich anfühlt, beschämt zu werden. Ich sehe eine Bekannte und schweife ab. «Guck da drüben… ach wie kann sie nur?» Wir schenken ihrer fragwürdigen Begleitung kurz Aufmerksamkeit. Sie sei doch sonst so stark, so politisch… so feministisch? Und ihre Begleitung ist all das nicht. Verbündet mit dem Feind. Wir schütteln den Kopf und sagen, sie wisse es doch besser.
Wir wenden uns ab und fahren fort. «Böses, böses Patriarchat, böse, böse Scham.
»

In meinen sozialen Kreisen bezeichnen sich alle als Feminist*innen, als Aktivist*innen, als Teil des linken Spektrums. Wir sind uns einig, dass wir nicht Teil dessen sein wollen, was uns seit jeher unterdrückt. Zugleich merke ich, wie wir, trotz aller Mühe, dennoch dessen Erbe am Leben erhalten. Wir haben uns zwar zahlreiche Netzwerke aufgebaut, in denen gegenseitige Solidarität und Hingabe herrschen, doch aus irgendeinem Grund haben wir es nicht geschafft, den Druck, perfekt sein zu müssen, den wir doch allgegenwärtig erleben, aussen vor zu lassen. Vor allem weiblich sozialisierte und gelesene Personen verspüren die Erwartung, perfekt zu sein. Wir fürchten uns so sehr davor, dem zu ähneln, was uns Leid zufügt. Und aus dieser Angst hinaus, erwarten wir von uns selbst, fehlerfreie Feminist*innen zu sein. Perfektionismus ist nicht das Anstreben kompetent zu erscheinen oder einem Ideal zu entsprechen. Es ist der Versuch der Scham zu entfliehen, es nicht zu sein.

Ein*e nicht perfekte*r Feminist*in zu sein, würde bedeuten, dem «Feind» zu ähneln. Es würde bedeuten, nicht in die Räume zu gehören, die wir mit aufgebaut haben, und die gewonnene Zugehörigkeit wieder zu verlieren. Diese Angst bleibt jedoch nicht bei einem selbst. Dieser Perfektionismus wird auf alle um uns herum projiziert – er dient nahezu der Überwachung der eigenen Verbündeten. Jedes Wort, jede Handlung und jede Beziehung werden der Prüfung unterzogen. In nur einem Augenschlag wird die Scham zur Waffe, die wir auf unsere Verbündeten und uns selbst richten. Jene Waffe, vor der wir uns einst zu schützen versuchten.

Perfektionismus ist ein weiteres Machtinstrument des Patriarchats, widergespiegelt in Phänomenen wie Cancel Culture. Weiter noch repräsentiert er die misogyne Vorstellung, dass Frauen stetig in einem Wettbewerb um Anerkennung (von Männern) stehen müssen. Er dient dazu, uns weiterhin an patriarchalen Anforderungen zu messen. In meinen eigenen sozialen Kreisen verstärkt dies nicht nur den bereits scheinbar unvermeidlichen Druck auf vor allem weiblich sozialisiert und gelesene Personen, perfekt zu sein. Es zwingt sie dazu, sich auf die eine Identität einzuschränken – die einer perfekten Feminist*in. Geflohen von den patriarchalen Rollenbildern, finden wir uns in den Armen des feministischen Perfektionismus wieder.

Heuchler*in oder perfekte*r Feminist*in?
Du musst dich entscheiden.

Diese Formen von Gewalt sind, obwohl ich es vielleicht nicht sehen möchte, in jedem Raum dabei. In meinem Vorlesungsaal zu Geschlechterforschung, im feministischen salon, in der queeren Bar, in der ich arbeite, in meinem Bett, das ich mit einer Kameradin teile. Die Gewalt durch Scham und Perfektion dringt in meine intimsten Momente ein. Die, die eigentlich nur mir gehören, weit weg von der Aussenwelt und meinem sozialen Ich. Die Momente, in denen ich verletzlich und nackt bin, frei von Kleidung und frei von Idealen.

Sie berührt meine Wange, ihre Hände ganz kalt. 
Sie öffnet mein Hemd, es gleitet meine Schultern hinab. 
Nur kurz bin ich Liebende und Geliebte. 
Sie sagt zu mir ganz leise, nur ich höre sie: «Schäm dich!» 

So still und unscheinbar Scham als Gewalt sich äussert, so versteckt sind auch die Manifestationen von Gewalt, die sich in den eigenen vier Wänden abspielen. In meinen eigenen Kreisen wird viel über geschlechterspezifische Gewalt gesprochen, vor allem in Bezug auf weiblich sozialisierte und gelesene Personen. Diese äussert sich gerade auch in besonders intimen Beziehungen – auch in solchen, die queer sind.

Die Realität für viele meiner Kamerad*innen und mich ist, dass es auch unter uns Augenblicke gibt, in denen wir Anzeichen von patriarchaler Gewalt übersehen oder gar reproduzieren. An gewissen Tagen sind wir fahrlässig und die Warnschilder bleiben unbemerkt. An anderen nur sehnsüchtig danach, uns einfach fallenlassen zu dürfen. Manche von uns erwachen im Bett unserer Unterdrücker*innen und fragen sich, wo sie falsch abgebogen sind. Weitere sind knietief in einer Beziehung mit ihnen und wissen gar nicht mehr den Weg zurück. Wir haben uns selbst verraten. Aber viel schlimmer noch, wir haben unsere Kamerad*innen verraten.

Heuchler*in und Feminist*in. 
Mein Bett, geteilt mit dem Feind. Wie kann ich nur?

Die patriarchale Erwartung von Perfektion, die selbst innerhalb feministischer Kreise existiert, erschwert es mir und meinen Kameradinnen zusätzlich, aus gewaltvollen Dynamiken auszubrechen. Ob es sich dabei um körperliche oder verbale Gewalt (oder beides) handelt spielt keine Rolle, es herrscht diese unausgesprochene Erwartungshaltung an Feministinnen, es doch besser zu wissen. Sich nicht aus Liebe oder Lust zu verirren. Doch genau dieser Anspruch, den wir an uns selbst und andere Feministinnen stellen, führt dazu, dass wir uns schämen und wir so zum Schweigen gebracht werden können. Diese Scham, die wir empfinden, lähmt uns noch mehr und lässt uns in gewaltvollen Beziehungen verharren, da wir uns vor dem Misstrauen unserer Kameradinnen fürchten. Angst, dass unsere Werte in Frage gestellt werden. Fragen, von denen wir glauben, dass sie uns die hart erarbeitete Identität rauben. Wir verlangen voneinander, die richtige Entscheidung in der Liebe zu treffen und wenn wir versagen, wird es nicht nur als Versagen in der Liebe angesehen. Viel mehr noch versagen wir als Feminist*innen. Unser Herzschmerz verstärkt durch den Verlust von Zugehörigkeit.

«Ich habe euch beschämt. Wie kann ich nur?»

Ich bin beschämt, vor allem aber bin ich wütend. Ich und meine Kamerad*innen werden noch eher in unseren politischen Identität diskreditiert und als Verräter*innen angeklagt, als dass der Fokus auf das Gegenüber gerichtet wird. Selbst wenn wir Gewalt erleben, suchen wir die Schuld bei uns. Wir fragen uns, warum wir die Anzeichen nicht gesehen haben. Aber wie kommt es, dass keiner fragt, wie selbst die Aufgeklärten unter uns, dem Patriarchat im eigenen Bett nicht entkommen können? Wieso sind wir die Beschuldigten, die Verhöhnten, die Heuchler*innen? Warum sind nicht jene, die uns täuschen und verletzen, diejenigen, die ans Kreuz genagelt werden? 

Scham, Rollenbilder, Perfektion, Erwartungen und Angst. Gemeinsam vereint kreieren sie ein weiteres Machtinstrument. Es fühlt sich so an, als hätte mir das Patriarchat einen Streich gespielt. Im Glauben gelassen, ich hätte meine eigene Identität erarbeitet, nur um zu erkennen, dass ich mir mein eigenes Gefängnis in Form eines Rollenbildes erschaffen habe. Meine Komplexität auf diese eine Schublade habe beschränken lassen. Ich durfte mir meine eigenen Wertvorstellungen entwerfen, nur um zu erkennen, wie ich mich dabei dennoch dem patriarchalen Massstab des Perfektionismus unterworfen habe. 

Feminismus darf nicht bedeuten, dass wir perfekt sein müssen, sonst sind wir dem Patriarchat ähnlicher als wir es wahrhaben wollen. Feminismus muss bedeuten, die vielen Formen der Gewalt anzuerkennen, der wir tagtäglich ausgesetzt sind. Solidarisch und verständnisvoll sein, denjenigen gegenüber, die verletzt zu uns zurückkehren. Wir müssen uns gegenseitig die Wunden versorgen und uns die Waffen reichen im Kampf, den wir gemeinsam führen. Und mein erster Feldzug ist Anerkennung.

Bei meinem Versuch, mir eine feministische Identität zu erarbeiten, unterwarf ich mich dem Perfektionismus und erwartete dasselbe von anderen. Verletzt und zurückgestossen habe ich versucht, mich von den patriarchalen Strukturen zu distanzieren und mich in unsere sichereren Räume zurückzuziehen. Doch je weiter ich rannte, desto schwieriger war es, die patriarchalen Waffen, die mir von klein auf mitgegeben wurden, zu erkennen und loszulassen. Stattdessen habe ich sie in unsere Räume mitgebracht, ausgepackt und wohlwollend verteilt. Vielleicht bin ich nicht die Hand, die uns schlägt, aber ich war die Stimme, die uns sagt, wir sollen schweigen. Dies ist somit mein Versprechen an euch und an mich selbst: mein Gepäck zu kontrollieren und mir einzugestehen, wenn ich diejenige bin, die unsere Räume unsicher macht.

Während dieses ganzen Prozesses betrachtete ich Scham als Waffe einer Gesellschaft, die mich und meine Kamerad*innen unterdrückt. Das Problem an meinem Denkansatz liegt darin, dass es ein «wir» versus «ihr» kreiert. Diese Positionierung von «gut» versus «böse» entlastete mich davon, meine eigene Verantwortung anzuerkennen, dass ich, trotz meiner erlebten Gewalt durch das Patriarchat, Teil dieses Konstrukts bin. Denn diese Diskriminierungsstrukturen informieren unsere Realität. Selbst wenn ich mein Leben der Opposition widme, werde ich zwangsläufig von ihnen geprägt. Diesen Widerspruch werde ich wohl nie vollständig auflösen können. Doch sich die Möglichkeit abzusprechen, selbst Teil der Gewalt zu sein, erschwert uns den Weg, das Patriarchat von innen heraus zum Einsturz zu bringen. Denn was ich weiss, ist, dass Scham in mir lebt und spricht.
Manchmal ganz leise, nur ich höre sie: «Schäm dich!»
Manchmal ganz laut, nur andere hören sie: «Wie kann sie nur?»


Beitragsbild: Foto von Akshar Dave auf Unsplash.