Von Eleonora Wicki
Was für einen Literaturbetrieb wünschen wir cis und trans Frauen, wir inter, nonbinären und agender Personen, die wir uns im und für den Literaturbetrieb engagieren? Am zweiten fairlesen Symposium [1] entwickeln sich im gemeinsamen Wünschen Visionen, erweist sich das Wünschen als widerständige Praxis.
Wir wünschen … mehr Symposien
Das zweite Symposium der Reihe fairlesen entstand aus einem Wunsch nach mehr Symposien, der aus dem ersten Symposium hervorging. Was für Wünsche machten diesen Wunsch aus? Vielleicht, so interpretiere ich, der Wunsch nach Zusammenkunft über die Sprachgräben im Land und im Betrieb hinweg. Der Wunsch nach Kollektivierung, unabhängig von der Art und Weise der Zugehörigkeit zum Literaturbetrieb: Sei es als Schreibende, Verlegende, Kuratierende, Stipendienvergebende, Jurierende, etc. Und: Der Wunsch nach Solidarität über die unterschiedliche Betroffenheit von Diskriminierungsmechanismen hinweg.
Wünsche wehen, werden Wort, wandern, weben sich zu Waben, wir weben Wunschwaben
Wir wünschen … Diversität
Sechs Autor*innen kommen am Auftakt zur Sprache, sechs Horizonte öffnen sich. Irena Brežná (Autorin, Journalistin) und Annemarie Pfister (pensionierte Buchhändlerin) nehmen uns mit auf eine Zeitreise in die Schweiz vor dem Recht an politischer Teilhabe für Frauen und vor dem Recht auf Abtreibung, in der das weibliche literarische Schaffen und das Publizieren feministischer Werke hart erkämpft wurde.
Ivona Brdjanovic (Autorin) und Marina Skalova (Autorin, Übersetzerin) zeigen auf, wie auch heute noch Diskriminierungsstrukturen im Literaturbetrieb wirksam sind, da weiterhin prekäre Arbeitsbedingungen herrschen und der Betrieb auf der Ausbeutung von Schriftsteller*innen beruht – nach dem Motto: «Marche, si tu veux rester dans la course, ou crève.»[2] Franziska Schutzbach (Autorin, Soziologin) weist in Bezug auf Ausschlussmechanismen auf die geschlechterspezifische Dimension der Erschöpfung hin. Auch Necati Öziri (Autor) fokussiert einen Ausschlussmechanismus, indem er das oftmals erforderliche elitäre Vorwissen thematisiert, das (insbesondere im Theaterbetrieb) vorausgesetzt wird.
Welche Haltung ist diversitätsfördernd, fragen wir uns, fragen sich in der Schlussdiskussion Ruth Gantert (Viceversa), Loreto Nuñez (SIKJM/ISJM), Isabelle Vonlanthen (Literaturhaus Zürich) und Natascha Fioretti (RSI)? Vielleicht könnte diese Frage als Orientierung dienen: ‹Was braucht ihr, damit ihr euch eingeladen fühlt?›. Oder, so formuliere ich in Wunschform um: Was wünschen wir, damit wir uns eingeladen fühlen?
Wünsche nach Vielfalt und Wünsche nach Einigkeit, Wünsche nach geeinter Vielfältigkeit
Wir wünschen … kritische Reflexion
Der Wunsch nach einer «réflexion politique riche et pertinente»[3] führte zur Änderung des Titels des Symposiums von Frauen* im Literarturbetrieb (2022) zu Feminismus, Intersektionen und Literatur (2024). Die Öffnung hin zum Intersektionalen wird in einem der Ateliers diskutiert: Der Begriff ermögliche die Analyse der Mehrfachdiskriminierung. Gleichzeitig habe er in der deutschen Sprache durch die darin enthaltene sectio eine Konnotation des Trennenden. Das englische intersection sollte hingegen als Kreuzung verstanden werden, an der Diskriminierungsmechanismen aufeinandertreffen und dadurch spezifische Formen von, beispielsweise, Sexismus-Rassismus hervorgehen. Aus der Diskussion geht der Wunsch hervor, genaue Analysen tätigen zu können, um den trennenden Effekt der Diskriminierung besser zu verstehen und das Verbindende in einer antidiskriminierenden Haltung und Praxis zu pflegen.
Symbolische Wünsche, materielle Wünsche
Wir wünschen … kritische Praxis
In den «Ateliers d’action collective» werden vage Wunschvorstellungen zu konkreten Wünschen: Wir wünschen Alternativen zur homogenisierenden Literaturtheorie, wir wünschen die Sichtbarmachung von afroamerikanischen Schriftsteller*innen auf Wikipedia, wir wünschen die Überwindung von sprachlichen Diskriminierungen durch Poesie; wir wünschen die Erschaffung eines feministischen und intersektionalen Literaturpreises, und wir wünschen Massnahmen in Bezug auf die (Un)Vereinbarkeit von Care-Arbeit und literarischem Schaffen: Wir wünschen Selfcare-Strategien, aber auch strukturelle Massnahmen wie die Senkung des Mobilitätsanspruchs durch Schaffung von alternativen Stipendien statt den herkömmlichen Residenzen, die Reduktion der Prekarität durch Sozialversicherungen für Künstler*innen und ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Wir wünschen … Geld
Immer wieder zeigt sich der Wunsch nach einem fairen Lohn. Um literarisch tätig sein zu können, braucht es die entsprechenden Ressourcen, schrieb Virginia Woolf vor fast hundert Jahren in A Room of One’s Own. Der Wunsch nach fairer Bezahlung bleibt ein Dringlicher: Zu viel unbezahlte Arbeit wird im (zunehmend feminisierten) Literaturbetrieb geleistet.
Wir wünschen … humorvollen Widerstand
In den Diskussionen entsteht Frustration. Die energieraubende Dimension des Widerstands, die Starre der Strukturen und Vorstellungen, die Prekarität der Branche sind Anlass zu Mutlosigkeit und Resignation. Im Gespräch mit Philine Erni hält Hengameh Yaghoobifarah (Autor*in, Journalist*in und Medienkulturwissenschaftler*in) dem entgegen, dass Widerstand auch Spass machen, auch lustvoll sein kann. Genuss, Lust, Humor und Politik sind nicht getrennt – gerade dort, wo’s traurig wird, hilft Humor, so Hengameh. Zur Aufrechterhaltung von Genuss, Lust und Humor braucht es Hengameh zufolge die individuelle sowie kollektive Fürsorge.
Wir wünschen weiter
Wir wünschen … unsere Kräfte zu bündeln
Der Wunsch, Kräfte zu bündeln erfüllt sich im gemeinsamen Diskutieren, Reflektieren, im konfrontativen Argumentieren, beim Essen und Kaffeetrinken, beim Flüstern, beim Zuhören, beim Teilen von Geschichten, beim Blicke tauschen, beim Zusammensein. Darüber hinaus entsteht jedoch der Wunsch, die Kräfte nicht nur am Symposium selbst, sondern nachhaltig zu bündeln. Es ist der Wunsch danach, die Diskussion nicht immer wieder von Neuem beginnen zu müssen, sondern durchlässige und doch stabile Netzwerke zu gründen, um kontinuierlich an einer Transformation arbeiten zu können.
Wir wünschen … nicht mehr wünschen zu müssen
Die Barbiepuppe, erinnert uns Vera Hohleiter, hat viel mit dem Literaturbetrieb zu tun: Als Barbie im Film Barbie den Nobelpreis für Literatur im matriarchalen Barbieland gewinnt, nimmt sie ihn mit diesen Worten entgegen: «Ich habe viel dafür gearbeitet. Ich verdiene den Preis.» Wir können fordern, als hätte es die Strukturen schon immer gegeben, schlägt Ruth Wittig vor. Aufhören zu wünschen, so fabuliere ich ihre erhellende Erkenntnis weiter, und einfach so tun, als ob alle Wünsche bereits wahr geworden sind. Ob und wie das funktioniert, diskutieren wir (so hoffe, so wünsche ich) im nächsten Symposium.
Eleonora Wicki ist Autorin und interdisziplinär forschende Wissenschaftlerin. Zurzeit promoviert sie an der Universität Zürich zum Thema Mutterwerden in der zeitgenössischen Literatur. Sie ist Mitbegründerin des Poesie-Duos Hobo Ink.
* Mit dem Gender-Stern wird die historische und soziale Konstruiertheit der Geschlechterkategorien markiert und sichtbar gemacht, dass nicht-binäre Geschlechtsidentitäten in der deutschen Sprache (noch) nicht adäquat dargestellt werden können.
Das Thema «Care im Literaturbetrieb» begleitet art of intervention schon eine ganze Weile und wird auch in diesem Herbst ein Thema sein.
[1] Das diesjährige Sympsium wurde von der Programmgruppe mit Ivona Brdjanovic, Nathalie Garbely, Vera Hohleiter, Monique Kountangni, Camille Logoz, Anita Rochedy u.v.m. unter der Projektleitung von Philine Erni gestaltet.
[2] Marina Skalova (Autorin, Übersetzerin)
[3] Noémi Schaub (Organisation und Moderation), anlässlich der Einführung ins Symposium am Freitag, 7.6.2024.
Beitragsbild: Eröffnungsveranstaltung des fairlesen 2024. Copyright Literaturhaus Basel.