Von Caroline Arni
1. Catherine Colomb habe ich bis vor kurzem nicht gekannt. Auf sie hingewiesen hat mich Friederike Kretzen, als ich werweisste, welche Schriftstellerin ich in ein Buch mit historischen Frauenporträts aufnehmen sollte. Ich habe angefangen zu lesen: von langen Röcken der Frauen, die tote Schneckchen mitschleppen, von Vätern, die sich für Stämme halten und zersplittern wie dürres Holz, von Kindern, die ihre toten Mütter auf dem Grund des Sees suchen; Novemberpflaumen, habe ich erfahren, erkennt man an Spalten auf blauverschatteten Häuten.
Catherine Colomb steht jetzt in meinem Buch neben Meret Oppenheim, die, als sie spät im Leben auf die Schriften von Karoline von Günderrode und Bettina von Arnim stiess, sich wunderte, dass ihr nie jemand von diesen Frauen gesprochen hatte, während unablässig die Rede war von Hölderlin, Jean Paul und Novalis.
2. 2019 hat ein Team um Daniel Maggetti eine Gesamtausgabe der Schriften von Catherine Colomb herausgegeben; sie umfasst 1673 Seiten («Tout Catherine Colomb», Éditions Zoé). Heute vergriffen sind die deutschen Übersetzungen der Romane, die lange nach dem Tod der Autorin (1965) in den 1980er und 1990er Jahren beim Schweizerischen eFeF-Verlag (als dreibändige Gesamtausgabe) und bei Suhrkamp (in der Reihe «Bibliothek Suhrkamp» sowie in den Reprise-Programmen «Im Jahrhundert der Frau» und «Schweiz») erschienen. Alle diese Ausgaben sind nur noch antiquarisch erhältlich. Doch auch in der Deutschschweiz wird ihr Name wieder öfter genannt. Sarah Elena Müller hat kürzlich in der von Michelle Steinbeck verantworteten Reihe «Alte Meisterinnen» über ihre Lektüre von Colombs Erstling «Pile ou Face» (1934, dt. «Kopf oder Zahl») geschrieben. Wie jede Meisterin macht diese Autorin es denen nicht leicht, die von ihr lernen möchten. Sie will nichts wissen von ihnen und mischt sich ein in ihr Verhältnis zur Welt.
Wie jede Meisterin macht diese Autorin es denen nicht leicht, die von ihr lernen möchten. Sie will nichts wissen von ihnen und mischt sich ein in ihr Verhältnis zur Welt.
3. Catherine Colomb, mit bürgerlichem Namen Marie Reymond, geboren 1892, gestorben 1965, brauchte, nach ihrem Lebenslauf gefragt, nicht viel mehr als einen Satz: Aufgewachsen in Lausanne, Aufenthalte in Deutschland und England, zurück in die Schweiz, Heirat mit einem Anwalt, zwei Kinder. Mühelos verkörperte sie die Rolle der gutbürgerlichen Gattin, Hausfrau und Mutter. Sie liebe die Hausarbeit, sagte sie, besonders die Waschtage, sie fühle sich darin frei wie ein Bauer in seinem Weinberg. Sie fing an zu schreiben, ohne dass jemand im Haus es merkte; ihr Sohn erzählte später, er habe sie nie schreiben gesehen. An den Tisch setzte sie sich dafür nicht, sie schrieb mit dem Papier auf den Knien, wie improvisiert, als wäre rasch eine kleine Näharbeit zu erledigen. Mit fünf Jahren hatte sie ihre Mutter verloren, zusammen mit dem neugeborenen Schwesterchen.
4. Sah sie deshalb den Menschen an, wie sie in der Welt sind? Als Kinder von Müttern, Väter von Kindern, Mütter von Geschwistern, Ehemänner von Ehefrauen, als Cousins von Cousinen, Tanten von Neffen, Nichten von Onkeln. Ein Geflecht aus Beziehungen, darüber gelegt ein Familien- und Erbrecht, das verfügt, wem was an Gütern und Namen gehört oder zustehen wird. Die Güter sind Weinberge und Häuser; ein Schulsack, wenn sonst nichts da ist.
Man kann Colombs Blick auf die waadtländische Gesellschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts, auf den Zerfall der gewohnten Weisen des Wirtschaftens und die unablässige Teilung in Arm und Reich soziologisch nennen, kann in ihrem Werk einen Universalismus des Kindseins ausmachen, ausserdem eine anti-genealogische Sicht auf Verwandtschaft. Aber bei ihr ist alles konkret. Es hängen beidrechte Betttücher im Wind, die Leserin muss nachschlagen, was ein Stramin ist, auch dass «Joran» ein Wind heisst, der über den Jura hinweg auf die Seeküste fällt.
5. Zu Lebzeiten und wohl immer noch gilt sie als «schwierige» Autorin. Figuren führt sie nicht ein, sondern heftet sich an ihre Fersen, wenn sie auftauchen im Text. Die Zeit breitet sie aus wie eine Fläche, alles ist gleichzeitig da, das Vergangene und das Gegenwärtige, im Fernglas erscheint die Kindheit, in der Erinnerung stehen Häuser herum.
Figuren führt sie nicht ein, sondern heftet sich an ihre Fersen, wenn sie auftauchen im Text.
Sie habe sich nicht zu entschuldigen für die Schwierigkeiten, die sie den Lesern bereite, fand sie, als ein Pariser Verleger ihr Manuskript ablehnte. Sie suchte nicht Verbündete in einer Stilrichtung, in einer literarischen Bewegung, einer Bezeichnung, mit der sie sich hätte bewehren können. Sie liebe Proust, sagte sie, wurde mit Virginia Woolf verglichen und ärgerte sich darüber. Von ihr habe sie kaum etwas gelesen ausser die Tagebücher und auch die eher spät.
6. Wann ist eine Auseinandersetzung mit der Welt feministisch? Catherine Colomb kritisierte nichts, sie beobachtete: Was die Väterherrschaft sich anmasst und wie gebrechlich sie ist. Wie Unglück und Ungerechtigkeit sich verteilen und niemanden verschonen. Schlug sie sich auf eine Seite? Im Zweifelsfall für die Mütter. Und deshalb für die Kinder (also alle). Würde sie spotten über Nachgeborene, die erstaunt sind, dass sie nicht rebellierte, wo sie doch sah, warum andere Grund dazu hatten?
An eine Revolution jedenfalls glaubte sie nicht. Vielleicht an die Revolution im alten Wortsinn, die einst bezeichnet hatte, wie die Himmelskörper ihre Bahnen ziehen, immer dieselben, aber immer von neuem sich durch das Dunkelblau wälzen. Jede Geburt steht in einem Zeichen, bringt eine Mutter hervor und ein Kind, vielleicht Geschwister, das Recht verfügt eine Vaterschaft, die Güter und Beziehungen konstellieren sich neu, alles beginnt von vorne.
7. Sie wurde zu Lebzeiten nur langsam bekannt und spät anerkannt. 1956 erhielt sie den «Prix du livre vaudois», 1962 mit dem «Prix Rambert» den ältesten Literaturpreis der Romandie, der bis dahin — seit 1898 — ausschliesslich an Männer vergeben worden war. Auch von Gallimard in Paris wurden ihre Bücher schliesslich doch noch verlegt, was sie allerdings hinterher bedauerte: zu viel Bedeutsamkeit, zu viele Zwänge. Sie hatte künstlerische Epizentren ihrer Zeit gestreift, Bloomsbury vor allem, ein bisschen auch Paris, aber von überall kehrte sie zurück. Da, wo sie herkam, konnte sie sich um ihre Achse drehen und den Blick in alle Richtungen gehen lassen.
Da, wo sie herkam, konnte sie sich um ihre Achse drehen und den Blick in alle Richtungen gehen lassen.
8. Bekannt ist sie vor allem für drei Romane, die eine Trilogie bilden: «Châteaux en enfance» (1945, dt. «Spiel der Erinnerung»), «Les esprits de la terre» (1953, dt. «Tagundnachtgleiche»), «Le temps des anges» (1962, dt. «Zeit der Engel»). Ihr erster Roman war 1934 erschienen. Schon dieser Erstling hatte aufmerksame Leserinnen gefunden, aber erst mit der Trilogie wurde sie zur anerkannten Schriftstellerin. Man verglich ihre Werke mit denen des Nouveau Roman, wollte in ihr eine Avantgardistin entdecken, liess sie aber auch entschlüpfen: ins Solitäre und Klandestine, das ihr am meisten behagt haben muss.
9. Wie die Himmelskörper ziehen manche Schriftstellerinnen (auch Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen) ihre Bahn: entdeckt, vergessen, wiederentdeckt. Warum? Sie betreten ein Feld, das scheinbar alle zum Spiel einlädt, aber die Fähigkeiten und Talente, um die es geht, von Männern verkörpern lässt. Sie kommen aufs Feld, wie es die Philosophinnen Vinciane Despret und Isabelle Stengers formuliert haben, «als Frauen, die nicht als Frauen bemerkbar sein sollen».[1]
Sie tragen also den Widerspruch des Spielfeldes aus: Sie sind immer als Frauen da, wo es nicht darum gehen soll, sie werden als Frauen wiederentdeckt, wenn der Widerspruch aufgedeckt wird, und als Frauen vergessen, wenn er sich erfolgreich verbirgt. Sonst stünden mehr von ihnen auf den universitären Leselisten, im schulischen Kanon, es bräuchte nicht die Kategorie «Frauenliteratur», um von ihnen zu reden (oder um sie zu verschweigen). Also ziehen sie ihre Bahn, erscheinen wieder, weil manche sie nicht vergessen haben oder sich erinnern. 1997 haben an den Solothurner Literaturtagen Eleonore Frey, Friederike Kretzen und Adrien Pasquali Texte zu Catherine Colomb präsentiert.
10. Eine war von Anfang an eingeweiht, als Catherine Colomb zu schreiben begann: Ottoline Morell, englische Lady und Mäzenin der Bloomsbury Group, befreundet mit Virginia Woolf. Colomb hatte bei ihr einen Sommer als Kindermädchen verbracht, die Lady hätte sie gern in ihrer Nähe behalten, mit einem Engländer verheiratet; sie glaubte an ihr schriftstellerisches Talent und ermutigte sie zu schreiben. Mit ihrem Ehemann las Catherine Colomb Proust; eher zurückhaltend unterhielt sie Kontakte mit anderen Autoren und Autorinnen. Jean Paulhan setzte sich für sie ein, mit Gustave Roud verband sie eine Freundschaft, mit Alice Rivaz korrespondierte sie. Aber wer weiss schon, mit wem (oder was?) die Menschen ihre Bündnisse schliessen.
Mach mit!
«10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen»
Mit der Reihe «10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen» halten wir auf diesem Blog die Erinnerung an Autorinnen wach, wollen sie bekannt machen und gleichzeitig Bewusstsein schaffen für Geschlechterungleichheiten im Literaturbetrieb. Kennst auch DU eine Autorin, die dir viel bedeutet und an die du gerne erinnern möchtest? Hier erfährst du mehr.
Bemerkungen
[1] Vinciane Despret / Isabelle Stengers: Les faiseuses d’histoires. Que font les femmes à la pensée?, Paris 2011.
Bild: Catherine Colomb in Cully, 1914. Fonds C. Colomb, Centre des littératures en Suisse romande, UNIL.