Von Hannah Kindler und Christina Huber
1. Im zwischen der Autobahnbrücke, dem Rheinufer und der Zürcherstrasse liegenden kleinen Park mit dem Namen Cécile Ines Loos-Anlage haben wir, Christina Huber und Hannah Kindler vom Künstler*innennetzwerk somebody*ies, im Dezember 2021 eine Ausstellung verwirklicht, um mehr Sichtbarkeit für das Schaffen von Loos zu generieren.
Cécile Ines Loos wurde 1883 in Basel geboren und obwohl im Quartier Breite in Basel eine Grünanlage nach ihr benannt wurde, ist die Schriftstellerin selbst unter Basler*innen weitgehend unbekannt. Sie hat acht Romane und weit über 26 Märchen, Erzählungen, Satiren und Feuilletons veröffentlicht und ihr Roman «Matka Boska» (1929) bekam im gesamten deutschsprachigen Raum große Aufmerksamkeit. Trotzdem kämpfte sie ihr Leben lang mit finanziellen Nöten und musste sich mit Arbeit als Erzieherin und im Dienstleistungssektor durchbringen. 1959 verstarb sie verarmt im Basler Bürgerspital, deren Aufenthalt sie sich nur durch Spenden von Gattinnen wohlhabender Professoren leisten konnte. Loos’ Lebensgeschichte kann als beispielhaft für die Lebensumstände weiblich gelesener Schriftsteller*innen des beginnenden 20. Jahrhunderts in der Schweiz gesehen werden. H.K.
2. Bei Cécile Ines Loos begeistert mich ihre poetische Schreibweise gepaart mit scheinbar autobiografischen Inhalten. Ihr Schreibstil beinhaltet zahlreiche bildhafte Elemente, wodurch die Texte sehr lebendig wirken. Dies zeigt das folgende Zitat, welches zudem eine der Inspirationsquellen meiner Videoarbeit «Kraken» (2021) aus dem Projekt «seltsame geschichten / strange tales / histoires éstranges» (2021) in der Cécile Ines Loos-Anlage war. C.H.
«Einmal, mitten in der Nacht, ist ein goldenes Äpfelchen von meinem Traumbäumlein gefallen. Da war ein Berg, etwa wie die Pferdewiese, und sehr viel Schnee und Nebel ringsum, so dass man niemand mehr sah. Aber mitten darin, verborgen im Nebel, schien dennoch die Sonne, und niemand wusste darum. Filok und ich standen in der Sonne, und er war golden und ich war silbern. Und da mussten wir beide lachen, weil das niemand wusste»
– Cècile Ines Loos, aus ihrem Buch «Hinter dem Mond», 1942

3. Nachteil dieses sehr poetischen Schreibstils ist, dass es viele Gedankensprünge gibt und die Erzählungen teilweise eindimensional wirken. Ihre Beschreibungen wirken kindlich und beinhalten idealisierte Ansichten und unzusammenhängende Fragmente. Dadurch fiel es mir manchmal schwer dem Erzählstrang zu folgen. C.H.
4. In ihrem Leben war sie schon in jungen Jahren mit existenziellen Schwierigkeiten konfrontiert, so verlor sie Eltern und Zieheltern sehr früh und kam schliesslich im Alter von zehn Jahren in ein Waisenhaus. Das Motiv der «verlorenen Kindheit» taucht in ihrem literarischen Werk immer wieder auf, wo es sich oftmals zwischen einerseits bedrückenden und ausweglosen Situationen des Ausgeliefert-seins und fantasievollen Beschreibungen einer parallel existierenden Realität andererseits bewegt. Ich finde es faszinierend und ermutigend, dass sie ihre traumatisierenden Erlebnisse durch ein Ventil wie das Schreiben bearbeiten konnte und auf diese Weise eine Art der Verarbeitung schuf, an der die Lesenden teilhaben konnten. H.K.

5. Als früh verwaistes Kind konnte sie ihren Wunsch zu studieren nicht verwirklichen. Stattdessen absolvierte sie eine Ausbildung als Erzieherin und arbeitete als Kinderfrau. In Ihrer Biografie schreibt sie, dass sie das Gefühl hatte, das Leben einer anderen Person zu leben und sich Stück für Stück ihr eigenes Leben erkämpfen zu müssen. Trotz Widrigkeiten widmete sie sich dieser Aufgabe Zeit ihres Lebens. H.K.
6. Cécile Ines Loos ging ihren Weg im Leben sehr eigenständig. Aufgrund ihrer Lebensumstände musste sie ihren Sohn zu Pflegeeltern geben. Dies stürzte sie in eine tiefe Krise, die sie schliesslich zum Schreiben bewegte. Trotz der schwierigen Verhältnisse verfolgte sie beharrlich ihre Ziele und stand für diese ein, auch wenn dies bedeutete, dass sie sich nur zeitweise um ihren Sohn kümmern konnte. Ihre Lebensgeschichte kann aus verschiedenen Blickwinkeln gelesen und gedeutet werden. Nicht zu bestreiten ist jedoch ihre beständige Willenskraft, mit der es ihr immer wieder gelang, die Trauer über ihre persönlichen Erlebnisse in ihrem literarischen Werk zu verarbeiten. C.H.
7. In ihrem literarischen Werk finden immer wieder Themen Eingang, mit denen sie sich in ihrem eigenen Leben auseinandersetzen musste und die heute als stellvertretend für eine Generation von weiblich gelesenen Personen gedeutet werden können. Ein wiederkehrendes Sujet ist etwa die Mutterschaft, die Rolle und Bedeutung des Mutter-seins, auch ohne sein Kind bei sich zu haben oder ohne die leibliche Mutter zu sein.
Beim Schreiben über teilweise biografische Themen geht sie häufig über Beschreibungen des Selbsterlebten hinaus. Sie gibt einen unmittelbaren und expressiv-emotionalen Einblick in ihre soziale Position und stellt dabei gesellschaftliche Strukturen im Hinblick auf Gerechtigkeit in Frage. Hinter poetischen und fantasievollen Beschreibungen, die in ihrer Bruchstückhaftigkeit oftmals wie Traumszenen scheinen, verbergen sich radikale Grenzüberschreitungen von gesellschaftlich-christlichen Normen. H.K.

8. Ihre bildreiche Sprache eröffnet beinahe tastbare/haptische, aber durchaus auch verwirrende Vorstellungsräume. Doch gerade durch deren fragmentarischen Charakter entsteht Raum, um eigene Assoziationen einzubringen. Ihre teils kryptische Art zu schreiben, weist den Leser*innen eine schöpferische und emanzipative Rolle zu. In mir lösten ihre Texte starke Bilder aus, welche ich in meiner Videoarbeit «Encounters in the Realm of the Horses» (2021) reflektiere.
Ihre Texte enthalten zwar viele Anteile von identifizierbaren Charakteren und Ereignissen, jedoch auch solche, deren Bedeutung nicht sofort offensichtlich sind. Beinahe traumgleich trägt der Text die Leser*innen von greifbaren Handlungssträngen immer wieder hinüber in symbolhafte Beschreibungen. Ein solcher Text verlangt einige Anstrengung von Seiten der Leser*innen. Ich lese ihren Schreibstil als Aufruf zu einer emanzipatorischen Lesearbeit. H.K.
9. Loos hatte bereits im 19. Jahrhundert sehr fortschrittliche Gedanken zu Beziehungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen. In Ihrem Buch «Hinter dem Mond» (1942) beschreibt Cècile Ines Loos eine Welt, die von Pferden regiert wird. Die Erzählung eröffnet eine Sichtweise auf die Umwelt, die erstaunt, da das Denken zu dieser Zeit über das Verhältnis von Menschen, Pflanzen und Tieren vorwiegend von Über- und Unterordnungsbeziehungen geprägt war. Es macht Freude in diese/ihre Welt einzutauchen. C.H.
10. Mythologien und Geschichten werden mehr und mehr in kritische Dialoge zu/Auseinandersetzung mit Themen wie Diskriminierung und Gleichstellung der Geschlechteridentitäten gestellt. Dadurch werden die Lesarten von beispielsweise von Schöpfungsgeschichten, wie auch der griechischen Mythologien unter den gegenwärtigen Wertvorstellungen hinterfragt, um auf gewaltverherrlichende Szenerien wie Vergewaltigungen bewusst aufmerksam zu machen.
Im Werk von Loos finden sich vereinzelt Ansätze, die darauf schliessen lassen, dass sie historische Schriften in einem kritischen Licht sah. In ihrem Buch «Verzauberte Welt» (1985) bricht das darin beschriebene Paar mit der Sünde ihrer Ahnen. Dies führt dazu, dass die Beziehung der beiden aus einem gegenseitigen Erkennen und Verstehen herauswächst. Loos beschreibt dies als Ergebnis einer gemeinsamen Kommunikation «die vor tausend Jahren nicht möglich war». In «Verzauberte Welt» verwendet sie Begriffe, wie «Sünde», und Symbole, wie die Schlange. Aufgrund der Tatsache, dass sie sich im Laufe ihres Lebens mit verschiedenen Religionen auseinandersetze, sind für mich Assoziationen einer alternativen Deutungsweise der christlichen Schöpfungsgeschichte denkbar. Weitere Interpretationen dazu lässt sie jedoch offen.
Das literarische Werk von Cécile Ines Loos gibt einen facettenreichen Einblick in die Gedankenwelt einer Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts, die für ihre Zeit sehr weit und frei dachte. Es ist schade, dass sie nie den Ruhm bekam, den sie verdient hat. Ihr Werk ist voller Themen, welche auch heute – über 100 Jahre später – noch hochaktuell sind. C.H.
Mach mit!
10 Gruende, Frauen (wieder) neu zu lesen
Mit der Reihe «10 Gründe, Frauen (wieder) neu zu lesen» halten wir auf diesem Blog die Erinnerung an Autorinnen wach, wollen sie bekannt machen und gleichzeitig Bewusstsein schaffen für Geschlechterungleichheiten im Literaturbetrieb. Kennst auch DU eine Autorin, die dir viel bedeutet und an die du gerne erinnern möchtest? Hier erfährst du mehr.
Quellenangabe
Bild: Porträt von Cécile Ines Loos, aufgenommen zwischen 1909 und 1929, Fotografie (Ausschnitt). Quelle: Universitätsbibliothek Basel. Signatur: Portr BS Loos CI 1883, 4a.