Dies ist eine Auseinandersetzung mit Virginia Woolfs Essay Ein eigenes Zimmer (1929), die Frage, was davon heute noch aktuell ist und die Erkenntnis, dass dies bei so manchen Stellen des Textes der Fall ist. Männer, die meistens über Männer schreiben, vergeschlechtlichte Genres und die wirtschaftliche Ausgangslage, die alles zu bestimmen vermag. Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Seminars «Können Frauen Kunst?» Geschlecht, Geschlechterverhältnisse und Ungleichheit in der Kultur an der Universität Basel im Frühlingssemester 2021. Von Alice Weniger mit Auszügen aus dem Comic Dear Virginia (2021) von Melanie Gerber.
Eine Frau muss Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können»
Das schreibt Virginia Woolf auf der ersten Seite ihres Essays. Somit packt sie ihre Grundthese gleich aus, legt sie bestimmt auf den Tisch, der zwischen der Autorin und uns Lesenden steht, schaut uns auffordernd an. Jetzt wissen wir es schon mal. Aber was liegt alles dahinter? Es geht offensichtlich darum, welche Räume eine Person nutzen kann und welche wirtschaftlichen Voraussetzungen sie hat oder braucht, um sich dem Schreiben widmen zu können. Es ist eine vieler, noch heute relevanter Thesen, denen Leser:innen während 112 Seiten textuell begegnen und die hier zitierte, ihnen vorangehende Stelle thematisch erweitert und einbettet. Woolf fragt sich in ihrem Essay, wieso es so wenige weibliche Schriftstellerinnen gibt, korrigiert sich sogleich aber auch: es gab sie nämlich, nur, wieso kennen wir sie nicht? Weil sie nicht schreiben oder unter ihrem eigentlichen Namen publizieren konnten? Oder weil sie schlecht schrieben?
2029
Woolfs Versuch, diese Fragen zu beantworten, wird im Folgenden auf die heutige Situation im deutschsprachigen Literaturbetrieb angewandt. Ein Vergleich mit heute ist deshalb naheliegend, weil Woolf selbst immer wieder betont, wie sie sich die Welt der schreibenden Nicht-Männer hundert Jahre später vorstellt, also 2029 – nun ist es nicht mehr lange und dann ist es 2029.
Denn ich glaube fest, wenn wir ungefähr ein weiteres Jahrhundert leben […], wenn wir die Freiheit gewohnt sind und den Mut haben, genau das zu schreiben, was wir denken […], dass wir allein gehen und dass wir Beziehung zur Welt der Wirklichkeit haben müssen und nicht nur zur Welt der Männer und Frauen, dann wird die Gelegenheit kommen und die tote Dichterin, die Shakespeares Schwester war, wird den Leib anlegen»
Woolf 1929, S. 111f
…und leben. Woolf selbst projiziert somit viel Veränderung auf diese hundert Jahre. Ist es so gekommen, wie sie es sich damals gewünscht und vorgestellt hat? Was muss in den nächsten siebeneinhalb Jahren noch geschehen, um ihre Wünsche nach Veränderung in Erfüllung gehen zu lassen?
Die Erschaffung. Auszug aus Dear Viginia von Melanie Gerber, S.4-6.
© Melanie Gerber, 2021.
Gegenderte Genres
Die Freiburger Frauenstudien schreiben, «dass die im Kanon verankerten Werke von Männern oft weibliche Protagonisten behandeln» (2007, S. 59). Auch Woolf widmet sich Männern, die über ‹die Frau› schreiben:
Imaginär ist sie von höchster Wichtigkeit; real ist sie vollkommen bedeutungslos. Gedichtbände füllt sie von der ersten bis zur letzten Seite, in der Geschichte kommt sie so gut wie gar nicht vor»
Woolf 1929, S. 45
Inhaltlich treten Frauen also oft auf, auf Kanon-Literaturlisten von Universitäten sind sie jedoch kaum zu finden. Die Lektüreliste für die Bachelor-Prüfungen der Goethe Universität Frankfurt zählt 243 Werke von Männern und 94 von Frauen (Stand Frühling 2021).

Bezüglich der Genres fällt ein weiterer Aspekt ins Auge: von den 243 männlichen Werken sind 65 Prosawerke. Bei den 94 Werken von Autorinnen sind es jedoch 27 Prosawerke, so dass sich hier prozentual ein viel höherer Anteil ausmachen lässt. Frauen sind also auf dieser Lektüreliste nicht in jedem Genre gleichermassen stark unterrepräsentiert. Am seltensten sind sie in den Genres Sachbuch, Krimi und Lyrik vertreten. Woolf erklärte sich diese Konzentration auf Belletristik 1929 wie folgt:
[…A]lle literarische Schulung, die eine Frau im frühen neunzehnten Jahrhundert zuteil wurde, war die Schulung im Beobachten des Charakters, [und] in der Analyse des Gefühls. […] persönliche Beziehungen waren ihr ständig vor Augen»
Woolf 1929, S. 67
…weil der Raum der Frau im bürgerlichen England damals meist der private und familiäre war. Virginia Woolf plädiert in ihrem Essay für ein genreübergreifendes weibliches Schreiben, da in jenem Moment eine Geschlechtsvergessenheit der eigenen Umstände geschehen und dadurch eine Freiheit des schreibenden Geistes erreicht werden kann.
Deshalb möchte ich Sie bitten, Bücher aller Art zu schreiben und vor keinem Sujet, ganz gleich wie unbedeutend oder gigantisch, zurückzuschrecken»
Woolf 1929, S. 107
Sich nur in einem Genre zu bewegen, begünstigt also eine vergeschlechtlichte Festschreibung der eigenen Texte – etwas von dem Woolf schon 1929 abgeraten hat. Sie rät hingegen dazu, literarisch beweglich zu bleiben und sich so weniger in ein Genre und Gender drängen zu lassen.
Feuilleton of Masculinities
Weiter taucht bei Woolf die Frage auf, wer überhaupt schreibt. Heute sollten wir schreiben durch publizieren austauschen: Wichtig ist vor allem, wer von Verlagen gedruckt und somit gelesen wird und auf diese Weise mit dem Schreiben Geld verdienen kann. Im Frühlingsprogramm 2021 von Suhrkamp werden 73 Werke von Männern, 38 von Frauen und eines von einer nonbinären Person vorgestellt. Suhrkamp publiziert also derzeit fast doppelt so viele Männer als Frauen und queere Personen zusammen. Laut Virginia Woolf wurden Frauen im 19. und 20. Jahrhundert nicht dazu ermutigt, Künstler*innen zu sein (1929, S. 56). Sie werden sogar aktiv daran gehindert:
Die Menschheit ist für sie in zwei Parteien gespalten. Männer sind ‹der Gegner›; Männer sind verhasst und gefürchtet, denn sie haben die Macht, ihr den Weg zu versperren zu dem, was sie tun möchte – nämlich schreiben»
Woolf 1929, S. 60
Auch wenn Männern heute nicht mehr die rechtliche Möglichkeit gegeben ist, Frauen das Berufsleben zu verbieten, können Sie ihnen noch immer auf die eine oder andere Art den Berufsweg erschweren: Durch die Literaturkritik, beispielsweise, die Bücher von Frauen nur selten miteinbezieht. Die Pilotstudie von Frauen Zählen stellte 2018 fest, dass im Genre der Krimis 82% der besprochenen Werke von Männern geschrieben und rezensiert wurden. Werden Bücher jedoch nicht im Feuilleton besprochen, werden sie weniger verkauft. Und können sie nicht verkauft werden, werden sie weniger veröffentlicht. Das ist also eine Art, wie Männer Frauen den Weg zur Publikation auch heute noch versperren. Auch Woolf schreibt von isolierten Frauen, «die ohne Leserschaft oder Kritik schrieben» (1929, S. 64). Und wenn Männer Werke von Frauen rezensierten, so beschreibt sie deren Stimme als eine,
die Frauen nicht in Ruhe lassen kann, sondern ihnen zusetzen muss, wie eine zu gewissenhafte Gouvernante, die sie beschwört; die die Kritik am Geschlecht sogar in die Literaturkritik hineinzerrt»
Woolf 1929, S. 75
Laut Woolf ist, sich ein männliches Pseudonym anzueignen, ein Weg, um publiziert zu werden. Margarete Stokowski setzte sich 2016 mit der gleichen Strategie auseinander und verwies, wie auch schon Woolf, auf George Sand und George Elliot.
Die Währung. Auszug aus Dear Viginia von Melanie Gerber, S.20-23.
©Melanie Gerber, 2021.
Geld und Raum (nicht) haben
Nun zurück zu Woolfs Hauptthese, dass Frauen ein eigenes Zimmer und Geld brauchen, um schreiben zu können. Mit dem Zimmer meint sie einen Raum, der nicht einfach ein privater Aufenthaltsraum ist, sondern ein Arbeitsplatz. Eine Professionalisierung des weiblichen Schreibens. Geht es um das Geld, so ist es bei Woolf der Wunsch, Geld als Ausgangslage zu haben. Geld zu haben, macht das Schreiben möglich.
Es stellt sich die Frage, ob schreiben zu Woolfs Zeiten auch etwas war, das Menschen, die der Arbeiter:innen-Klasse angehörten, taten? Wer konnte sich Bücher und Schreibmaterialien leisten? Heute ist eine häufige und wichtige Forderung, dass mit dem Schreiben Geld verdient werden kann. Dass es als Beruf gilt. Geld ist somit nicht nur die Voraussetzung fürs Schreiben, sondern sollte auch eine Folge dessen sein.
Caroline Amlinger hält 2017 verschiedene heutige Typen von Autor*innenschaft fest und zeigt auf, dass es jene gibt, die mit dem Schreiben von Bestsellern einen guten Lebensunterhalt verdienen, viele die sich in und bei verschiedenen Medien textuell anpassen, um knapp ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können, solche, welche die Prekarität akzeptieren und zu ihrer Identität machen, um sich dennoch dem impulsiven Schreiben hingeben zu können und eine letzte Gruppe, die dank ihrem schon bestehenden Vermögen in aller Ruhe mit dem Genie-Kult flirten können. Schreiben hat laut Amlinger also immer etwas mit Geld (nicht) haben zu tun. Und genau wie sie, brachte es schon Woolf knapp hundert Jahre zuvor auf den Punkt:
Es mag grausam scheinen, das zu sagen, und es ist traurig, das zu sagen: aber in Wirklichkeit enthält die Theorie, dass dichterisches Genie erblüht, wo es ihm beliebt, und bei Arm und Reich gleichermassen, wenig Wahrheit»
Woolf 1929, S. 105
Dass gewisse Menschen weniger publiziert werden als andere, hat also wenig mit der Qualität ihres Schreibens und viel mit den strukturellen Bedingungen zu tun, in denen sie leben. Wie Woolf in Ein eigenes Zimmer schreibt, brauchen Personen, für die das Schreiben nicht nur ein Hobby sein soll, einen Arbeitsplatz und Geld, um dies zu tun. Es soll eine Professionalisierung, ein Ernstnehmen dieses Berufs geben, womit nicht eine geniale, elitäre und vermaskulinisierte Anerkennung gemeint ist, sondern eine finanziell nachhaltige Entschädigung für alle Schreibenden. Eine nicht-vergeschlechtlichte Berücksichtigung von Literatur im Feuilleton und einen Lehrplan, der sich nicht nur auf den Kanon fokussiert. Und vielleicht dauert es mit gerechteren Bedingungen keine weiteren hundert Jahre, bis die tote Dichterin lebt.
Dear Virginia. Auszug aus Dear Viginia von Melanie Gerber, S. 28-29.
©Melanie Gerber, 2021.
Alice Weniger studiert seit 2019 Gender Studies und Deutsche Philologie an der Universität Basel. Im Rahmen eines Seminars von Andrea Maihofer zu Virginia Woolf 2019 setzte sie sich zum ersten Mal intensiver mit der Autorin auseinander. Damals noch im Zusammenhang mit androgyner Literatur, nun mit einem Vergleich zur heutigen Situation im deutschsprachigen Literaturbetrieb.
Melanie Gerber ist eine aus Bern stammende Illustratorin, die zurzeit Animation im letzten Jahr an der Hochschule Luzern im Bereich Design und Kunst studiert. Während ihres Studiums kam sie unter anderem mit Virginia Woolfs Essay A Room of One’s Own in Berührung und erarbeitete basierend auf diesem ihren eigenen Comic Dear Virginia (2021), in welchem sie Woolfs Text reflektiert und mit der Gegenwart vergleicht. Bei den im Text eingefügten Passagen handelt es sich um Auszüge aus diesem, bisher noch unveröffentlichten Comic.
Literaturnachweise
Amlinger, Carolin (2017). AutorIn sein: schriftstellerische Arbeitsidentitäten im gegenwärtigen deutschen literarischen Feld. Swiss Journal of Sociology, 43 (3), 401-421.
Börsenblatt / Nina George (2017). Macho Literaturbetrieb. Abgerufen am 1. September 2021.
Fludernik, Monika (2007). Kanon und Geschlecht. In: Freiburger FrauenStudien: Zeitschrift für interdisziplinäre Frauenforschung. Jg. 13 / Nr. 20.
Frauenzählen (2018). Zur Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb.
Spiegel Online / Margarete Stokowski (2016). Kein Ruhm für Stalker. Abgerufen am 24. Juni 2021.
Woolf, Virginia (1929). Ein eigenes Zimmer. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag (6. Auflage 2017).
Titelbild: Ausschnitt des Covers von Dear Viginia von Melanie Gerber. ©Melanie Gerber, 2021.