Von Sascha Rijkeboer


1. Annemarie* war vielleicht non-binär. Annemarie* hat in ens Schriften unzählige Andeutungen auf nicht eindeutig binäre geschlechtliche Verortungen geliefert. Das kann eine cis Person natürlich auch tun. Ist es also eine Mutmassung? Ja unbedingt!
Denn warum wir das heute schwer untersuchen können: Annemaries* Rabenmutter (einer der wenigen Momente, wo dieser Begriff wohl angebracht ist) hat Annemaries* Tagebücher gefühlt 15 min nach ens Tod verbrannt. Was für eine gewaltvolle, übergriffige Zensur!

2. In Annemaries* Tagebücher standen offensichtlich ganz viele perverse Dinge, die wir nie lesen werden. Also sollten wir immerhin lesen, was da ist.

In Annemaries* Tagebücher standen offensichtlich ganz viele perverse Dinge, die wir nie lesen werden. Also sollten wir immerhin lesen, was da ist.

3. Annemarie* war ein Junkie. Ens war lange Zeit opiumsüchtig. Wir lesen üblicherweise nur von gehypten cis-männlichen Alkoholikern, die Frauen sexualisierten und sich den Abgründen des (männlichen) Menschseins widmeten. Annemarie* hat nicht grüselig gelüstelt. Annemarie* hat wenn, dann liebevoll poetisch umschwärmt, sich suchend Abgründen gewidmet, aber nicht als cis Mann. Eine seltene Perspektive in der Literaturlandschaft.

4. Annemarie* hat mit «Eine Frau zu sehen» die erste anerkannte Schweizer Lesbenprosa geschrieben. Es gibt kein vergleichbares lesbisch-literarisches «Davor».

5. Annemarie* hat das mit f***ing 21 Jahren getan und eine Sprache für Begehren und Begierde, für Unterdrückung und Exploration verwendet, die uns auch heute noch den Atem anhalten, die Haut und Haare entweder zur Gänsehaut schrumpfen oder aufstehen und uns in ens gynophiler Umarmung zu Pudding werden lassen.

Bild: Annemarie* Schwarzenbach, Selbstporträt mir einer Rolleiflex Standard 621 Kamera, 1938. Public domain via Wikimedia Commons.

6. Ein Grund nun, warum Annemarie* nicht gelesen werden sollte: Ens war ein verwöhntes Kind, hatte viele Privilegien, verfügte insbesondere über hohes finanzielles und kulturelles Kapital, konnte sich gehen lassen (also Junkie sein) und trotzdem nicht daran verenden, sondern konnte darauf vertrauen, immer aus jeder Situation privilegiert herausgerettet zu werden.

7. Ein ausführlicherer Grund: Annemarie* hat die Welt bereist, es gehörte sich in ens Klasse so. Annemarie* eignete sich an, was man sich in dieser Gesellschaftsschicht aneignen konnte. Geld war nie ein Problem. Die Eltern schöpften es aus kolonialistischen Hintergründen. Annemarie* benutzte in (Reise-)Tagebüchern das N-Wort. Annemarie* wertete darin Schwarze gegenüber weissen Menschen klar als Menschen zweiter Klasse ab. Annemarie* konnte teure Kuren machen, um sich von ens Drogensucht zu heilen. In einem Fall wurde eine (weibliche) Angestellte sogar entlassen, weil Annemarie* mit ihr eine Affäre begann. Annemaries* Leben ging weiter, das der entlassenen Angestellten bleibt ungeklärt. Annemarie* war folglich immer privilegiert – auf Kosten anderer.

8. Warum man Annemarie* trotzdem lesen sollte: Ens war ein Kind von ens Zeit. Wahrscheinlich (hoffentlich?) hätte Annemarie* heute anders gewertet? Sich anders verhalten? Ens Privilegien reflektiert? Ein Bewusstsein dafür aufbauen können? Denn immerhin ist nachweislich: Im Kontext des (wieder)aufkommenden Judenhasses in Europa verhielt sich Annemarie* als einigens der wenigen aus ens Zeit und Klasse politisch unbequem: Annemarie* unterstützte finanziell anti-faschistische Kämpfe, schmuggelte mit Diplomatenpass Jüd*innen über die österreichisch-schweizerische Grenze, u.v.m.

Man sollte Annemarie* also vor allem auch lesen, um Annemarie* als komplexe und ambivalente Figur ihrer Zeit verstehen zu lernen.

9. Man sollte Annemarie* also vor allem auch lesen, um Annemarie* als komplexe und ambivalente Figur ihrer Zeit verstehen zu lernen. Es ist anspruchsvoll, diese Komplexität in ihrer Historizität zu begreifen. Es ist unbequem, diese Ambivalenzen zu ertragen. Eine solche Arbeit ist jedoch wichtig. Die Aufgabe ist gross: Durch Annemaries* vielschichtige Inanspruchnahme von untereinander widersprüchlichen, geradezu verwerflichen und gleichzeitig avantgardistisch queeren Vorstellungen wird Annemarie* zu einer der wenigen Figuren, die in dieser Komplexität zu jener Zeit sichtbar, lesbar (und somit heute noch greifbar) sind.

10. Ich kenne Annemarie* Schwarzenbach nur, weil ich mich 2010, mit 18 Jahren, als lesbisch outete und mich 2011 in eine feministische Germanistin verliebte. Also nicht, weil ich eine Schweizer Staatsschule (z.B. die Kantonsschule Olten) besucht habe und Annemarie* Schwarzenbach als eine wichtige und bahnbrechende Literatin der Schweizer Literaturlandschaft kennengelernt habe. Annemarie* Schwarzenbach sollte zur Pflichtlektüre an Schweizer Staatsschulen werden (z.B. an der Kantonsschule Olten).


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Bemerkungen

Ich verwende den Stern hinter «Annemarie» sowie «ens» als Pronomen aus Sensibilität für eine allfällige nicht-cis-weibliche Identifikation, die zu Annemaries* Zeit in dieser Weise gar nicht erst hätte expliziert werden können, auch wenn es non-binäre Menschen immer gab. Ich begehe damit einen Übergriff: Ich schreibe Annemarie* etwas zu, von dem ich nicht weiss, ob es für Annemarie* stimmt. Ich begehe unter Umständen aber auch einen Einschluss, den Annemarie* weder damals noch heute je öffentlich erfahren hat: Dass so an ens gedacht werden könnte. Ich empfinde es als produktiv und inklusiv dieses Un*Wissen zu deklarieren und diese Möglichkeit offenzuhalten.

Bild: Annemarie* Schwarzenbach, Selbstporträt mir einer Rolleiflex Standard 621 Kamera, 1938 (Ausschnitt). Public domain via Wikimedia Commons.